Keith Jarrett - Umstrittene Diva am Klavier
Keith Jarrett verdiente sich Mitte der sechziger Jahre seine ersten Sporen bei Art Blakey und bei Charles Lloyd. 1969 holte ihn Miles Davis in seine Band. Hier musste Jarrett elektrifizierte Instrumente, vornehmlich das Fender Rhodes, spielen, was ihm als nicht befriedigend erschien, es aber zähneknirschend tat, weil er schließlich bei Davis spielte. Gleichzeitig arbeitete er bereits mit einem Trio, zu dem Charlie Haden am Bass und Paul Motian am Schlagzeug gehörten.
Die siebziger Jahre lassen sich grob in drei Bereiche aufteilen: Zum ersten gab es den Solisten Jarrett, der mit seinen ausladenden Solokonzerten für Furore sorgte, aber durchaus auch zu skeptischen Diskussionen ob der weihrauch-schwangeren Aura dieser Abende Anlass gab. Berühmt sind das "Köln Concert", aber auch die Doppel-CD "Bremen/Lausanne" oder die in Japan aufgenommenen "Sun Bear Concerts", dokumentiert auf 5 CDs. (Am Rande: Ein Bekannter von mir war in Bremen live dabei - für 5 D-Mark Eintrittt!)
Daneben führte Jarrett ein europäisches Quartett, dem neben ihm selbst Saxophonist Jan Garbarek, Bassist Palle Danielsson und Schlagzeuger Jon Christensen angehörten. Wie seine Solomusik wurde dieses Quartett bei ECM veröffentlicht. Parallel arbeitete er mit einer amerikanischen Gruppe für das Label Impulse. Hier waren Saxophonist Dewey Redman sowie die alten Weggefährten Charlie Haden und Paul Motian seine Mitstreiter. In dieser Band tobte sich der experimentelle Jarrett aus, verband freien Jazz mit indianischer Musik, "reinen" Jazz mit europäischer Kunstmusik und griff auch schon mal selbst zum Saxophon oder zu den Rasseln.
Im Januar 1983 ging er dann erstmals mit Bassist Gary Peacock und Schlagzeuger Jack DeJohnette für ECM ins Tonstudio, um mit diesem Trio aufzunehmen. Das Konzept war eigentlich simpel und erst einmal wenig originell: Man griff auf die Standards des "American Songbooks" zurück, knüpfte also an eine Trio-Tradition an, die von Oscar Peterson bis Bill Evans bereits erprobt war. Wie dieses geschah, war aber neu! Hier waren nunmehr Musiker zugange, die bereits alte Pfade der Tradition verlassen hatten und in unterschiedlichsten Zusammenhängen ihr musikalisches und instrumentales Rüstzeug gesammelt hatten. Peacock war neben Bassisten wie Dave Holland oder Miroslav Vitous einer jener Tieftöner, die die dank Scott LaFaro neu gewonnen Freiheiten des Basspiels in den siebziger Jahren in noch weitere Dimensionen beförderte. DeJohnette schließlich war wohl DIE Schlagzeug-Stimme nach Elvin Jones und Tony Williams, die sich vom freien Jazz bis zum Jazzrock zu einem unverkennbaren und erneuernden Vorbild entwickelt hatte. Diese Musiker machten sich nun daran, mit all diesen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Tradition neu aufzurollen. Denn was sie mit all den Gassenhauern Gershwins, Rodgers & Hammersteins, Porters u.v.a. anstellten, war wirklich neu und frisch. Der Jazz-Publizist und Pianist Michael Naura beschrieb es einmal sinngemäß so: Das Keith Jarrett Trio behandele einen alten Standard-Song so wie ein Stück Fleisch oder ein Hähnchenbein. Es nage so sehr von allen Seiten daran herum, bis die Knochen frei lägen. Oder anders gesagt: Die Strukturen der Stücke werden vorgestellt, dann zerlegt, neu zusammengesetzt und von allen Seiten beleuchtet, so als fertigten die drei eine Röntgenaufnahme des jeweiligen Stückes an.
