HERBERT VON KARAJAN - Ein Interpret in Licht und Schatten
Der Österreicher Herbert von Karajan war einer der prägende Dirigenten im Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit sein Stern während der Nazi-Herrschaft in Deutschland aufging, polarisiert er. Bis heute, lange nach seinem Tod. Sehen die einen in ihm die Verkörperung des Guten in der Musik und fühlen sich durch seine Wiedergaben erhoben und geadelt, erachten ihn die anderen als einen Poseur, der den leeren Schönklang zum Prinzip erhebt, die Werke aber ihres Gehalts beraubt. Beide Positionen haben den Anspruch auf Teilwahrheit.
Mit der Biografie Karajans will ich mich nicht lange aufhalten, sie ist jederzeit im Internet in unterschiedlicher Ausführlichkeit abrufbar. Ich nenne nur Eckdaten:
Geboren am 5. April 1908 in Salzburg als Heribert Ritter von Karajan. Nach Abschaffung der Adelstitel bleibt das "von" als Namensbestandteil des Künstlernamens bestehen (Entscheid von 1919).
Studiert Musik am Mozarteum.
Studiert Maschinenbau und Musik in Wien. Dirigierunterricht bei Alexander Wunderer und Franz Schalk.
1929 erster Auftritt als Dirigent am Mozarteum in Salzburg.
1930 Erster Kapellmeister am Stadttheater und im Philharmonischen Orchester von Ulm.
1935 Generalmusikdirektor am Stadttheater Aachen der jüngste Generalmusikdirektor Deutschlands.
1933 Beitritt zur NSDAP in Salzburg
1935 "Tannhäuser" in Aachen zu Ehren des Führer-Geburtstags und "Fidelio" für das KdF (Kraft durch Freude)-Programm.
1938 erster Auftritt mit den Berliner Philharmonikern
1939 Nochmaliger Beitritt zur NSDAP, da die Partei in Österreich ab 1933 verboten war, weshalb die Mitgliedschaft der Parteigenossen ruhte.
"Ernennung zum Staatskapellmeister" durch Adolf Hitler
In der Folge Favorit Görings, der Karajan gegen den Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, Wilhelm Furtwängler, in Stellung bringt; Karajan verliert aber die Gunst Hitlers, der meint, auswendig dirigieren sei Arroganz dem Werk gegenüber. Mehrere Konzerte in den besetzten Gebieten, "Horst-Wesssel-Lied" in Paris aufgeführt.
18. Februar 1945 letztes Konzert mit der Staatskapelle in Berlin, danach Flucht nach Italien
1946 Konzert in Wien
Auftrittsverbot wegen der NSDAP-Mitgliedschaft
1947 Aufhebung des Auftrittsverbotes
1948-1968 Ständiger Gastdirigent an der Mailänder Scala; de facto werden alle Wünsche Karajans respektiert
1951 erstmals in Bayreuth Dirigent
1955 USA-Tournee mit den Berliner Philharmonikern - unfreundliche Aufnahme in den USA, wo man den Dirigenten und viele Orchestermusiker im NSDAP-Umfeld sieht und das Orchester als Aushängeschild Hitler- Deutschlands erachtet
1956 Ernennung zum Chefdirigenten der Berkliner Philharmoniker auf Lebenszeit
Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele
1957-1964 künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper, deren Ensemble er zugunsten von internationalen Gaststars ausdünnt; damit in Zusammenhang wird von der deutschsprachigen Aufführung zur Aufführung in Originalsprache übergegangen.
1960 Vertragsende als Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele. Dennoch bleibt Karajan de facto der Spiritus rector in Salzburg. Folgerichtig wird er 1964 ins Direktorium gewählt, dem er bis 1988 angehört.
1967 Gründung der Salzburger Osterfestspiele und der Pfingstkonzerte
1977 Rückkehr an die Wiener Staatsoper als Dirigent
16. Juli 1989 Tod in Anif bei Salzburg
Karajans Bedeutung für die Musik und das Musikleben setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen. Er war vor allem ein repertoireprägender Dirigent für Schallplatte und CD, wie er überhaupt durch sein Faible für technische Neuerungen den Tonträgermarkt belebte. Er führte auch, ganz wertfrei gesehen, die Wiener Staatsoper in eine neue Zeit. Dadurch sind zahlreiche Facetten des Musiklebens bis heute durch Karajan geprägt.
Als Dirigent ist er umstritten. Die Klangkultur der Phase Karajans, die heute als charakteristisch erachtet wird (beginnend etwa ab den 60er Jahren) wurzelt in der Überzeugung, daß jeder Notenwert exakt über seine gesamte Länge ausgehalten werden muß, und zwar nicht nur im Legato. Dadurch ergibt sich das Karajan'sche Sfumato, ein unendlich schöner, aber auch weicher Klang, der mit zunehmendem Alter Karajans immer mehr aufweicht.
Dem steht ein etwas anderes Klabngbild des jungen Karajan gegenüber: Rhythmische Präzision und glühend aufgepeitschte Steigerungen lassen kaum erahnen, dass sich dieser Dirigent zum Bannerträger eines noblen, mitunter aber auch inhaltsleeren Schönheitskultes entwickeln wird. Herausragende Beispiele für den frühen Karajan sind etwa die "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta" von Bela Bartók, die "Meistersinger" (die auch in der zweiten Aufnahme erstklassig sind) und die frühen Einspielungen von Sibelius-Symphonien. Außerdem gibt es einen technisch nicht völlig befriedigenden Mitschnitt der "Elektra" aus Salzburg: Karajan entfesselt hier ein expressionistisches Brennen, wie kaum ein anderer Dirigent es gewagt hat.
