Wedekind: "Lulu" - Nationaltheater Mannheim, 03.10.2009

  • Wedekind: "Lulu" - Nationaltheater Mannheim, 03.10.2009

    Es stand ein interessanter Vergleich an: Calixto Bieito inszenierte jetzt im Oktober in Mannheim eine Spielfassung von Frank Wedekinds „Der Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ unter dem Titel „Lulu“, nachdem er im Frühjahr in Basel die gleichnamige Oper von Alban Berg inszeniert hatte.

    In gerade mal gut zwei pausenlosen Stunden liefen die Stücke von Wedekind über die männerverbrauchende Lulu, die nach einem gesellschaftlichen Aufstieg am Ende nach einem ebenso rasantem Absturz auf dem Strassenstrich in London zum Opfer des Mörders Jack the Ripper wird, ab.

    Die Szenen wirken eher locker aneinandergefügt, sie sind mehr Stationendrama, denn stringente Handlung, Schlaglichter auf den Aufstieg und Fall der Lulu, den zu Verfolgen nur der problemlos bewerkstelligen wird, der die Handlung, besonders im zweiten Teil, kennt und der die Beziehung der Figuren zueinander mehr als nur zu ahnen in der Lage ist.

    Auf der weit nach vorne gezogenen Bühne türmt sich im Halbrund über zwei Stockwerke ein Stahlgerüst auf, imaginiert wird eine Arena oder eine Zirkusmanege. An diesem Gerüst vielfältige Leuchtkörper für entsprechende Lichteffekte. Über der Bühne sieht man drei unterschiedlich grosse Metallgestänge, an denen Scheinwerfer montiert sind, die sich auch zur Vervollständigung des Bühnenequipments herunterfahren lassen.

    Zu Beginn rezitiert ein kleines Mädchen in einem Glitzerbikini und mit turmhoher Blondhaarperücke Teile aus dem Prolog – dann geht’s direkt in die Handlung:

    Eine weisse Papierbahn begrenzt den Spielraum, davor eine Leiter. Der Maler klatscht mit zwei grossen Pinseln Farbe auf diese Fläche, besteigt dazu auch schon mal die Leiter, während Lulu in einer Art Schulmädchenuniform verklemmte Altherrenerotik zu zeigen versucht.

    Beide fallen dann stürmisch übereinander her, der Maler macht dabei eine eher lächerliche Figur, während er mit heruntergelassener Hose und grell-orangefarbener Unterhose von Lulu mit den Farbpinseln malträtiert wird.

    Ein starker Effekt, wenn Lulus Ehemann, Dr. Goll, mit seinem Stock die Papierbahn zerschlägt, als er die beiden inflagranti erwischt und dann zusammenbricht, gestorben am Herzinfarkt.

    Zwischen den Bildern treten fünf kleine Mädchen in diesen Glitzerbikinis und den Modelfrisuren auf und singen Liedgut wie „Like a virgin“.

    Die folgenden Bilder ähneln sich, kaum Dekoration, geschickt wird der gesamte Bühnenraum ausgenutzt, drastisch schneidet sich der Maler den Hals durch, ebenso drastisch kommt Dr. Schön zu Tod.

    Dieser setzt sich seine Morphiumspritzen direkt in die Leiste und er liefert sich mit Lulu ein bitterböses Spiel mit dem Revolver, bevor der für ihn tödliche Schuss fällt. Der nackte Dr. Schön muss den Revolver am Rektum und an den Geschlechtsteilen ertragen, bemüht rubbelt Lulu auch schon mal am Glied ihres Liebhabers herum und die ganze Szene über bleibt offen, ob ein Schuss fallen wird – und vor allem, wen dieser treffen wird. Der tote Dr. Schön wird von der Bühne gekippt, Bühnenarbeiter entsorgen ihn in einem Requisitenwagen.

    Vieles bleibt in diesem ersten Teil Andeutung, das Verhältnis Lulu – Geschwitz genauso, wie jenes zwischen Lulu und Alwa, da nutzt es auch nichts, dass Lulu lustvoll dem Alwa Weintrauben in die Unterhose packt und diese dann zerquetscht.

    Auch das erste Bild im zweiten Teil (es ist jenes, wo Rodrigo Lulu näher zu bringen versucht, dass eine Arbeit in einem Kairoer Bordell das Beste für sie wäre) bleibt merkwürdig distanziert. Selbst der Mord an Rodrigo in einem aufblasbaren Kinderplanschbecken bleibt Episode.

    Einzig das Schlussbild kann mit der Basler Aufführung der „Lulu“-Oper konkurrieren. Das ist kein Wunder, die Grundidee wurde übernommen. Müllberge werden auf die Bühne gekarrt, hier bedient Lulu ihre Freier, hier kommt Alwa zu Tod und hier wird Lulu das Opfer des Dr. Schön/Jack the Ripper, der ihr auch in Mannheim, wie zuvor schon in Basel, den Uterus herausschneiden wird.

