Lange Zeit bin ich früh aufgestanden- der Capriccio-Gemeinschafts-Fortsetzungs-Roman

  • Lange Zeit bin ich früh aufgestanden- der Capriccio-Gemeinschafts-Fortsetzungs-Roman

    Prolog:

    Lange Zeit bin ich früh aufgestanden.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • I

    Lange Zeit bin ich früh aufgestanden. Mittlerweile bin ich nicht mehr daran interessiert überhaupt wach zu werden. Die Stunden sind mir sinnlos wie Blätter, die jedes Jahr wieder die Äste verlassen um auf der Erde zu verrotten.
    -
    Es kommt vor, daß einige dieser Blätter von Menschen mit lächerlichen romantischen Anwandlungen als schön empfunden werden und als Leichen zwischen den Seiten eines Buches landen, das damit all seinen Zweck erfüllt zu haben scheint.


    "Alles Syphilis, dachte Des Esseintes, und sein Auge war gebannt, festgehaftet an den entsetzlichen Tigerflecken des Caladiums. Und plötzlich hatte er die Vision einer unablässig vom Gift der vergangenen Zeiten zerfressenen Menschheit."
    Joris-Karl Huysmans

  • II

    Bücher – sie sind eigentlich das einzige, was ich hier vermisse. Obwohl mir die Lust am Lesen schon lange vergangen ist, fehlt mir einfach ihre stumme, beruhigende Anwesenheit. Seit Wochen lebe ich unter meiner Decke und bemühe mich, den Rest meines Lebens zu verschlafen. Nur nachts finde ich es manchmal noch halbwegs erträglich, wach zu sein; die Welt ist dann in einer Art Nicht-Zustand, in welchem ich mir vorstellen kann, ich sei der einzige Mensch auf diesem Planeten. Abgesehen von dem Verkäufer an der Aral-Tankstelle natürlich, der mich drei- oder viermal in der Woche durch den Stahlblechschieber mit Rotwein, Zigartetten und Konservenfutter versorgt. Aber durch das dunkle Glas des Nachtschalters, welches nur eine ungefähre Ahnung des schwach beleuchteten Innenraumes durchlässt, wirkt es so, als ob er nicht wirklich existiere – selbst seine Stimme, die sich durch die Gegensprechanlage nach draußen zu pressen versucht, klingt seltsam verzerrt und unwirklich. Warum können eigentlich nicht alle Menschen so sein?

  • III

    Etwa der Typ an der Zapfsäule gestern nacht. Vom Neonlicht angestrahlt, fettleibig, alterslos, ohne Augenbrauen, meine Arme anstarrend. Sie sollten sich besser was überziehen, junge Frau. Und auf meine vage abweisende, gekrächzte Antwort: Ich nehme kein Blatt vor den Mund, müssen Sie wissen. Und ich wusste, dass ich ihn nicht aus dem Kopf kriegen werde, die ganze Nacht nicht, heute nicht, morgen nicht, als ich mich umdrehte und wegging, die Weinflaschen fest an den Körper gepresst.

    .

  • IV

    "Cut! Check the gate!"

    Warum müssen Aufnahmeleiter immer nur so brüllen, wo ich doch nur mitten in der Nacht ganz alleine mit der Crew an dieser dämlichen, kalten Tankstelle herum stehe?

    "Wanna see the take, Baby?"

    Klar will ich die Einstellung sehen. Bloß: warum nennt mich der Kerl Baby? Immerhin bin ich hier der Star! Naja, jedenfalls wichtig...

    Gar nicht so schlecht, der Kameramann. Hat vielleicht zu viele Bilder von Edgar Hopper gesehen. Oder waren es Filme mit Dennis? Aber stimmungsvoll ist es, muss man sagen. Und ich sehe wirklich gut aus als Frau, auch ohne viel Wäsche.

    Kunststück. Wenn die Menschen wüssten, dass es nicht schwerer ist, seine Schale zu wechseln, als mit der gleichen Versform ganz verschiedene Dinge auszudrücken. Ein Sonett kann so nett sein - oder so furchtbar. Man muss sich doch nur richtig hinein versetzen. Ich würde jetzt zum Beispiel gerne...

    Das wirst Du NICHT!!!


    Heiliges Booboo. Die schon wieder.

    Du bist hier um die Menschen zu beobachten, nicht um sie zu verändern!


    "Natürlich, Ehrwürdige Erzeugereinheit des großen Booboo-der-noch-nichts-vermag-aber-zu-allem-fähig-ist. Ich dachte nur..."

    ....... !


    Ja,ja... Ich weiß, ich soll nicht denken, ich soll nur beobachten, registrieren, aufschreiben, berichten...

    Laaangweilig!

    Es wäre doch so toll, wenn wir sie hier einfach wieder aufmarschieren lassen könnten, den Proust, den Camus, den Beckett, den Chandler, den... Die werden sich wundern, was aus ihnen geworden ist. Stoffe für's Popcorn-Kino.

    Wo sind bloß die Asimovs? Oder ein Robert A. Heinlein? Die hatten noch Vorstellungskraft. Sie veränderten die Welt, weit über 2001 hinaus. Aber jetzt? Wer lässt sich in dieser Welt schon noch etwas einfallen außer Krisen? Sogar der Krieg der Foren ist nur noch einer, der gerne einer wäre...

    Philip K. Dick wäre auch nicht schlecht.... 'Lasst mich den Blade Runner auch spielen.'

    Aber nix da. Hier wird nur ein Remake von MONA LISA gedreht. Mit Neil Jordan als da Vinci und moi als...

    Ich lege mich da nicht fest. Brauche ich auch nicht. - Warum nennen die ihre dünne Plürre bloß Kaffee? Da muss doch der Löffel drin stehen bleiben, wie im alten Westen.

    Erst mal muss ich aber wieder ran. Der Gegenschuss der ersten Szene. Wie war noch der Text? Ach ja:

    "Lange Zeit bin ich früh aufgestanden...."

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • V

    Der Wind treibt Blätter zwischen den Leichen hindurch.
    Gleich denen nicht vor Altersträgheit gefallen, jetzt im Juni, waren sie hinabgeschossen worden. Die einen nun leicht, die andern endlich erdenschwer um alles erleichtert.

    Mich zu verorten – und verzeiten – ist einfach. Hier und jetzt war ich schon einmal gewesen.
    Oder würde sein - es ist jedes Mal schlicht eine Frage der Relation, der Perspektive, wenn meinem Mund der verfluchte, hoffnungsvolle Satz entkriecht, um mich wieder irgendwo, irgendwann auszuspeien.

    Die in unterwürfigem Ton, gepaart mit flatterndem Angsttremolo und einem verschwindenden Anklang an nonchalante Heiterkeit herausgezwungenen Bemerkungen der beiden vorbeihastenden Jungoffiziere über die englischen Karrees quittiere ich routiniert mit einer belanglosen Durchhalteparole in der lange schon nicht mehr fremden Sprache.
    Ich blicke an mir herab: Diesmal die Uniform der Alten Garde Cambronnes. Sie scheint wie von selbst meinen weichen Zügen Respekt zu verschaffen.

    Meine Züge, meine Erscheinung - und ihre.
    In der Zeit jener Filmsets und Neontankstellen, jener Zeit der unbekümmerten Sprache, welcher die Worte mich gerade entrissen haben, würde man sie und mich, wären wir dort und dann je gemeinsam aufgetreten, ihre zerbrechliche Androgynie in Kombination mit meiner unfesten Form wohl leicht einer bestimmten Szene zugeordnet haben.

    Ich wende mich von dem Totenfeld ab und blicke durch die Dämmerung hinter mich nach Süden, in Richtung Le Caillou.
    Doch selbst der „Kaiser“ würde mir nichts Neues über sie sagen können.
    Zudem mag er in Ruhe die letzte kleine Nacht vor dem letzten großen Ende damit zubringen dürfen, seine Hämorrhoiden mit Blutegeln behandeln zu lassen.

    Nein.
    Hier und jetzt würde ich ihren geheimen Satz nicht finden können.
    Nicht ihr Gesicht, nicht ihre Gestalt.
    Nicht ihren Schlächter.
    Nicht sie.

    Rebecca.

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

    • Der „Kaiser“ zog aus seinen Hintern einen abgebrochenen Flaschenhals, an dem Fäkalien und Blutegel klebten; die armen Tierchen schwitzten das Blut der Juni-Hitze aus. Den Flaschenhals fest in meiner Hand, stieß ich damit wütend nach den Gesicht des Aufnahmeleiters. Ein Telefon klingelte im Nachtschalter.....
      Nur langsam weckte mich schneidendes Weckerschrillen. In der rechten Hand hielt ich eine leere Rotweinflasche aus der Araltankstelle. Der Schraubverschluss lag hinterm Kopfkissen. Eben noch auf dieser schäbigen Tankstelle ...Lange Zeit bin ich früh aufgestanden.. Hatte mich doch gestern bei Aral tatsächlich so ein mieser Typ angemacht.Das war leider kein Traum gewesen.

