Gerhard, Roberto: "Dodekaphonisch, aber menschlich und sogar ein bisschen göttlich"
Das ist der Titel eines Aufsatzes (von Frank Harders-Wuthenow), auf den ich vor mehreren Jahren mehr oder weniger zufällig stieß (in: Musik und Ästhetik, Heft 2/1998, S. 108ff., Klett-Cotta Stuttgart). Er stellte den mir damals unbekannten Komponisten vor, mit einer Übersicht über die damalige diskographische Situation. Daß es hier ein Komponist verstand, scheinbar Unvereinbares zu verschmelzen, erweckte meine Neugier: Der Autor sprach von der
Zitatverblüffende[n] Tatsache, daß die Antagonismen in der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts sich durchaus in einem Werk austragen lassen. Die Forderungen Pedrells [ein Lehrer Gerhards, s. u.] (wie die Bartóks und Kodálys und so vieler anderer) nach Schaffung einer musikalischen Moderne, die dem nationalen Erbe, sprich der Folklore verpflichtet ist, und Schönbergs alle Vermischung von Kunst- und Volksmusik radikal ablehnende Haltung [stimmt das eigentlich?] sind die beiden Herzen, die in der Brust Gerhards schlugen. Eine schwächere Begabung wäre an dem Widerspruch gescheitert. Gerhard hat andererseits, indem er ihn austrug, eben die Reife erlangt, die Schönberg als unabdingbare Voraussetzung für die künstlerische Aneignung seines Systems forderte.
Das liest sich etwas sehr dialektisch-intellektuell – doch die Hörerfahrungen, die ich in der Folge machte, überzeugten mich davon, daß ich hier einen Komponisten vor mir hatte, der – ganz gleich, mit welchen Vorbildern und Systemen er arbeitete, folkloristisch oder seriell – stets einen emotionalen Zugang zum Hörer sucht.
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Charakteristisch für Gerhard ist seine Offenheit für alle möglichen Strömungen und Einflüsse und seine konsequent undogmatische Haltung. Um dies besser zu verstehen, ist ein Blick auf die Biographie aufschlußreich:
Roberto Gerhard (eigentlich: Robert Gerhard i Ottenwaelder) wurde am 25.09.1896 in Valls/Tarragona geboren; der Vater, aus dem Schweizer Jura stammend, war in Katalonien im Weinhandel aktiv. Die Mutter war gebürtige Elsässerin. Nach dem Abbruch einer Handelslehre in der Schweiz (wie so oft in Künstlerkarrieren: gegen den Willen des Vaters, der zunächst auf einer soliden bürgerlichen Karriere bestanden hatte) begann Gerhard eine pianistische Ausbildung bei Enrique Granados bis zu dessen frühem Tod 1916 und nahm dann Kompositionsunterricht bei Felipe Pedrell, was ihm zu gründlichen Kenntnissen der spanischen Kunst- und Volksmusik verhalf. 1921 komponierte er ein stilistisch von Maurice Ravel beeinflußtes Klaviertrio.
Mit seinen 1920/21 entstandenen aphoristischen Klavierstücken (Dos Apunts) und den Liedern Sept Haiku zog er nach Wien, lernte dort seine spätere Frau Leopoldina Feichtegger kennen; vor allem aber gelang es ihm, von Arnold Schönberg als Privatschüler angenommen zu werden. Diesen begleitete er auch nach Berlin, wo er bis 1928 Assistent an der Preußischen Akademie der Künste war. Er soll der einzige Schönberg-Schüler gewesen sein, der es sich herausnahm, sich positiv über Igor Strawinsky zu äußern. Außerdem verehrte er Bela Bartók – die für Gerhard typische undoktrinäre Grundhaltung wurde schon sichtbar.
Nach der 1929 erfolgten Rückkehr nach Barcelona wurde er Professor an der Ecola Normal de la Generalitad, Leiter der Musikabteilung der katalanischen Bibliothek und 1932-38 künstlerischer Berater der katalanischen Regierung. Der Kontakt mit Schönberg hielt sich; dieser besuchte Gerhard 1930/31 und arbeitete in Barcelona an der Komposition seines Moses und Aron. Gerhard initiierte in den 30er-Jahren spanische Erstaufführungen von Schönberg, Berg und Webern.
Trotz dieser engen Beziehungen zur Zweiten Wiener Schule ging Gerhard musikalisch zunächst eigene Wege, bearbeitete katalanische Volkslieder (einen Teil führte Webern 1932 in Gerhards Orchestration in Wien auf) und schuf mit den Soirées de Barcelone ein Strawinskys Sacre du Printemps thematisch verwandtes Ballett.
Nach dem Sieg der Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg floh Gerhard 1939 über Paris nach England und erhielt im King’s College in Cambridge ein Forschungsstipendium. Hier blieb er, abgesehen von zwei USA-Aufenthalten mit Lehrtätigkeiten, bis zum Ende seines Lebens, wobei er sich als Musikforscher und Herausgeber betätigte. 1960 wurde er britischer Staatsbürger.