    Bieito lässt oft weit vorne spielen, es gelingt ihm aber nicht, wirkliche Spannung zwischen den Personen aufzubauen. Was ihm in der Oper anscheinend mühelos gelingt, funktioniert im Schauspiel Mannheim nicht. Die Bühnenaktionen wirken oft gewollt, mitunter auch beliebig.

    Ein Problem sind die Schauspielerinnen und Schauspieler. Hier wird vor allem Text exekutiert – immer auf einem leicht angehobenen Dauerexpressivo, aber dann doch so gebremst, dass keine(r) der Darsteller/innen jemals an Grenzen geriete oder sich wirklich verausgaben würde.

    Die Wortverständlichkeit liess immer wieder zu wünschen übrig, auch sprechtechnisch waren Mängel hörbar, das gilt insbesondere für die Titelrollendarstellerin Sabine Fürst, die auch als Figur nicht überzeugen konnte. Allein gegen Ende zeigte Sabine Fürst, dass sie auch differenziert zu gestalten versteht, aber weder ist glaubhaft, dass ihr die Männer so reihenweise verfallen, wie es das Stück vorgibt, noch passt zu einer Lulu, dass das Gefühl transportiert wird, die Schauspielerin täte sich mit allem, was mit sehr direkter Körperlichkeit zu tun hat, schwer. Kein Vergleich zu Marisol Montalvo, die als Sängerin der Lulu in Basel die Schauspielerin in Mannheim klar auf die Plätze verweist.

    Auch erst gegen Ende wirklich überzeugend die Geschwitz von Ragna Pitoll – im ersten Teil erinnert die Textbehandlung der Schauspielerin an eine Aufführung einer semi-professionellen Theater AG.

    Bei den Männern am stärksten Thomas Meinhardt als Dr. Schön, aber auch als Figur interessant der Schigolch von Ralf Dittrich.

    Erstaunlich, dass Calixto Beito mit den Einschränkungen des Musiktheaters so geniale Aufführungen zu machen versteht – und beim Schauspiel deutlich hinter dem zurückbleibt, was man da erwartet hätte.

    Freundlicher Beifall für alle Beteiligten, durchsetzt mit Ovationen und ohne Ablehnung von Seiten des Publikums.

    Der Kunst ihre Freiheit

  • Herzlichen Dank, lieber Alviano, für diese aufschlußreiche Besprechung! Ich war schon drauf und dran, mir Premierenkarten zu besorgen, es gab allerdings so kurzfristig keine akzeptable Plätze mehr (bei den weiteren Vorstellungen - heute, 11.10., 22.10. mit anschl. Publikumsgespräch, 29.10., 05.11., 28.11. - sieht's da wohl gut aus).

    Wenn ein so ausgewiesener Bieito-Fan wie Du solch kritische Worte findet, dann gibt das zu denken, und ich frage mich, ob die Mannheimer Lulu (kenne selbst bislang nur die Bergsche Opernfassung) meine erste Bieito-Erfahrung sein soll oder ob ich erst noch den Stuttgarter Parsifal (März 2010) abwarte (wenn ich dann überhaupt an Karten komme)... :wacko:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Lieber Alviano,
    habe Deine Rezension wie immer mit großem Interesse gelesen! Zwei Fragen drängen sich mir auf: War das Deine erste Begegnung mit Bieito als Schauspielregisseur? (Ich wusste gar nicht, dass er auch für die Sprechbühne inszeniert :hide: ) Wie steht es eigentlich mit den Deutschkenntnissen von Bieito? Vielleicht hätten da die offensichtlich nicht übermäßig begabten Schauspieler mehr Unterstützung gebraucht, was die spachliche Gestaltung betrifft. Und vielleicht ist Bieto eben deshalb die Basler "Lulu" gelungen, weil ihm die Sprache der Musik geläufiger ist. (Das ist jetzt keine Fortsetzung des bewussten Threads ;+) , sondern interessiert mich wirklich!)
    lg Severina :wink:

    "Das Theater ist ein Narrenhaus, aber die Oper ist die Abteilung für Unheilbare!" (Franz Schalk)

  • Kleinigkeiten

    Lieber Gurnemanz,

    unterstellt, dass für Dich die Anreise nach Mannheim nicht allzu weit wäre, würde ich von einem Besuch der Aufführung nicht unbedingt abraten. Sie ist in ihrer Komprimiertheit kurzweilig, gehört aber zu den eher schwächeren Arbeiten von Bieito, wie z. B. auch die "Manon Lescaut" (Massenet) in Frankfurt oder der Bergsche "Wozzeck" in Hannover.

    Für meine Begleitung war es auch die Erstbegegnung mit Bieito - der Eindruck war zwiespältig.