      Ja, seit langer Zeit lebe ich allein. Wer könnte auch so eine ertragen. Von Kerlen hatte ich genug. Ich hielt mich selbst kaum aus. Sprach darüber mit keinem. Am allerwenigsten mit Ärzten. Denn Ärzte und medizinisches Personal waren mir zuwider; für Krankschreibungen ganz o.k. Die bescheuerten Call-Center-Mietzen, die quatschsüchtigen Telefonkunden und mein schmieriger Chef hatten nichts von meinen Depressionen bemerkt. Gott sei Dank. Und vor einem halben Jahr fand ich endlich den Ausweg, der mich aus diesem schwarzen, trägen Loch befreien würde; ein wahnwitzigen Augenblick, dessen mentaler Kick die ständigen Anfälle von Lebensekel und fruchtlosem Gegrübel auslöschen sollte. Ich musste jemanden töten.

      Ich hatte in meinen Bücher nicht mehr gelesen und begonnen zu planen. Das hatte sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Das geeignete Objekt finden, fiel nicht schwer. Aber es war gründlich – mit aller notwendigen Distanz – zu beobachten und zu studieren. Dessen Gewohnheiten mussten buchstäblich zur eignen Erfahrung werden. Es hieß Hans Niederstadt. War zwischen 50 bis 60 Jahre alt. Korpulent, untersetzt mit Halbglatze. Ein typischer Einzelgänger von Mann mit Durchschnittsvisage. Auch deshalb selektiert, weil mich überhaupt nichts anderes mit ihm verband, als das dringende Bedürfnis dem seinen feisten Schädel in Stücke zu schlagen. Niederstadt lebte – nein, schmarotzte als Frührentner - in einer armseligen Neubausiedlung. Das Mietshaus, mit der Wohnung Niederstadts, hatte ich gründlich ausgespäht. Die Bewohner hausten dort vereinzelt, in dröger Gleichmut, wie Niederstadt selbst. Ab und zu ein paar kleine Schlägereien, Messerstechereien, sonst nichts Besonderes. Einen groben Überblick über den Schnitt der Wohnungen gewann ich als falsche Interviewerin eines Markforschungs-Instituts und falsche Spendeneintreiberin für verlassene Haustiere. Einige Leichtgläubige gaben bereitwillig Geld. Niederstadts Wohnung hatte ich gemieden. Die geduldige Beobachtung des Opfers und seiner Umgebung ist Voraussetzung, um nichts, nein auch gar nichts Zufall zu überlassen. Diese mühevolle Planarbeit, die aufregende Logistik als Adventszeit hielt mich während der letzten Monate aufrecht und war das einzige, dass meine Stimmungstiefs abdämpfte. Lange Zeit ...

      Es war ein Samstagmorgen im Frühherbst. Der weißgraue Himmel füllte sich mit dunklen Wolkenanballungen. Sicher würde es bald regnen. Entschlossen stieg ich in meinen roten Golf, den ich gestern in bei Aral vollgetankt hatte. Während der Fahrt malte ich mir genüsslich aus, wie ich den gestrigen fettleibigen Macho von der Tankstelle im Zeitlupentempo seine aufdringliche Fresse, seine Zunge mit der abgebrochenen Weinflasche des „Kaisers“ schlitzen, seinen Schwanz und Eier aufschneiden, den Flaschenhals dann in seinen Kopf eindrücken und so diesen Mistkerl mir entgültig aus der Großhirnrinde formatieren würde.

      Eine Stunde später befand ich mich im Stadtteil meines Opfers. Die geeignete Parklücke wählte ich ein paar Häuserblocks von ihm entfernt aus. Ich würde mich als Paketkurier ausgeben in schwarzer Cordhose gekleidet, sexy T-Shirt mit Ausschnitt, darüber einem halbgeöffneten dunklen Blazer, auf meinen Kopf eine blaue Baseballmütze mit Fantasieemblem. Um meine fest zusammengeflochtenen Kopfhaare waren zwei Haarnetze übereinander befestigt. In der rechten Hand trug ich ein Paket, mit der selbst erstellten Aufschrift des Express Paketdienstes. In dem Paket lag zusammengefaltet ein dünner graufarbener Trenchcoat. Ich drückte den Summer zwei mal kurz und energisch. Auf Niederstadts Frage gab ich mich mit liebenswürdiger Stimme als Paketbotin aus. Das alles hatte ich trainiert. Der Türsummer schnarrte. Die Tür öffnete sich leicht Der Fahrstuhl trug mich zum 4. Stock. Zwei kurze Gänge nach rechts an der Treppe vorbei in einen langen Gang, bis ich endlich vor der Wohnungstür von Niederstadt stand. Ich drückte die Klingel.

      Der untersetzte Niederstadt musterte mich eingehend. „Ich hatte aber nichts bestellt“. „Das ist richtig. Wären sie denn so lieb diese Sendung für Herr Neumann aus dem 3. Stock annehmen. ? Dort meldet sich niemand ? Sie bräuchten hier nur den Empfang quittieren.“ Lächelnd hielt ich Niederstadt – ohne seine Antwort abzuwarten - den Kugelschreiber unter seiner Nase. Er schielte in meinen Ausschnitt, signierte das Formular ungeprüft, schöpfte keinen Verdacht gegen das veraltete, unmögliche Procedere meines falschen Paketdienstes. Seine bleiche Halbglatze glänzte speckig vom Schein einer Deckenlampe. Diese Arglosigkeit von Niederstadt ! Er hatte beim Öffnen nicht einmal seine Türkette eingehängt. Ich fragte mit sanfter Stimme, ob ich kurz seine Toilette benutzen dürfte. „Hier entlang bitte“. Ich folgte ihm durch den Flur in ein geräumiges Badezimmer mit braun gekachelten Wänden. Neben einer sehr großen weißen Badewanne standen eine Waschmaschine, daneben sogar ein Wäschetrockner. Rechts vom cremefarbenen Waschbecken hing ein rotes, benutztes Handtuch. Geschwind zog ich mir dünne Plastikhandschuhe über, drückte den Hebel der Toilettenspülung. Öffnete für kurze Zeit den Wasserhahn. Nahm das rote Handtuch vom Haken und legte es auf die hinterste Ecke der Badewanne. Zog den Totschläger aus meinem Blazer und verbarg ihn hinter meinen Rücken. „Entschuldigen sie bitte vielmals, hätten sie auch noch ein Handtuch für mich ? “ Niederstadt trat in das Badezimmer; jetzt noch freundlicher und suchte, ohne zu versäumen, verstohlen meinen Ausschnitt zu begaffen, nach dem roten Handtuch. Jetzt musste er mir den Rücken zuwenden. Beugte sich über den Badewannenrand, griff nach dem Tuch, als ich blitzschnell ausholte und mit aller Kraft auf den dicken, glänzenden Schädel einhieb.

      Ich musste ihn heftig getroffen haben, sofort fiel Niederstadt mit dumpfen Knall über den vorderen Rand direkt in die Wanne auf seinen Rücken. Die Nase stieß, während er stürzte, auf den silbernen Wasserhahn, riss ein und verbog sich. Ein lockerer Blutstrahl plätscherte aus seinem Kopf, wie Wasser eines kleinen, zierlichen Tischbrunnens. Was für ein Glück ! Ich schlug erneut sofort mit größter Wucht auf den Kopf ein, der zum Ende der Wanne rutsche. Zahllose Schläge folgten. Es knackte vernehmlich mit jedem Schlag.. Mein Atem wurde schwerer, aber ich schwitzte nicht. Niederstadt gab keinen Laut von sich, nur ersticktes Stöhnen. Blut sickerte aus seiner halbabgerissenen, verbogenen Nase, Blut spritzte auf den Wasserhahn, Blut färbte die weiße Wand der Badewanne, Blut sammelte sich in der Wanne, vermengt mit Knochensplittern, Teilen graugelber Gehirnmasse, die aus dem Kopf quoll. Jetzt musste ich verschnaufen und holte tief Luft. Ließ den Totschläger sinken, beobachtete gebannt das Schauspiel. Denn der Körper des Sterbenden zitterte in der Wanne und der Kopf bog sich röchelnd nach hinten, wie in einen Krampf. Geht dem Fettwanst noch einer ab ? Ein letztes Male zuckten schwach Arme und Oberkörper. Der Kopf schien sich dabei erfolglos in den Boden der Wanne biegen zu wollen. Dann gab es kein Atmen, kein Röcheln. Schweigen.

      Wie lange verweilte ich bewegungslos und staunend vor der Wanne ? Ich wusste es nicht. In diesem Moment, beim Anblick des Sterbenden, sah ich mich als kleines Mädchen im 5. Lebensjahr, dass sich nicht satt sehen konnte, als der durch eine Pitbullattacke zerfleischte Nachbarsjunge, ein Einzelkind, auf der Tragbare liegend in den Krankenwagen geschoben wurde. Die hysterisch kreischende Mutter, der aschfahl-abwesende Vater. Und so wie vor 20 Jahren stand ich jetzt versonnen vor dem Toten. Durch ein Milchglasfenster drang gedämpft Kindergeschrei eines nahegelegenen Spielplatzes. Regungslos blieb ich neben der Wanne mit dem Toten. Stünde die Zeit still .......