In den 40ern entstanden u. a. ein Don-Quixote-Ballett, Cancionero de Pedrell und die Symphonie Homenaje a Pedrell. Interessant ist, daß Gerhard erst in England die bei Schönberg studierte Zwölftontechnik in seine eigene Werke integrierte, etwa in seiner einzigen Oper The Duenna (mit selbstverfaßten englischsprachigen Libretto, nach einem Drama von Richard Brinslay Sheridan) und in seinem Violinkonzert (1942-45).
Außerdem beschäftigte sich Gerhard mit polytonalen und modalen Verfahren. Nach 1950 entwickelte er sich von einem gemäßigt modernen mehr und mehr zu einem avangardistischen Komponisten, der sich für serielle Techniken interessierte und auch elektronische Elemente integrierte (in seiner 3. Symphonie, 1961). Vier Symphonien schuf er zwischen 1953 und 1967. Weitere wichtige Produktionen der letzten Lebenszeit waren The Plague (s. u.), Epithalamion für Orchester (1966) und kammermusikalische Werke, zuletzt 3 Stücke mit astrologischen Titeln: Libra, Gemini und Leo (dem Sternbild seiner Frau „Poldi“). Außerdem sind 2 Streichquartette erhalten.
Am 05.01.1970 starb Roberto Gerhard in Cambridge.
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Roberto Gerhard gehört (wie der von mir hochgeschätzte Schwede Allan Pettersson) zu denjenigen Komponisten, die im gegenwärtigen Konzertleben kaum eine Rolle spielen, deren Werke auf Tonträgern dagegen recht gut dokumentiert sind.
Eines der ergreifendsten Werke Gerhards ist The Plague (Die Pest) nach dem 1947 erschienenen Roman von Albert Camus (1913-60), in dem aus der Sicht eines Arztes eine (fiktive) Pestepidemie in Oman in den 1940er-Jahren geschildert wird. Aus der Vorlage schuf Gerhard 1963/64 ein Oratorium für Sprecher, gemischten Chor und großes Orchester (ca. 47'), wobei er Camus’ Text, stark verkürzt, ins Englische übersetzte und in 9 Szenen gliederte.
Aus dem eingangs zitierten Aufsatz:
ZitatHier ringen Lebensgefühl und Welterfahrung nach Ausdruck, hier finden die Grauen des Spanischen Bürgerkriegs und des sich anschließenden Zweiten Weltkriegs, deren wirkliche Ausmaße dem in Cambridge Exilierten erst nach dem Krieg deutlich wurden, ihren Niederschlag.
Charakteristisch ist der scharfe Kontrast zwischen Orchester und Chor einerseits (hochexpressiv, atonale Klangmassen werden teilweise clusterartig aufgetürmt, der Chor variiert extreme Formen des Ausdrucks, vom erschreckten Flüstern bis zu verzweifeltem Schreien, es erinnert mich in der Tonsprache an Arnold Schönberg, Moses und Aron, und auch an Edgar Varèse) und dem Sprecher andererseits: nüchtern, kühl, scheinbar unbeteiligt und emotionslos berichtet er den Verlauf der Epidemie von den ersten Anzeichen (den Ratten) bis zum Massensterben in der unter Quarantäne gestellten Stadt bis zu ihrer Befreiung, die am Ende scheinbar bleibt: Der Pestbazillus stirbt niemals, die Ratten und der Tod werden wiederkehren... Ein erschreckend faszinierendes Werk!
Es handelt sich um ein von Antal Doráti initiiertes Auftragswerk des BBC, mit dem Gerhard mehrfach zusammenarbeitete. Ich habe eine eindrucksvolle und bewegende Aufnahme mit Michael Lonsdale (Sprecher), dem BBC Symphony Chorus und dem Joven Orquestra Nacional de España unter der Leitung von Edmon Colomer (Auvidis Montagne, aufg. 1996).
Die CD (gekoppelt mit Epithalamion, ca. 22') ist, mit anderem Coverbild, relativ günstig bei Amazon zu bekommen.
Es gibt auch eine Aufnahme mit dem Dirigenten der Uraufführung 1964, Antal Doráti, die ich allerdings nicht kenne.
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Zwei weitere CDs möchte ich empfehlen, hier zunächst nur die Fakten:
- Alegrías, Suite (1943)
- Cacionero de Pedrell (1941-42)
- Sept Haiku (1922, rev. 1958)
- Pandora-Suite (1944, 1950)
Orquestra de Cambra Teatre Lliure, Ltg. : Josep Pons
HMF, aufg. 1993
Bei JPC günstig!
- Violinkonzert (1942-45)
- Symphonie Nr. 1 (1952-53)
Olivier Charlier, Violine; BBC Symphony Orchestra, Ltg.: Matthias Bamert
Chandos, aufg. 1997
Bei Amazon relativ günstig!
Zu den Aufnahmen und den Werken demnächst gern mehr (ich habe noch weitere Aufnahmen, die ich zur Diskussion stellen könnte).
Natürlich würde mich interessieren:
- Welche Erfahrungen habt Ihr mit Werken des Komponisten gemacht? (Vielleicht ist ja die eine oder andere Einspielung nicht ganz unbekannt?)
- Was wäre weiter interessant zu erfahren? Ich freue mich auf Kritik und Anregungen!