Dabei erreichten sie besonders eine Form des Miteinander-Musizierens und Kommunizierens, das in seinen besten Momenten den Atem verschlägt und ein Musterbeispiel für Reaktionsschnelligkeit und für das Aufeinander-Hören ist. Jeder der drei vermag blitzschnell der Musik eine neue Richtungsänderung zu geben. Manchmal kann man hören, wie sehr sie sich selbst gegenseitig überraschten, wenn einer von ihnen plötzlich unvorhergesehene Dinge tat, denen die anderen dann folgten. Natürlich birgt ein derart riskantes Musizieren auch Gefahren, wie immer, wenn man sicheren Boden verlässt und bereit ist, unter den Augen und Ohren des Publikums etwas zu wagen. In wenigen schwachen Momenten können dann schon einmal Leerlauf oder eine gewisse Orientierungslosigkeit herrschen. In den guten Momenten aber fliegt die Musik, sie nimmt einen an der Hand und führt einen in außergewöhnliche Grenzbereiche.
Das also fing 1983 an, mit den Schallplatten Standards Vol. 1, Standards Vol. 2 und Changes, alle bei der selben Aufnahmesitzung eingespielt. Schon hier kommt auf letztgenannter Platte ein wesentliches Merkmal des Trios zur Geltung. Neben den erwähnten Standards ließ das Trio es auch immer wieder frei laufen und improvisierte ohne einen vorgefertigten Song. Beeindruckend ist auch, wie es selbst bei den Standards gelang, beispielsweise den Tonvorrat des Schlussakkords zu nutzen, um noch einmal zu langen dynamischen Bögen anzusetzen und minutenlang darüber Stücke im Stück zu erarbeiten.
Schwierig, aus nunmehr 26 Jahren ein paar bestimmte Aufnahmen herauszugreifen. Ehrlich gesagt ermüdete ich nach den ersten 15 Jahren etwas und fragte mich, ob denn nun noch eine Live-Doppel-CD mit Standards erscheinen soll, und dann noch eine. Und ein Jahr später eine weitere. Allerdings musste ich dann bemerken, dass das Trio doch immer wieder aufs Neue überraschen kann und doch immer wieder zu besonderen Leistungen fähig ist. Meine Lieblingsaufnahmen stammen aber dennoch aus dem ersten Jahrzehnt des Bestehens dieses langlebigen Trios.
Changes, 1983
Diese CD gehört zur ersten Aufnahmesitzung dieses Trios, ist also "historisch" relevant...
Changeless, 1987
Eine Live-CD, die vier spontan improvisierte Stücke mehrerer Konzerte in den USA vereinigt. Eine CD übrigens, die ich auch mehreren Freunden, die überhaupt keinen Jazz hören, unterjubeln konnte.
Still Live, 1986
Mein Favorit, bis heute! Live aufgenommen in der Münchner Philharmonie im Juli 1986. Hier kann man exemplarisch hören, wie z. B. die Gassenhauer "Autumn Leaves" und "The Song Is You" am Ende in immer neue dramatische Spannungsbögen überführt werden.
Tribute, 1989
Mein zweiter Favorit... Diesmal war die Philharmonie in Köln der Tatort. Das Konzert ist ähnlich intensiv und voller erregender Momente wie das in München. Hier mischen sich darüber hinaus Standards mit eigenen Trio-Improvisationen.
At The Blue Note - Complete Recordings, 1994
Der Monolith! Aufgenommen an drei Abenden im Juni 1994 im New Yorker Club Blue Note, dokumentieren diese 6 CDs das Trio in ungewöhnlich intimer Atmosphäre, die so manche überraschende Wendung bewirkte. Besonders DeJohnette ist hier ein bewundernswert einfallsreicher, humoriger Schlagzeuger, der sich vor Ideen kaum retten kann. Die enge Club-Atmosphäre wird im Klangbild der CDs hervorragend abgebildet und steht im interessanten Kontrast zu den eher halligen Aufnahmen aus den großen Konzertsälen.
Keine Frage: Keith Jarrett polarisiert. Vielleicht weniger musikalisch als vielmehr durch seine Persönlichkeit, die mit "divenhaft" wohl noch milde ausgedrückt ist. Von Kollegenschelte über Publikumsbeschimpfung bis zu Konzertabbrüchen reicht die Palette seiner weniger schönen Eigenschaften. Natürlich findet diese Art irgendwie auch in der Musik Ausdruck. Manchmal gerät es sehr maniriert, manchmal obsiegt das grenzenlose Jarrett'sche Ego über die Musik. Dass aber dennoch so immens viele großartige Momente dabei entstanden sind und dass man Zeuge davon sein kann, welche schwierigen Prozesse sich dahinter verbergen, Musik entstehen zu lassen, macht für mich dieses Trio so spannend. Wer sich darauf einlassen mag, wird grandiose Momente genießen, aber auch schwierige Momente miterleben dürfen. Aber ist das nicht gerade das spannende an Musik?
LG
C.