      Niederstadt lag starr und leicht gekrümmt in der Badewanne. Vom blutüberströmten, weit zurückgebogenen Kopf oder was davon übrig war, starrten aufgerissene Augen leer zur Deckenleuchte. Ich bückte mich und fühlte den Puls des Toten. Nichts. Aus den Nasenlöchern und dem blöd und verzerrt grinsenden Mund rannen noch etwas Blut und Speichel seitwärts am Kinn entlang. Er musste sich beim Sterben auf die Zunge gebissen haben, aber der Mund ist doch geöffnet. Ich schnüffelte misstrauisch, denn es stank merklich nach Kot und Urin. Seine helle, blutige Stoffhose war eingenässt und vollgekotet. Was war sein letzter Gedanke beim Krepieren, was hat der gerade erlebt beim Abgang ? Sag’s mir noch, schnell ! Meine Bücher verraten mir nichts. Aus Wut über die fehlende Antwort wollte ich erneut auf den blutüberströmten Schädel eindreschen. Aber dieser Impuls erschien mir kindisch und sinnlos, wie meine Frage. Alle Achtung; der verspricht nichts .. der ist kein Verräter. Der leere Blick des Toten spiegelte trüb das Licht im Badezimmer. Der ist nichts, der kann sich nicht mal selbst blenden. Die Augen mochte ich dem nicht schließen. Aus der Küche holte ich einen Löffel und ein scharfes, kurzes Messer, schnitt seitlich mit dem Messer tief zwischen Netz- und Lederhaut ein, schälte langsam und sorgfältig mit dem Löffel die Augäpfel heraus,. Beide Augen rollten nacheinander an der linken Backe hinunter zur Blutlache. Schabte gründlich Gewebereste aus den Augenhöhlen. Jetzt fixierten mich zwei dunkle Augenhöhlen in denen etwas Blut nachsickerte. Hinter mir lag auf der Waschmaschine ein ungewöhnlich großer Behälter mit Waschmittel. Ich streute das grobe weiße Pulver in die leeren Augenhöhlen und füllte auch den halbgeöffneten Grinse-Mund. Eine rote, deformierte Maske mit weißen Augengläsern und Mundschutz. Der lächerliche Anblick des zerschmetterten Schädels, die mit billigem Waschpulver gefüllten Öffnungen, trieben mich zu einem schier endlosen Lachanfall. Mir verging wieder der Atem. Wann hatte ich das letzte Mal gelacht ? Indem ich den Rest des Pulvers über die Leiche gleichmäßig verteilte, konnte ich mich wieder beruhigen. Nun wartete ich, ob ich zittern würde; auf Schweißausbrüche, Kotzreiz, aber nichts davon. Kein Herzklopfen. Keine Nervosität. Keine Panik. Kein Harndrang. Sicherheitshalber hatte ich mich eingewindelt. Was bedeutet das alles ? Doch da waren nur lockende Stille, die Erinnerung an den sterbenden Jungen, die nutzlosen Augäpfel in der Wanne, der stumme Körper im Blut, in seiner Defäkation, bedeckt mit schlechten Waschpulver, das allmählich sich rot färbte, das ferne Kindergeschrei...

      Den Totschläger und meine Hände in Plastikhandschuhen noch eingehüllt, wusch ich im Waschbecken und steckte die Waffe in meine Bluse. Sie nahm viel Platz ein, fühlte sich warm an. Fingerabdrücke waren an der Türklinke abzuwischen und meine Turnschuhe im Waschbecken zu säubern. Ich blickte in den Spiegel und untersuchte mein Gesicht nach Blut, vermied aber Blickkontakt. Nichts zu entdecken. Die dunkle Mütze hatte – glücklicherweise - keine Blutspritzer abbekommen. Doch Jacke, Hose waren mit Blutflecken übersät. Ich streifte den Trenchcoat über. Im Wohnzimmer lag auf einem Nierentisch ein Stapel mit zerfledderten Pornoheften, darauf eine DVD mit dem Bild einer hochgewachsenen kleinbrüstigen Farbigen, die den erigierten Penis eines schmächtigen blassen Jünglings umkrallte wie eine Hundeleine. Der kleine Wichser, konnte der sich rechtzeitig vor seinem Abgang noch einen runterholen ? Unter dem Stapel entdeckte ich die Geldbörse des Toten. Ich entnahm 200 €. Die Wohnung musste nach den übrigen Stromquellen durchsucht werden. In der Küche zog ich den Stecker vom Kühlschrank aus der Wand. Löschte alle Lampen. Drehte sämtliche Heizkörper ab. Nahm mein Paket. Prüfte sorgfältig, ob der Trenchcoat vollständig zugeknöpft war. Ging zur Wohnungstür. Zog den Schlüssel ab. Wartete und lauschte gespannt einige Minuten. Schaute mehrere Male durch den Spion, aber es hielt sich kein Mensch im Gang auf. Schnell die Wohnungstür geöffnet und leise von außen abgeschlossen. Das alles muss ja eine Ewigkeit gedauert haben ! Ich blickte auf meine Uhr. Doch es waren knapp 55 Minuten seit meinem Paketdienst verstrichen. Die Etage blieb leer. Der lange Gang rechts von mir endete irgendwo im Dunkel ohne Etagenlicht. Ich benutzte die Treppe. Schob die Mütze tiefer ins Gesicht hinein, doch kein einziger Mieter lief mir entgegen. Es regnete, als ich ins Freie trat. Der Spielplatz schien verlassen. Blitzschnell streifte ich die Plastikhandschuhe ab. Mit zügigen Schritten ging ich den Weg zum Auto. Auf der noch kaum belebten Straße fuhren einige wenige Fahrzeuge. Eine alte Frau schlurfte mit Hilfe einer nagelneuen Gehhilfe, auf der schmutzige Plastiktüten gestapelt waren, mühsam im Regen und versuchte die Straße zu überqueren. Endlich stand ich vor meinen Wagen, öffnete die Autotür und drehte den Zündschlüssel. Lange Zeit bin ich ...

      Die Hauptstraße, an den Rändern mit ausladenden Platanen bepflanzt, füllte sich allmählich. Läden rechts und links. Auf dem Bürgersteige drängten sich Passanten, trotz Regenwetters. Der Verkehr nahm an Dichte zu. Ich trat öfters auf die Bremse und schaltete einen Sender mit lokalen Verkehrsfunk ein. Eine helle, junge Männerstimme sang mit englischen Akzent einen mir unbekannten, vermutlich sehr alten Schlager. ..da geht das Girl mit dem Lalala von dem ich immer nur träume...Es regnete stärker. Tropfen schlugen windgepeitscht gegen die Scheibe. Ich stellte den Wischer auf Stufe zwei. ..alles an ihm ist schön. Ich singe mein Tralala..Es war leicht, die einfache Melodie im Takt mitzusummen. Fingernägel mussten gründlichst gereinigt und lackiert werden, Totschläger, Schlüssel und Kleider verschwinden. Ich hatte vorsorglich mehrere unauffällige Plätze mit geeigneten Müllcontainern ausgewählt. ..ich bin verrückt nach ihm.. Ich war verrückt nach einer Zigarette....

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Am späten Nachmittag kam ich zurück in meine Bude. Erschöpft ließ ich mich auf die ungemachte Schlafcouch fallen. Alles was zu tun war, hatte ich erledigt. Es lief perfekt. Keiner konnte mich gesehen und erkannt haben. Nichts konnte mich mit meinem Opfer in Verbindung bringen. Doch wirklich befreit fühlte ich mich nicht. Es war keineswegs ein schlechtes Gewissen, das auf mir lastete. Vielmehr ahnte ich, dass mein Leben sich trotz allem nicht wesentlich verändern würde. Früher oder später würde ich wieder zur Tagesordnung übergehen. Dann wäre Niederstadt umsonst gestorben.
    Langsam blickte ich mich in meinem Zimmer um. Der Schreibtisch, die Bücher, die CD-Sammlung, der Laptop... Alles war wie zuvor und erschien mir noch immer seltsam leer und bedeutungslos. Was sollte auch anders geworden sein? Nichts von dem, was ich in den letzten Monaten getan habe, brachte mein Leben auf irgendeine Weise vorwärts. Meine Gedanken schweiften wild durcheinander umher. Unversehens befand ich mich wieder in der Opernpremiere vor ein paar Wochen sitzen, zugedröhnt und erschlagen von lärmender Musik und kreischenden Stimmen. Dann stand ich wieder neben Niederstadts Leiche. Und dann wieder allein und ermattet in den vier Wänden meiner Wohnung, ignoriert vom Leben, falls es ein solches überhaupt noch gab.

    Noch vor wenigen Tagen hatte ich mir eingebildet, ich könnte ein Stück vom Leben in der virtuellen Welt des Internets finden. Nächtelang bin ich durch das Netz gesurft, habe viele kranke Dinge gesehen, die ich bisher nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe mich in den verschiedensten Foren registriert: Theologie, Philosophie, Psychologie, Philatelie, Pornographie, klassische Musik. Bin dort aber nur auf wahnsinnige Psychopathen, auf hohle Profilneurotiker und auf jede Menge schmieriger Niederstadts gestoßen. Seitdem habe ich den Computer nicht wieder eingeschaltet.
    Niederstadt. Noch immer war mir alles gegenwärtig, was heute geschehen ist, und dabei erschrak ich vor mir selbst. Ich habe es getan. Es war schrecklich. Aber es war auch gut. Jederzeit könnte ich es nochmals tun. Aus mir könnte eine Serienkillerin werden. Würde man von mir sprechen? Würde man sich vor mir fürchten? Je länger ich darüber sinnierte, desto weniger unangenehm erschienen mir diese Gedanken.