    Liebe Severina,

    Calixto Bieito ist von Haus aus Schauspielregisseur, er leitet auch eine eigene Theatergruppe in Spanien. Die "Lulu" war zwar meine erste komplette Schauspielproduktion, die ich von Bieito gesehen hab, aber mein Interesse an ihm wurde durch eine Arbeit für das Schauspiel geweckt: "Macbeth" von Shakespeare bei den "Salzburger Festspielen". Weil das, was ich da gesehen habe, mir gut gefiel, habe ich mir den Namen des Regisseurs gemerkt - und wurde hellhörig, als ich diesen Namen im Zusammenhang mit einer Neuproduktion des "Don Giovanni" von Mozart an der Staatsoper Hannover wieder gelesen hatte.

    Meines Wissens, aber das ist ungesichert, spricht Bieito nur Englisch. Aber ich wüsste jemanden, der uns diese Frage aus erster Hand heraus beantworten könnte... :D Sicher, die Schauspieler/innen in Mannheim sind eher durchschnittlich, das ist nicht optimal. Aber selbst wenn der Regisseur nicht jede Nuance des gesprochenen Texte erfassen kann, müsste hier die Assistenz regulierend tätig werden.

    :wink:

    Der Kunst ihre Freiheit

  • Hallo Alviano,
    danke! Ich habe eben die fundierte Bieito-Biografie von Michel im Regisseurthread entdeckt, die mir bisher völlig entgangen ist und auf die ich hier noch einmal hinweisen will!
    lg Severina :wink:

    "Das Theater ist ein Narrenhaus, aber die Oper ist die Abteilung für Unheilbare!" (Franz Schalk)

  • Lieber Alviano

    Dann muss ich mich ja nicht ganz so furchtbar ärgern, dass ich es nicht nach Mannheim geschafft habe... Ich finde es aber ein höchst merkwürdige Idee, die Darsteller auf der Bühne sprechen zu lassen. Die habe wohl noch nichts von der Erfindung der Oper gehört? 8+)

    Irgendwo (Quelle finde ich gerade nicht) habe ich über die Proben zum Macbeth (Shakespeare) in Salzburg 2001 gelesen, dass Bieito damals nicht nur kein Wort Deutsch sondern auch sehr schlecht Englisch sprach. Englisch hat er in der Zwischenzeit wohl gelernt, Deutsch er weniger. In einem Interview aus 2007 sagte er, er habe gerade erst damit angefangen und arbeite sehr wenig dran. Ich würde da also nicht so viel erwarten... In dem gleichen Interview sagt er übrigens auch über diesen Macbeth:

    Zitat

    Das war sehr hart. Es hat mit den Schauspielern sehr viele
    Auseinandersetzungen gegeben. Man hatte mir danach zwar ,Hedda Gabler’,
    ja sogar ,Faust’ angeboten, aber ich wollte es nicht. Ich habe Theater
    in England, in Norwegen in Russland inszeniert. Aber in Deutschland war
    ich traumatisiert. Langsam beginnt sich der Krampf aber zu lösen.

    ... hat dann aber nich bis zum Mannheimer "Don Carlos" in diesem Jahr gedauert.

    Michel

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • (...)hat dann aber noch bis zum Mannheimer "Don Karlos" in diesem Jahr gedauert.

    Lieber Michel,

    der war aber keine Eigenproduktion des Mannheimer Hauses, sondern ein Gastspiel aus Spanien vom "Romea"-Theater (also jenem Haus, das Bieito in Barcelona leitet), in spanischer Sprache.

    Zitat

    Ich finde es aber eine höchst merkwürdige Idee, die Darsteller auf der Bühne sprechen zu lassen. Die haben wohl noch nichts von der Erfindung der Oper gehört?

    Das, was Du nicht wissen kannst: ich komme ursprünglich vom Sprechtheater, da lese ich solche Äusserungen gar nicht gern :D . Ich bin jahrelang nicht in die Oper gegangen, die war mir zu bürgerlich-reaktionär, Musik habe ich lieber zu Hause gehört. In dieser Zeit war ich viel im Schauspiel unterwegs - Schleef, Hilsdorf, Castorf, Kriegenburg, Schlingensief, Marthaler, Kruse, später dann Thalheimer, das waren so meine Favoriten. heute schaffe ich es viel zu selten ins Schauspiel, aber das wirklich nur am Rande.

    :wink:

    Der Kunst ihre Freiheit

  • der war aber keine Eigenproduktion des Mannheimer Hauses, sondern ein Gastspiel aus Spanien vom "Romea"-Theater (also jenem Haus, das Bieito in Barcelona leitet), in spanischer Sprache.

    oops :hide: . Soviel zu meinem fundierten Wissen zu Bieitos Wirken ;(

    Das, was Du nicht wissen kannst: ich komme ursprünglich vom Sprechtheater, da lese ich solche Äusserungen gar nicht gern :D .

    Dann ist ja gut, dass die inkriminierte Äußerung nicht so ganz ernst gemeint war :D . Sprechtheater gehört zu den Dingen, denen ich mich zuwenden werde, wenn ich mal in Rente bin... Der Mensch hat einfach nicht genügend Freizeit...

    Viele Grüße
    Michel

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

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