Auch aus seiner späteren Zeit gibt es erstklassige Aufnahmen - aber meist nur dann, wenn die Werke dem Klangstil Karajans entgegenkommen. Die symphonischen Dichtungen Richard Strauss' etwa sind konkurrenzlos, die "Metamorphosen" desselben Komponisten legt Karajan gar in einer unerreichten Referenz-Aufnahme vor. Bruckners "Achte" ist ebenfalls mustergültig, wenn man über die Tatsache hinwegsehen kann, daß Karajan bei Bruckner Mischfassungen spielt.
Als Wagner-Dirigent ist Karajan insoferne wichtig, als er in seinen frühen Wagner-Interpretationen diese Musik vom unangenehmen Pathos befreit und damit mit der deutschen Tradition bricht. In seinen späteren Wagner-Aufnahmen (speziell im "Parsifal") wird das Pathos jedoch wieder gesteigert, wie Karajans späte Aufführungen überhaupt wieder zum Pathos tendieren.
Eine seltsame Haltung hatte Karajan zur Musik des 20. Jahrhunderts. Die Behauptung, er habe sie weitgehend ignoriert, ist schlicht falsch. Ganz im Gegenteil, hat Karajan vor allem in seiner frühen Zeit Unmengen an zeitgenössischer Musik aufgeführt, und zwar sowohl Erstklassiges wie Brittens "War Requiem" als auch lautstarke Reißer wie Waltons "Belshazzar's Feast". Er hat Honegger dirigiert und Holst (die "Planeten" bei Decca sind fulminant), er hatte an Theodor Berger einen Narren gefressen und mehrere seiner rhythmisch exzessiven Werke uraufgeführt, er dirigierte Gottfried von Einem und Boris Blacher und Heinrich Sutermeister und und und. Nur den letzten Schritt unternahm Karajan lediglich in Einzelfällen: Nämlich das Werk nach- und auch auf Tonträger einzuspielen.
Wobei freilich auch einige Komponisten von einem völligen Desinteresse Karajans an ihrem Werk berichten. Am schlimmsten traf es diesbezüglich wohl Carl Orff, dessen "Trionfi" ("Carmina burana" + "Catulli carmina" + "Trionfo di Afrodite") Karajan in Mailand uraufführen wollte, sich aber zu wenig Vorbereitungszeit nahm. Statt die Aufführung an einen anderen Dirigenten abzugeben, strich Karajan die Werke zusammen und ließ ihnen eine Aufführung angedeihen, der man seine Unlust deutlich angemerkt haben soll. Auch Orffs späte "De Temporum fine comedia", eigentlich als Versöhnung zwischen Orff und Karajan intendiert, war für Karajan mehr Pflichterfüllung als Überzeugungstat - er hatte wohl von Orff etwas Anderes erwartet als dieses herbe, dissonante Spätwerk.
Also war Karajan nur der unproblematischen Moderne gegenüber aufgeschlossen? - Auch das wiederum nicht: Seine Interpretationen von Werken Schönbergs und Weberns zeigen, daß er bereit war, sich auch auf dissonante Musik einzulassen. Ob es sich um ideale Aufführungen handelt, soll hier nicht diskutiert werden. Unbestreitbar ist aber, daß diese auch als Schallplatte bzw. CD dokumentierte Aufführungen detailliert ausgearbeitet sind und von einem feinen Gefühl für Klangfarbe zeugen.
Andere Einspielungen Karajans gelten heute aus unterschiedlichen Gründen als Naserümpfer: Sein gelenkiger Mozart kommt, ebenso wie seine wuchtigen Aufnahmen von Barockkomponisten, aus den Vorstellungen der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts - was man angesichts der Lebensdaten Karajan nicht anlasten kann. Allerdings kümmerte er sich kaum um neuere Erkenntnisse und blieb seinem Klangbild auch dann verhaftet, wenn es wissenschaftlich längst widerlegt war.
So bleibt letzten Endes ein Bild mit vielen widersprüchlichen Facetten: Am Anfang ein Karrierist, aber auch ein genial begabter Interpret wandelt sich zum Repräsentanten eines konservativen, sich selbst feiernden und sich selbst genügenden Bürgertums. Die Glut weicht der Noblesse und blitzt nur noch in einzelnen Interpretationen auf. Doch das Seltsame geschieht: Nicht der brennende frühe Karajan wird zum Maßstab, sondern der immer öfter einem leeren Schönheitsideal verschriebene spätere. Daß dann einige der letzten Konzerte Karajans wieder an die Tiefe der frühen Phase anknüpfen und auch wieder jene Abgründe aufreißen, die Karajan zwischenzeitlich mit polierten Oberflächen zugedeckt hatte, fiel den meisten seiner Anhänger kaum noch auf: Sie verehrten Karajan längst in einem Ausmaß, daß sie seine wechselnden Standpunkte nicht mehr überprüften, sondern willig alles nahmen, was ihnen der Meister gab.
Das allerdings ist weniger Karajan selbst anzulasten, der es durch seine Posen freilich auch evozierte, als der zunehmenden allgemeinen Kritiklosigkeit speziell des Konzertpublikums.