    In diesem Moment klingelte das Telefon. Ich erwartete keinen Anruf. Auf dem Display erschien eine ausländische Rufnummer. 0043... Das ist Österreich... Ich kenne dort niemanden. Viermal, fünfmal ließ ich es läuten, ging aber nicht an den Hörer. Wer sollte mich schon aus Österreich anrufen? Wichtig konnte es bestimmt nicht sein. Wahrscheinlich hat sich jemand verwählt. Es wurde wieder still.
    Ein sehr ungutes Gefühl überkam mich. Etwas, das ich mir nicht erklären konnte. Mir wurde schwindelig. Vielleicht war es auch nur Hunger. Ich ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank, wo ich jedoch nichts weiter fand als den Rest einer abgepackten Leberwurst am Rande des Verfalldatums, den ich schließlich auf ein altes, trockenes Brötchen schmierte.
    Erneut klingelte das Telefon. Ich biss ein Stück von meinem Leberwurstbrötchen ab und ging kauend an den Apparat. Es war wieder diese Telefonnummer aus Österreich. 00431... Das könnte Wien sein.
    Zögernd nahm ich den Ruf an. "Hallo?".
    "Grüß Gott", hörte ich die ziemlich mürrisch klingende Stimme eines offensichtlich etwas älteren Herrn am anderen Ende der Leitung.
    "Was... Was wollen sie von mir?", stotterte ich verunsichert und kleinlaut.
    "San' sie's?", fragte der Mann.
    Jetzt erst bemerkte ich den alpenländischen Akzent in der Stimme des Anrufers. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
    "Hallo, san' sie noch da? I möacht nur gern wiss'n, ob sie's san!".
    "Wie meinen sie das?".
    "Sie hoam's doch getan!?".
    Ich fühlte mich nackt und enttarnt. Wie konnte dieser fremde Mann in Wien so schnell wissen, was ich vor wenigen Stunden in einer norddeutschen Großstadt getan hatte? Steckte die Polizei dahinter, oder gar der Geheimdienst? Ich fasste all meinen mir verbliebenen Mut zusammen. Viel war es nicht mehr.
    "Was soll ich denn getan haben?"
    "Jessas", stöhnte der Mann. "Sie san... a Frau?"
    Der Mann hatte wohl nicht die geringste Ahnung, wozu eine Frau wirklich imstande sein kann.
    "Dann werde ich es wohl getan haben", gab ich resigniert zu. War dies jetzt schon das schnelle Ende meiner kurzen Karriere als Serienkillerin?
    "In Ordnung, ich werd' sie dann jetzt 'mal freischalt'n". Mit diesen Worten beendete der Anrufer abrupt das Gespräch.
    "Dankeschön", wollte ich sagen, aber ich hörte nur noch das Freizeichen.
    Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht ahnen, welche Folgen dieses kurze Telefonat für mein weiteres Dasein haben würde. Noch konnte ich nicht ahnen, dass man schon bald über mich sprechen würde. Dass man mich schon bald fürchten würde.

  • VIII

    Q. schaute despektierlich die Umschlaghülle des Buches an, das sie gerade gelesen hatte. Das war zwar in einzelnen Teilen ihre eigene Biographie, jedoch vemengt mit widerlichen Mordphantasien und Szenen eines schlechten Films, in dem sie nun wirklich nicht mitspielen wollte.
    Nur der Schluß, ja, der Schluß war (leider) wirklich wahr.........Österreich, pah, nie wieder würde sie dieses Land unbefangen bereisen können...

    Wer war der unfähige Autor, der diese krude Mischung aus Fiktion und Tatsachen zusammengeschrieben oder besser gesagt, zusammengeschmiert hatte ?
    So kann, so darf der Text keinesfalls veröffentlicht werden !

    Wütend warf Q. das Buch in den nächsterreichbaren Papierkorb und stob durch die Tür ihres Verlegers R., um sich vehement über die Schlampereien zu beschweren.
    Die Türscheiben klirrten noch, als Q. sich mit hochrotem Kopf und drohenden Gebärden vor dem Schreibtisch von R. aufbaute.
    Doch der lachte nur und gab Q. mit den Worten, auch Du bist wie alle anderen darauf reingefallen, ein neues Buch in die Hand.
    Beruhige dich, sagte R., wir führen die Hauptpersonen unserer Biographien vor der Veröffentlichung gerne ein bißchen an der Nase herum.
    Hier ist das richtige Exemplar; lies es und Du wirst beruhigt sein.
    Bevor Q. noch etwas entgegnen konnte, war R. grinsend durch die Tür in sein neues Forum entschwunden.

    Im ersten Gedanken wollte Q. das Buch R. hinterherwerfen, besann sich dann aber doch und begann zu lesen:

    Lange Zeit bin ich früh aufgestanden, um die Sonne durch den Morgennebel in der malerischen südwestenglischen Landschaft brechen zu sehen. Dazu blätterte und las ich in den Romanen von R. P., die mir schon lange Zeit ans Herz gewachsen waren.
    Immer wieder hatte ich dabei den gleichen Traum. Was wäre, wenn ein Held dieser Romane auf einem weißen Pferd durch die letzten Nebelschwaden des Morgens auf mich zugeritten käme, mich inniglich küsste und liebte und mich dadurch zur Feenkönigin des Morgens machen würde.....

  • IX

    Q. hielt inne, legte das Buch beiseite, um sich einen 'Sex on the Beach' zu mischen. "Mann, Mann, Mann, da war doch die and're Version meiner Biografie spannender...", dachte sie, und fügte einen 'Schluck Vichy' 'On the Rocks' zum 'Sex'. "Wenn doch alles nur so einfach meinem Geschmack angepaßt werden könnte... Zum 'Kuckuck' aber auch!"

    Wo war bloß dieser vermaledeite Professor?

    Sollte sie etwa zum Telefon greifen und R. bei MRR anschwärzen?

    Diese Version ihrer Biografie war ja bei Weitem noch abscheulicher als die erste! Auch wenn Sie noch nie in einem Buch von R.P. auch nur geblättert hatte, so war ihr doch bewußt, daß zwischen Drehbüchern für Filme von Q.T. und den 'Romanen' von R.P. ein himmelweiter Unterschied bestand. Es fiel Ihr schwer das zuzugeben, dennoch mußte sie ich eingestehen:

    Lieber ein Film von Q.T.,
    als ein Buch von R.P.!

    Aber war das Alles?

    Q. erhob sich von Ihrem nordöstlichen Diwan und schlenderte, in Gedanken versunken, 'auf der Suche nach der verlorenen Zeit' durch die virtuellen Welten von Richard Wagner's Weltenepos. Wenn doch nur ein Ritter auf dem Schwane käme...? Wenn doch nur der Gral seine Gnade über sie ergiessen würde...? Wenn sie es doch nur aus dem Venusberg heraus geschafft hätte...? Wenn sie doch nur die Tarnkappe den Nibelungen hätte entreissen können...?

    Der Ring! Wo war der Ring?

    Q. stieß mit ihrem Kopf an die noch geschlossene Küchentüre. "Das hat man nun davon, wenn man lange Zeit früh aufgestanden ist. Verwirrung? Demenz? Kommen die etwa schneller, wenn man sich in seinem Leben weniger Schlaf erlaubt hat?"

    Q. dachte nach. Was wollte sie hier gerade noch in der Küche?

    Ach ja, einen Kaffee. Nächtelang ohne Schlaf, da braucht man einfach einen starken Kaffee, wenn die Sonne sich langsam über den Horizont erhebt. Sie griff zur Türklinke, öffnete die Küchentür, zog die Vorhänge auf, und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Diese morgendliche Routine half ihr dabei, sich über die wilden Träume und Phantasien ihrer Umwelt und ihrer Tagträume und deren Auswirkung auf sie selbst bewußt zu werden und etwas Abstand davon zu gewinnen. Sie holte die Tiefkühlbrötchen aus dem Gefrierschrank und legte sie in die Mikrowelle. Von irgendetwas mußten sie ja leben. Aber auch die Familie verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit. All diese langweilige tägliche morgendliche Routine erschien ihr leichter zu ertragen, als weiter in der neuen Version ihrer Biografie lesen zu müssen.

    Wenn doch nur?

    Ja, wenn doch nur der erste Satz ihrer Biografie gelautet hätte:

    "Chapter One: She was as tough and romantic as the city she loved. Behind her black rimmed glasses was the coiled sexual power of a jungle cat... New York was her town. And it always would be!"

    Aber R.P.? Oder "der Kaiser"? Und wer war übrigens "Hans Niederstadt"? Und was, bitte schön, ist "Schlaf?"

    Sie schob die Erinnerung an einen ihrer Lieblingsfilme und die unterschiedlichen Versionen ihrer Biografie beiseite, um Platz für das Geschirr auf dem Eßtisch zu machen.

    "Wie komme ich bloß von R. nach NY? Und das noch über Wagner und Woody Allen?"

    Sie stellte die Orangenmarmelade neben den Honig.

    "Lange Zeit bin ich früh aufgestanden..."

    ...doch heute schaff ich es überhaupt nicht mehr ins Bett. Wie soll das nur weitergehen?

