Sviatoslav Richter
Sviatoslav Teofilovich Richter
Geboren am 20. März 1915 in Schitomir (Ukraine) – verstorben am 1. August 1997 in Moskau.
Sviatoslav Richter war kein Wunderkind. Zumindest wurde er von seinen Eltern, beide Musiker, nicht als Wunderkind behandelt. Als Sechsjähriger erhielt er musikalischen Elementarunterricht, mit acht Jahren begann er zu komponieren. Vier Jahre später nahm er immerhin schon eine Oper nach einem Stoff von Maeterlinck in Angriff. Richters außerordentliche Begabung war offensichtlich, doch trotz oder gerade wegen seiner verblüffenden Fortschritte schickten ihn die Eltern noch nicht auf eine Musikschule – Richter wuchs mehr oder weniger als Autodidakt auf.
In Odessa, einer kulturell reichen Stadt, besuchte Richter die deutsche Schule. Er interessierte sich für alle Bereiche der Musik, bewies eine erstaunliche künstlerische Vielseitigkeit: Klavierspielen, Dirigieren, Komponieren (später kam als Leidenschaft noch die Malerei hinzu). Große Repertoirekenntnisse eignete er sich auf dem Opernsektor an, wurde schließlich Korrepetitor an der Oper von Odessa.
1937 – immerhin schon im Alter von 22 Jahren – ging Richter nach Moskau, um Unterricht bei dem legendären Klavierpädagogen Heinrich Neuhaus zu nehmen. Neuhaus schilderte die erste Begegnung mit seinem Schüler später mit den Worten: „Here is the pupil for whom I have waited all my life. In my opinion, he is a genius.“ Zwischen beiden entwickelte sich ein väterlich-freundschaftliches Verhältnis.
Richter war noch Student, als er die 6. Prokofiev-Sonate in einem öffentlichen Konzert „uraufführte“. Diese 6. Sonate hatte Prokofiev zunächst selbst im Radio gespielt, fand sie aber zu schwer für sich. In einer außergewöhnlichen Geste überredete Neuhaus den Komponisten, die Sonate seinem Meisterschüler zu überlassen: „Dann wird sie eben der junge Richter spielen!“. Richter wurde mit Prokofiev erst nach diesem Uraufführungs-Konzert bekannt – der Grundstein für eine lebenslange Freundschaft war gelegt. Später bestritt Richter auch die Uraufführung der 7. und 9. Sonate Prokofievs, letztere ist ihm gewidmet. Für Prokofiev trat Richter auch ein einziges Mal ans Dirigentenpult: 1952 leitete er die Uraufführung des 2. Cellokonzertes, Solist war sein Freund und Kammermusikpartner Rostropovich.
Auf zahlreichen Auslandsreisen und Tourneen lernte Sviatoslav Richter zunächst ausschließlich die Ostblockländer kennen. In den 50ern war Richter im Westen nur vom Hörensagen und durch seine Platten-Aufnahmen bekannt, da ihm Reisen ins Ausland zunächst nicht erlaubt waren. Tatsächlich war er aber bereits zur Legende auch jenseits des Eisernen Vorhangs geworden: Künstler und Musikkritiker aus dem Westen, die die Sowjetunion bereist hatten, berichteten nach ihrer Rückkehr über den „Wunderpianisten“.
„Ich habe keinen Finger gerührt, um irgendwo hinzukommen. Wenn ich das getan hätte, bestimmt wäre ich schon früher in den Westen gereist“, so Richter. Aber er kam in den Westen: zunächst im Mai 1960 nach Finnland und im Spätherbst desselben Jahres schließlich in die USA. Der Wunderpianist „kam, sah und siegte“ schrieb das amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“. Aber welch ungeheure Last für einen so introvertierten und sensiblen Menschen wie Richter; er litt darunter, sich gegen seine eigene Legende durchsetzen zu müssen, im Alter von Mitte 40 noch all den fast hysterisch-hochgespannten Erwartungen gerecht werden zu müssen.
Intensität, Sensibilität, Kühnheit, Phantasie, Freiheitsdrang, Neugier – all das machte Richters Persönlichkeit aus, die zwar nach außen introvertiert wirkte, jedoch von großer Herzlichkeit geprägt war. Es ist schwer, Richters Spiel zu analysieren, denn immer wieder überzeugt er vor allem auch durch die Tiefe und Stärke seiner Persönlichkeit – und den typischen „Richter-Klang“. Dem Typus des romantischen Virtuosen zwar verwandt, wurde Richter vor allem deshalb zum Phänomen, weil er sich seinen Individualismus und damit eine gewisse Unberechenbarkeit stets bewahrt hatte.
Richter nannte sich selbst einen „Allesfresser“, sein Repertoire war riesig: Es umfasste nach eigener Aussage ca. 40 Klavierkonzerte, ebenso viele verschiedene Klavierabend-Programme, seine Diskographie umfasst Werke von über 40 verschiedenen Komponisten. Er setzte er sich für vernachlässigte Werke ein: Brittens D-Dur Konzert, das Klavierkonzert von Glasunov, Bartóks 2. Klavierkonzert usw.
Dabei werden merkwürdige Lücken im Repertoire deutlich: Richter spielte das 4. und 5. Beethoven-Konzert nicht, es fehlt die „Mondscheinsonate“, überhaupt einige andere Beethoven-Sonaten, das 3. Rachmaninov-Konzert usw. – Warum? Weil es ihm so gefiel, wie es andere spielten und er grundsätzlich gegen dieses „Alles-Spielen“ war. Eine Ausnahme war für ihn das „Wohltemperierte Klavier“, hier war er der Meinung, dass das Werk komplett gespielt werden müsse.
Richter zur Erinnerung möchte ich abschließend nochmals Heinrich Neuhaus zitieren, der viel würdigere Worte für seinen einstigen Schüler fand, als ich sie mir ausdenken könnte:
„Whether he is playing Bach or Shostakovich, Beethoven or Scriabin, Schubert or Debussy, the listener seems to hear the living, resurrected composer, and becomes completely immersed in his unique, enormous world. And all of it breathes the "Richter spirit", all of it is infused with his inimitable genius for penetrating the innermost secrets of the music. Only a pianist whose genius is a match for the composer's, a pianist who is the composer's brother, comrade and friend, can play like that.“
Soweit ein wenig aus dem Leben dieses großen Pianisten, den ich sehr verehre. Ich möchte in diesem Thread nach und nach Aufnahmen vorstellen, auf Wieder- und Erstveröffentlichungen hinweisen (ich warte immer noch auf die Prager Box) usw. Und natürlich bin ich interessiert an Euren Eindrücken, Erlebnissen, Erfahrungen rund um Sviatoslav Richter.
Gruß, Cosima :angel:
(Quellen: Bruno Monsaingeon: Notebooks and Conversations; Georg Egert: Svjatoslav Richter; Jürgen Meyer-Josten: Musiker im Gespräch)