    Q. faßte sich an den drückenden Kopf, der von all dem Qualm in der blauen Mitternachts-Spelunken - Raucherecke...

    "Qualm? Mist, hab ich doch die Brötchen vergessen. Nun muß ich extra neue aus dem Gefrierfach holen, und nochmals von Vorne anfangen! Wo ist bloß mein Kopf...?"

    Q. holte also weitere Tiefkühlbrötchen aus dem Gefierschrank und legte sie erneut in die Mikrowelle. Diesmal stellte sie die Eieruhr, damit die Brötchen nicht wieder verbrannten. Es ist schon ein Leid, wenn all diese technischen Errungenschaften so langsam Ihren Geist aufgeben.

    "Alles konnte Q. ertragen,
    Ohne nur ein Wort zu sagen;
    Aber, wenn sie dies erfuhr,
    Ging's ihr wider die Natur."

    Ja, Wilhelm Busch, das waren noch Zeiten, als sie ihn unter der Bettdecke gelesen hatte.

    Aber was waren das noch für Dinge, die ihr da vorhin immer mal wieder blitzartig durch den Kopf geschossen waren?

    Der Professor?
    Der Ring?

    "Zu lange Zeit bin ich früh aufgestanden, jetzt wird es Zeit für etwas anderes." Mit diesen Gedanken stellte Q. die Brötchen und den Kaffee zu den anderen Dingen auf den Eßtisch und ging zurück zu ihrem Diwan...

    "Bei Bachs Musik ist uns zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf." (Friedrich Nietzsche)
    "Heutzutage gilt es schon als Musik, wenn jemand über einem Rhythmus hustet." (Wynton Marsalis)
    "Kennen Sie lustige Musik? Ich nicht." (Franz Schubert)
    "Eine Theateraufführung sollte so intensiv und aufregend sein wie ein Stierkampf." (Calixto Bieito)

  • Abschnitt 10

    Der Pfarrer eilte die Strasse hinunter. Auch wenn er schon etwas spät dran war, würde er die Johannes-Kirche in der Nachbargemeinde noch pünktlich erreichen können. Einmal in der Woche lud der dortige KMD zu einer Soiree ein. Jeden Mittwoch spielte der engagierte Kirchenmusiker ab 17.00 Uhr eine Dreiviertelstunde lang Orgelstücke für ein kleines, aber interessiertes Publikum.

    Der Pfarrer mochte diesen „Jour fixe“ und in der letzten Zeit hatte ihm besonders ein moderneres Programm mit Werken von Louis Vierne und Olivier Messiaen gefallen, Musik, die in seiner eigenen Gemeinde noch nie zum Einsatz kam.

    Überhaupt bedauerte der Pfarrer, dass die Musik in seiner Kirche keine grosse Rolle spielte. Er verfügte selbst über einen schön klingenden Bariton, aber die wenigen Schäfchen seiner Gemeinde, die regelmässig zum Sonntagsgottesdienst kamen, schafften es selten, im selben Tempo, wie der Organist sie spielte, die Choräle zu singen und selbst einfache Melodien schienen sich nicht dem Gedächtnis der Gemeindemitglieder einzuprägen.

    Wenn der Pfarrer ehrlich ist, hätte er nichts dagegen gehabt, wenn Frau Berger mit ihrem scharfen Zittersopran nicht immer laut und falsch mitsingen würde, sondern ruhíg öfter mal so erkältet wäre, wie das am letzten Sonntag der Fall war. Keine sonderlich christlichen Gedanken, aber menschlich verständlich.

    Der Pfarrer liebte Musik und es tat ihm leid, dass in seiner Gemeinde keine Kantorei mehr existierte und der Kinderchor am Einschlafen war. Immerhin war der nette und musikbegeisterte Student, der aushilfsweise die Orgel am Sonntag spielte, ein angenehmer Gesprächspartner in Sachen Musik.

    Da hatte es die Johannes-Kirche besser – die schafften es sogar in der Passionszeit schon mal, die „Matthäus-Passion“ von Johann-Sebastian Bach aufzuführen…

    Gleich würde der Pfarrer an seinem Ziel ankommen. Ob diese gut aussehende und freundlich wirkende Frau wieder da sein würde? Er hatte sie schon öfter bei diesen Orgelsoireen gesehen. Neulich hatte sie eine Biografie von Telemann dabei und den schmalen Band einer Bachkantate konnte der Pfarrer auch schon ausmachen.

    Als sich vor einigen Wochen seine Blicke mit denen der Frau erstmals trafen, fühlte der Pfarrer sich ertappt. Wie ein kleiner Junge kam er sich vor, der etwas unerlaubtes tat. Trotzdem, er würde sie gerne einmal ansprechen, diese Frau…

    Der Pfarrer schob die schwere Tür die Johannes-Kirche auf und betrat den Kirchenraum.

    Der Kunst ihre Freiheit

  • Kapitel 11 A

    Et in saecula saeculorum. Amen.. Ob Einer von ihnen ahnt, was sie da singen? Ob Einer ahnt, was dieses Et in bedeutet?

    Der in dem schwarzen Umhang mit den weissen Bändern am Hals, den sie den Pfarrer nennen, hat eine schöne Stimme.
    Wenn er singt, durchströmt mich eine ferne Erinnerung.
    Ich weiss nicht an was, aber sie dringt tief in mich ein. Sie erfüllt meinen ganzen Leib mit etwas, dessen Namen ich nicht mehr kenne und ich muss um dieser Erinnerung willen immer und immer wieder hierherkommen.

    Ich bin zu dem Et in verdammt.
    Nein, er weiss es noch nicht.
    Seine Augen sind sehr hell und durchscheinend und es ist keine Trübnis in diesem Blau.Sie haben den Grund noch nicht gesehen .

    Er blickt mich schon wieder an und wendet doch seine Augen sofort ab. Wie vor einem grellen, blendenden Licht.

    Ein jeder von uns ist schrecklich. Et in saecula saeculorum .


    Rebecca.
    Seit einigen Wochen muss ich mich so nennen. ER hat mir noch nicht gesagt, welche der Leidenschaften dieser Gattung ich diesmal zu sezieren habe.

    Nein, die Ruhmsucht und die Geldgier können es nicht mehr sein.
    Die habe ich in diesen grässlichen Filmstudios, in diesem spürlosen Silikon-Leib bereits abgehakt.
    Und wie nennt man das , was ich in der englischen Colonel-Uniform auf endlosen Schlachtfeldern erforschen sollte? Heldentum? Tapferkeit?
    Ich muss meine Aufzeichnungen noch einmal durchsehen, um nichts zu verwechseln. Ich verliere langsam den Überblick.


    Wie heisst das Saeculum, in dem ich heute hier in dieser Kirche sitze ? 1989? Nein , das war das Filmstudio! Und die Schlachtfelder? Irgendwas mit 17 oder 18 davor , glaube ich.

    Nur 2009, das werde ich niemals vergessen. Das war diese grauenhafte Episode in der ich Q. genannt wurde und das kalkulierten Schlachten mit einem viel zu armseligen Menschen inszenieren musste . Blinde Mordlust und Ennui wurde das von IHM genannt.
    Danach wollte ich nicht mehr weitermachen, wollte aussteigen und endlich zurück- egal um welchen Preis-, wenn ER mir nicht hoch und heilig(ja HOCH und HEILIG, so ist ER manchmal wirklich ) versprochen hätte, dass ich danach nur noch zwei oder dreimal bis zur Erlösung.....

    Zweimal waren es nun schon .

    Zuerst das Bild, auf dem ich et in saecula saeculorum lächeln musste und ER mir nicht einmal rechtzeitig gesagt hatte, ob ich eine Frau oder ein Mann sei.

    Es spielte keine Rolle für mich, aber es hätte ihnen wahrlich manches leichter gemacht. Das war am Anfang des Saeculums das mit 15 beginnt.
    Und dann das kahle Zimmer ohne Farben, in dem ich nichts Anderes tun durfte, als im Bett zu liegen- wann war das bloss ? Und wie hiess diese Leidenschaft? Ich habe es vergessen, aber es steht in meinem Buch.geschrieben.

    Heute nacht werde ich alles noch einmal nachlesen müssen.


    Der, den sie Pfarrer nennen, sieht mich wieder an.

    Ich bin nun eine Frau und ER hat bestimmt, dass ich einen Leib habe, den sie schön nennen.

    Rebecca.

    Einer in ihren Geschichten hat zweimal 7 Jahre um Eine wie mich gedient. Nur um diesen schönen Leib zu besitzen, sagen sie.

    Was wird ER diesmal von mir fordern? Darf ich IHM glauben, dass das endlich meine grösste und letzte Aufgabe sein wird? Dass ich erlôst werden soll? Befreit aus dem erbarmungslosen Et in ?

    Dieser blaue, Blick ohne Grund fleht mich an. Wieviele Jahre würde er um mich dienen ?
    Er kann es noch nicht wissen.
    Den Leib einer Frau besitzen.

    Das hat ER in all den Saecula, in denen ich ein Mann sein musste, nicht von mir verlangt.

    Uns ist solches verboten.

    Aber bei diesem letzten Auftrag sei es mir geboten, vom Leib eines Mannes besessen zu werden. Er gebe mir Alles, was es dazu bedürfe, hat ER gesagt. Und dass ich genug gesehen und gehört haben würde , um zu wissen, dass es mich nicht vernichten werde.

    Sei ohne Sorge. Du wirst nicht ausgelöscht, wenn ein anderer Leib Deinen Leib bewohnt.

    Die Erlösung.

    Ein Blick der mich streift und eine Erinnerung weckt . Der in mich eindringt. Der mich zwingt, immer und immer wieder hierher zu kommen.

    Jemand hat eines der Kalenderblätter mit den Worten aus ihrem Buch auf meinen Platz gelegt und einen Namen darauf geschrieben. Jakob Engelbrot . Mühlengasse 14 Losung für den 20.1. 1938 „ Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir“

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Kapitel 11B

    Dass Gott doch seinen Engel sendete

    Jakob rang mit den Wörtern. Er saß am Schreibtisch, über den verstreut einige Bücher aufgeschlagen lagen und ließ seinen Blick wieder einmal suchend über die Tischfläche gehen. Dabei sah er gedankenverloren auf eine Glaskugel, in die er als Kind schon das Bild eines Engels gesteckt hatte. Wenn er in der Zunge des Engels reden könnte.

    Auf die Zunge der Menschen verstand er sich. Er war ein beliebter Prediger, sie kamen aus anderen Stadtteilen, ihn zu hören. Er wischte die aufkommende Eitelkeit weg, seiner Unsicherheit bewusst, seiner Unfähigkeit, die Worte zu finden, die das Herz berührten. Wie spreche ich einen Engel an? Schmilzt nicht die klingende Schelle, bevor sie ihn erreicht? Werde ich bestehen, wenn ich mit ihm ringe, werde ich ihn verstehen?

    Wieder richtete sich sein Blick auf die Glaskugel mit dem Engel. Er schien mit dem Flammenschwert vor dem Text zu stehen, den er aus sich herauszubringen versuchte, vor der Schlafkammer der Sätze, aus der sie sonst so leicht entwichen, rührte er mit einem Gedanken daran. Die Liebe zum Sprechen bringen … warum schob sich der Engel davor? Lieben Engel überhaupt? Er entsann sich den alten apokryphen Mären, die von den Zeiten sprachen, da die Engel mit den Menschen noch verkehrten, ja mit ihnen gemeinsam Kinder hatten. Es war, als ob aus der Erinnerung eine Melodie sickerte, Noch konnte er sie nur bruchstückhaft wahrnehmen, dann fügte sie sich ein einen wundersamen Strom, sie war vertraut und er überließ sich ihrem Fluss.

    Dass Gott doch seinen Engel sendete

    Der Geist, der Leib wird, die Liebe, die aus dem Stückwerk strahlt, der Engel, der erkannt wird – aus den Worten löste sich eine geheimnisvolle Rede, schwebte ihm fast greifbar durch sein Sinnen, er setzte sein Schreibgerät auf das Papier, das leere, das gefüllt werden wollte. Die Werke der Liebe drängten sich ihm auf, die Werke, die Liebe sichtbar machten. Nun wurden die Bilder reicher und er schrieb fort und fort.

    In den Sätzen, die nun einer nach dem anderen geschrieben wurden, brach nun wieder die Melodie auf und ein Sonnenstahl, der sich in der Glaskugel gefangen hatte, blendete ihn kurz. Mechanisch schrieb er weiter, dann hielt er ein. Die letzten Sätze, die sich durch die lange Routine des Schreibens den ersten Absätzen angefügt hatten, muteten ihn bleiern an, weniger denn tönendes Erz. Das Bewusstwerden seines Alleinseins schmerzte. Wieder sah er zu der Glaskugel hin und die Kälte in seinem Herzen schwand. Dies Kleinod, in dem das Bild des Engels stand, hatte ihn ein Leben lang begleitet. Die nur ungefähr ausgeführten Züge des Engels waren immer wieder von seiner Phantasie gefüllt worden. Manchmal hatte er jemand Bekanntes sehen wollen, dann war es wieder ein Gesicht fremdartiger Schönheit. Hin und wieder hatte er geglaubt, den Lufthauch seiner vorbeifliegenden Schwingen zu vernehmen, dann erklang eine Musik, eine unfassbare Musik, die in ihm nachklang. Dieser Klang … Engel lieben, da klingen die Zungen, da ertönt ein Gesang, und eine unsagbare Harmonie umfließt die Stimme

    Dass Gott doch seinen Engel sendete

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Jakob Engelbrot, Mühlengasse 14 .Ich läutete an der Türglocke eines imposanten Backsteinhauses und eine nicht mehr ganz junge, aschblonde Frau mit blendendweisser Schürze öffnete mir die Tür und führte mich in das Empfangszimmer des Pfarrhauses.
    Der Pfarrer sass hinter einem grossen Eichenschreibmöbel und schrieb , erhob sich aber sogleich, als ich hineintrat und führte mich zu einem taubenblau bezogenen Sessel.
    Die schweren samtenen Vorhänge waren ebenfalls in dieser Farbe gehalten und gaben den Blick in einen idyllisch verschneiten Garten mit hohen Bäumen frei.
    Ich glaube, es war nciht sehr warm in diesem Zimmer, denn man fragte mich später wiederholt, ob ich nicht fröre.

    „Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, mein Fräulein. Bitte setzen Sie sich. Ich habe Trude gebeten, uns Tee und Gebäck zu bringen.“

    Er sprach etwas schneller und etwas leiser als in der Kirche, artikulierte aber genauso sorgfältig.
    „Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?“

    „Rebecca“

    Er sah mich an. Zum ersten Mal sah er mir ohne zu zögern ins Gesicht , so als ob er in einer Aufwallung des Augenblicks alle Vorsichtsmassnahmen vergessen hätte.

    .„Rebecca?“ Er zögerte eine Weile. „Sind sie... sind Sie jüdischer Herkunft?“
    „Ich weiss es nicht“
    Seine Augen weiteten sich einen Moment, er wirkte verstört und atmete hörbar aus , aber er war es gewohnt, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen..

    „Sie wissen es nicht?“

    „Nein“


    Trude brachte eine Kanne mit schwarzem Tee und eine Schale Buttergebäck. Er goss mir ein.

    „Fräulein Rebecca, ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich bemerkt habe, dass Sie seit einigen Wochen regelmässig in meinen Gottesdienst kommen und sich besonders für Musik zu interessieren scheinen. Ich möchte zum Michaelisfest endlich wieder einmal eine richtige Kirchenmusik haben und es wäre mein inniger Wunsch, die Bach-Kantate 149 „Wir singen mit Freuden vom Sieg“ aufzuführen. Hätten Sie wohl Interesse, sich daran zu beteiligen? Kennen Sie die Kantate?“

    Seine Sprache war nun sehr lebhaft geworden.

    „Nein“


    „ Darf ich mir erlauben, Sie Ihnen vorzuspielen.? Nur meine Lieblingsarie daraus“
    Wenige Minuten spâter hörte ich eine helle, sehr hohe und etwas schrille Frauenstimme singen; „Gottes Engel weichen nie, sie sind bei mir aller Enden“

    Er summte leise mit und da war es wieder.
    Dieses hinter einem undurchsichtigen Schleier verborgene Bild, das tief in mich eindrang, das meinen Leib in Besitz nahm, das eine verlorene Melodie heraufspülte, gegen die ich mich weder wehren konnte noch wollte und dass mich viele Stunden nciht mehr loslassen würde.

    Von ferne hörte ich meinen Namen rufen. Immer lauter. „Fräulein Rebecca! Rebecca! Rebecca! .
    Ich schlug die Augen auf.

    „Entschuldigen Sie bitte, ich bin ein bisschen abwesend gewesen. Die Musik, verstehen Sie?“
    Ich versuchte zu lächeln.


    Jakob Engelbrot war aufgestanden und neben meinen Sessel getreten, so als hâtte er mich im nächsten Augenblick schütteln oder mir ein feuchtes Tuch auf die Stirn legen wollen.

    „Sind Sie sicher, dass Alles in Ordnung ist?“

    „Ja, das bin ich.“

    Er setzte sich wieder, betrachtete mich jedoch mit besorgter Aufmerksamkeit. Nachdem er noch einige Schluck aus seiner Teetasse genommen hatte, fragte er mich:

    „Wie gefällt Ihnen diese Arie, Fräulein Rebecca?“

    Statt ihm zu antworten, begann ich zu singen. Ich sang , ohne von ihm unterbrochen zu werden und ohne den Blick von ihm zu wenden. Nach wenigen Sekunden schloss er die Augen und vergrub kurze Zeit darauf sein Gesicht in den Händen. Ich sang 7 Minuten lang und als ich geendet hatte , folgte ein langes Schweigen.
    Schliesslich fragte er mit kaum hörbarer Stimme:

    "Wo haben Sie das gelernt? Sie haben gesagt, dass Sie diese Musik nciht kennen. Und doch singen Sie sie wie... wie ein Engel..“


    Nein, er kann es nicht wissen. Ich muss fort.

    Ich erhob mich. Mein Blick fiel auf ein grosses Gemälde über seinem Schreibmöbel. Es zeigte einen Mann mit einem dunklen Bart, der mit einem anderen blondgelockten Mann in einem hellen Gewand und grossen Flügeln kämpfte. Man konnte nicht erkennen, wer von Beiden der Stärkere war.Ich zeigte auf das Bild und fragte den Pfarrer:

    „Was ist das?“
    „Eine Reproduktion von Rembrandts Gemälde „Jakob ringt mit dem Engel. Das Bild zu meinem Taufspruch. "Ich lasse dich nciht, du segnest mich denn."

    Ich betrachte das Bild eine Weile.
    „Glauben Sie, dass Engel Flûgel haben?“

    Er hatte sich ebenfalls erhoben, trat neben mich und sah mir in die Augen.

    „ Darüber habe ich noch niemals nachgedacht, eine gute Frage“

    Er lächelte.


    „Ich muss fort“


    Ja, natürlich, ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten. Entschuldigen sie bitte, Fräulein Rebecca."

    Ich schwieg . Er fuhr mit raschem Sprachfluss fort:
    " Ich môchte den Organisten der Johannisgemeinde einladen, mit Ihnen zu proben. Eine Stimme wie die Ihre habe ich noch niemals gehört und ich möchte, dass sie in meiner Kirche erklingt. Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie gekommen sind. Trude wird Ihnen Ihren Mantel bringen und Sie zur Tür führen."


    Er streckte mir die Hand entgegen, die ich nicht nahm, und wollte nach Trude läuten. Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm.

    „Bitte warten Sie, ich möchte Sie um etwas bitten“
    „Alles was sie wünschen, Fräulein Rebecca „ antwortete er weich und sehr leise.
    „Ich möchte Ihnen nicht die Hand zum Abschied geben. Ich möchte Sie bitten , mich zu küssen.“
    Er trat einen Schritt zurück.
    „Sie..... Sie möchten , dass ich Sie küsse?

    „Ja, ich möchte dass Sie mich dort küssen, wo der Maler Rembrandt die Flügel des Engels gemalt hat.“

    Er antwortete nicht. Er stand starr, ich hörte nicht einmal das Geräusch seines Atems.


    Ich zog meinen Strickpullover über den Kopf.und legte ihn auf den taubenfarbenen Sessel.

    Ich hatte noch nicht viel Erfahrung mit ihrer seltsamen Art, die Körper der Frauen einzuhüllen und brauchte eine Weile, bis ich auch das Mieder abgelegt hatte.

    Er hatte sich herumgedreht und wandte mir den Rücken zu.


    „Bitte, kommen Sie zu mir , ich bin bereit.“


    Ich sah, wie der Pfarrer zur Tür ging. Er bemühte sich, kein Geräusch zu machen, aber das Knacken beim Drehen des Schlüssels im Türschloss war deutlich zu hören.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Das Weiß war das keusche Weiß von bleichen biegsamen Birkenstämmen im Frühling, warm und lebendig, und nicht wie gefallener Schnee und wie der Reif, der am Novembermorgen klebrig am Baum hängt, die Fasern fein und duftend. Sie sah jedes Mal von neuem mit anhaltender Faszination zu, wie sich das Tuch unter dem sanften Druck und der Hitze des Eisens löste und glättete, und dann würde sie es sorgfältig zusammenlegen, das Leintuch für das Bett des Herrn Pfarrer, und hinauftragen in sein Schlafzimmer, wo sie schon in aller Früh, nachdem der Herr Pfarrer zur Frühmesse gegangen war, das Bett abgezogen hatte und die Decke ungeschützt, die Matratze nackt dalag, unter den gütigen Augen der Madonna. Sie sah ein bisschen dieser Madonna ähnlich, diese junge Frau, die gerade zum Herrn Pfarrer gekommen war, eine neue Sängerin, wie er ihr begeistert erzählt hatte. Die Kirchenmusik lag ihm sehr am Herzen, dem Herrn Pfarrer, besonders Bach.

    Das Läuten riss Trude aus ihren Gedanken. Sie ging zur Tür, öffnete. Die alte Frau Bergthal wegen des Begräbnisses ihres Mannes! Sie führte sie zum Empfangszimmer - die Tür verschlossen?

    "Der Herr Pfarrer muss kurz weggegangen sein. Kommen Sie doch inzwischen in die Küche! Er muss gleich kommen. Er erwartet sie doch?"

    Zu spät fiel ihr die Bügelwäsche wieder ein. Sie rannte in den Wirtschaftsraum, sie riss das Bügeleisen vom blütenweißen Leintuch, das jetzt ein schwarz verbrannter Fleck entstellte.

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Heil gab es in diesen Tagen vor Michaelis 1938 in Deutschland wenig, wenn es auch zu einer Grußform geworden war. Ein Krieg gegen die CSR wird vorbereitet, in Polen bildet sich ein „Bund der Deutschen“, es erscheinen die Ausbürgerungslisten Nr. 64 bis 70, Juden werden von den Krankenpflegeberufen ausgeschlossen. Staatssekretär von Weizsäcker bietet Außenminister von Ribbentrop seinen Rücktritt an, Canaris arbeitet in Rom an der Verhinderung des Krieges. In Nürnberg findet der 10. Reichsparteitag der NSDAP statt, der „Parteitag Großdeutschland“. Die Proklamation des Führers verliest Gauleiter Adolf Wagner : „Ich trete vor Sie hin mit sieben neuen deutschen Gauen. Es ist Großdeutschland, das zum ersten Mal in Nürnberg in Erscheinung tritt.“ Der jüdische Weltkongreß fordert angesichts der Sudetenkrise Chamberlain und Daladier auf, „nicht zu dulden, daß das Dritte Reich seine Hand auf neue Gebiete legt, die von Juden bewohnt sind“. Eine Gruppe von 44 Wiener Juden, die per Schiff bis Rotterdam ohne Schwierigkeiten gekommen ist, wird auf Anordnung des holländischen Justizministeriums trotz gültiger Pässe nach Deutschland abgeschoben und in Düsseldorf von der Gestapo verhaftet und ins KZ eingeliefert. Bei Langen/Müller, München, erscheint das Gedichtbuch „Jeden Morgen geht die Sonne auf“ von Hermann Claudius. Das Berliner „Katholische Kirchenblatt“ wird verboten. Das Finanzgericht in Berlin verurteilt den „vaterlandslos gesinnten internationalen Defaitisten“ Georg Kaiser zu 32.000 RM Reichsfluchtsteuer.

    Heil Hitler hatte Frau Bergthal auch Trude an der Tür begrüßt. Nun saß sie ein wenig verdrossen in der Küche und wartete. Sie konnte gut heraushören, wie der Gruß zurückkam, ob kraftvoll bekennend oder matt und mechanisch. Sie hatte längst ihre eigene Liste aufgemacht, wer hinter der Sache des Führers stand und wer nicht und die Reihenfolge hatte mit der Intonation des Grußes zu tun. Trude stand im hinteren Feld, der Pfarrer noch weiter unten. Misstrauisch hatte sie im Flur einen fremden Duft wahrgenommen, etwas Orientalisches, ja Jüdisches, ein ungehöriger Duft. Wie kam der in das Pfarrershaus? Sie musterte aufmerksam die Küche nach Hinweisen. Nein, von Trude kam der nicht, das war sicher. Dass ihr Mann in diesen großen Zeiten sterben musste, nicht mehr den Reichparteitag erleben durfte, auch das unterdrückte Sudetendeutschland, das nun so machtvoll vom Führer befreit wurde. Aber es war auch eine Erlösung für ihn nach langer Krankheit, für sie nach langer Pflege. Sie sah nach vorne, Persönliches verschwand hinter dieser herrlichen Gestalt in der Reichskanzlei. Dort auf der Anrichte lag ein Zettel, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Was wohl darauf stand? Bevor sie aber den Entschluss gefasst hatte, hörte sie die energischen und schnellen Schritte Trude.

    Sie stürmte ins Zimmer, um Frau Bergthal von ihrem Missgeschick zu berichten. Gerade hatte sie sie angesprochen, als sich eine Stimme in dem Haus erhob, ein Gesang, den sie schon einmal gehört hatte, doch jetzt war er körperlicher, sinnlicher und wieder von einer himmlischen Schönheit. Das Rot stieg ihr in die Wangen, wie sollte sie das Frau Bergthal erklären? Verwirrt, beschämt und mit einer Eifersucht, die sie nicht benennen konnte, gab sie sich doch dem Hören hin.

    Gottes Engel weichen nie,
    sie sind bei mir allerenden.
    Wenn ich schlafe, wachen sie,
    wenn ich gehe,
    wenn ich stehe,
    tragen sie mich auf den Händen

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Das Knacken des Schlüssels im Türschloss dröhnte in seinen Ohren. Er hatte sich mit der jungen schönen Frau in seinem Zimmer eingesperrt, was für ein Wahnsinn! Was, wenn sie jemand gesehen hatte, wenn Trude an der Tür lauschte? Obwohl, auf Trude konnte er sich verlassen, da war er sicher, aber im Pfarrhaus gingen die Besucher ein und aus und wenn nun die alte Berger oder noch schlimmer Frau Bergthal vorbeikämen?
    Als der Pfarrer sich umdrehte, meinte er für den Bruchteil eines Momentes, einem Engel gegenüber zu stehen. Sie wird sich zu erkennen geben, hatte es geheißen. Er hielt den Atem an.
    "Beeilen Sie sich", sagte die junge Frau, die ohne ihren Pullover an seinem Schreibtisch lehnte, so als gäbe es nichts Natürlicheres. Zögernd näherte sich der Pfarrer. Was hatte sie gesagt? Küssen Sie mich dort, wo Rembrandt die Engelsflügel gemalt hat. Die Frau wandte sich um und zeigte ihren Rücken.
    Was Engelbrot nun sah, verfolgte ihn jahrelang in seine Träume. Ein Geflecht von Narben zog sich über den Rücken der Frau, wulstig, rötlich schimmernd und bläulich – eine Landkarte, dachte er, die obszöne Karte eines Landes in schlimmster Barbarei. Es gelang ihm nicht, sie zu berühren, geschweige denn zu küssen.
    Mit einem Ruck drehte sie sich um.
    "Reicht das?"
    Engelbrot nickte. "Wer?" wollte er fragen und "Warum?". Aber wusste er es nicht bereits?
    Mit schnellen, geschickten Handgriffen knüpfte sie eine kleine Tasche auf, die in ihrem Mieder verborgen war und entnahm ihr einen Umschlag.
    "Kirche und Pfarrhaus scheinen sicher zu sein", sagte die Frau, "aber wir brauchen ein anderes Versteck, verstehen Sie? Etwas, das nicht so exponiert liegt."
    Der Pfarrer nickte wieder. Wieso gelang es ihm nicht, dieser Frau in die Augen zu sehen? War es ihr Rücken? War es ihr Gesang?
    "Ich kann in der Nähe einen Unterschlupf organisieren," stammelte er mehr als dass er es sagte, "wie viele sind es?"
    "Zwei Erwachsene und zwei Kinder, Zwillinge. Sie bleiben, bis wir Schiffskarten und Pässe besorgt haben, mit der Überfahrt sollte es dann spätestens in zwei, drei Monaten klappen, auf jeden Fall noch in diesem Jahr."
    Der Sommer ist vorbei, dachte der Pfarrer, es hat sogar zu Michaelis geschneit, da wird es schwer werden, die vier Menschen durchzubringen.
    Zu der Frau sagte er: "Ihr Name ist Rebecca? Finden Sie das nicht etwas unvorsichtig? Sie sollten sich unauffälliger nennen."
    Sie lächelt ihn an.
    "Seien Sie unbesorgt, mir wird nichts geschehen."
    Sie zog ihr Mieder über. Der Pfarrer verstand, dass es ihr nur damit möglich war, die Schmerzen ihres malträtierten Rückens zu ertragen.
    "Aber, wenn Sie entdeckt werden oder verraten."
    Eine unerklärliche Angst um diese Frau ergriff sein Herz. Sie war den Schergen doch schon einmal in die Hände gefallen.
    "Dann werde ich mich wieder verwandeln", sagte sie und ihm schien es, als mache sie sich über ihn lustig.
    "Sobald Sie das Versteck bereitet haben, lassen Sie den Organisten das Lied «Du bist ein Mensch, das weißt Du wohl» im Abendgottesdienst spielen. In der nämlichen Nacht kommen Sie zum stillgelegten Güterbahnhof, dort werden Ihnen Ihre Schäfchen übergeben."
    Sie stand bereits an der Tür. Der Blick, mit dem sie ihn jetzt ansah. Direkt in die Augen und noch weiter, weiter hinein - wie tief hinab kann man da fallen, wohin gelangt so ein Blick, was fängt ihn auf?
    "Wie spreche ich einen Engel an" – Es war noch keine Stunde vergangen, seit der Pfarrer darüber nachgedacht hatte, aber das waren theoretische Gedanken gewesen, die sich, wie lächerlich ihm das nun vorkam, an den Engel in der Glaskugel und an das Gemälde an seiner Wand gerichtet hatten. Was sollte er nun zu dieser Frau sagen, wie sollte er ihr zeigen, dass er sie erkannt hatte? Auch vor diesem Wort schrak er sofort zurück. "O Wort, du Wort, das mir fehlt!", hallte es in seinem Kopf.
    Mit halb spöttischem, halb amüsiertem Blick beobachtete Rebecca Engelbrot eine Weile, dann händigte sie ihm den Umschlag aus.
    "Hier ist das Geld. Auf Wiedersehen, Genosse Pfarrer."
    Die Tür fiel ins Schloss.

    One word is sufficient. But if one cannot find it?

    Virginia Woolf, Jacob's Room

  • `Dumme Gans!´, dachte Frau Bergthal: `Hört ihren Pfarrer mit dieser verdächtig orientalisch riechenden Weibsperson singen und errötet wie ein Backfisch. Ja, ihre Nase trog sie nie und ihr Blick war auch noch klar.´ Doch der Gesang verklang schnell. Beide Frauen lauschten in die Stille, bis sie beide der Neugier der anderen gewahr wurden. "Nicht gerade erhebend, dieser Gesang vorhin - und das in diesen großen Stunden für Deutschland!", unterbrach Frau Bergthal die angespannte Stille. Trude wußte darauf nichts zu sagen. Sie wollte gerade Frau Bergthal einen Kaffee anbieten, um sich in gewohnte Beschäftigkeit zu flüchten als das Schellen des Telephonapparats, den sie erst neulich bekommen hatten, sie aus ihrer Verlegenheit rettete.

    Frau Bergthal hörte Trude mit einer männlichen Stimme am Telefon scherzen. Sie ärgerte sich: Hatte man sie, eine deutsche Frau, deren Mann erst gerade verstorben war, hier einfach in der Küche abgestellt und vergessen. `Immer waren sie zu dieser Kirche gegangen, aber nein, ihren Mann würde sie wohl von Bischof Müller von der Domkirche beerdigen lassen´, entschloß sie sich. `Aber vorher würde sie doch mit diesem Pfarrer Engelbrot reden´, siegte ihre Neugier. `Diese dumme Ganz scherzt immer noch am Apparat´, dachte sie verärgert, als ihr der Zettel wieder in den Blick kam. Schnell steckte sie ihn ein. Endlich hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Diese Weibsperson hatte also schließlich doch noch den Pfarrer verlassen. Sie würde nicht mehr länger warten und gleich zum Pfarrer eintreten. Wer war sie denn, dass man sie hier einfach in der Küche abzustellen beliebte, während diese dumme Ganz immer noch am Telefon ihre Scherze trieb und wer weiss, was der Pfarrer bis eben mit dieser Weibsperson getrieben hatte.

    Jakob hatte sich auf den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen lassen. "Rebecca", hörte er sich selbst ihren Namen aussprechen. Wie hatte sie ihn beim Abschied genannt: Genosse? Genosse Pfarrer? Ihn? Sicherlich, gut möglich, dass sie wußte, dass er bei Karl Barth studiert hatte. Aber er war seinem Lehrer nie zu den "Religiösen Sozialisten" gefolgt. Ganz im Gegenteil. Er hatte sich doch gerade der "Bekennenden Kirche" angeschlossen, weil die Politisierung des Glaubens seiner Überzeugung widersprach. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Womöglich waren diese Leute Bolschewisten. Wieso konnte er dieser merkwürdigen jungen Frau nichts abschlagen? Erst die Levinsons heute morgen und dann ....Rebecca. Ja, eigentlich hatte alles damit angefangen, dass die Levinsons ihn baten, ihren Engel für sie in Verwahrung zu nehmen. Ein schönes Stück. Süddeutsche Holzschnitzarbeit eines anonymen Meisters aus dem 16. Jahrhundert. Die Levinsons hatten endlich ihr Visum für Amerika bekommen und durften ihn nicht mitnehmen. Die Ausfuhr von Kunstgegenständen war Juden verboten worden, hatten sie ihm erklärt. Erst dieser Engel, den er so oft in Dr. Levinsons Praxis bewundert hatte, dann dieses engelhaft schöne Wesen .... Rebecca. Wo sollte er Levinsons Engel abholen? Wo hatte er bloß den Zettel liegen gelassen?

    Der Pfarrer holte die Flasche Cognac aus dem untersten Fach seines Schreibtisches. Er hatte sich gerade einen ordentlichen Schluck genehmigt, als Frau Bergthal ohne zu Klopfen eintrat. "Heil Hitler, Herr Pfarrer! Ich wollte sie aufsuchen, wenn sie auch einmal für eine deutsche Frau Zeit haben, wegen..", da folgte ihr auch schon Trude nach: "Der Bischof Müller am Apparat!" "Grüß Gott, Frau Bergthal! Mein herzliches Beileid, aber entschuldigen sie für einen Moment bitte!"

    "Heil Hitler, Jakob! Mensch Jakob, ich kann ja verstehen, dass dir als "Bekenner" das mit den Ariernachweisen nicht so liegt, aber ich hab schon Anfragen bekommen, weil sich alles bei dir staut. Um unserer alten Kameradschaft willen, habe ich gedacht, ich mach es dir leichter und nehm dir das Ganze ab. Hab´ gerade den jungen Vikar Niederstadt zu Dir losgeschickt, die ganzen alten Kirchenbücher abzuhohlen. Dann können wir die ganzen Anfragen wegen Ariernachweisen bei uns erledigen und der gute Jakob ist fein raus. Was? Ich weiß, dass dir der Niederstadt gegen den Strich geht als Vikar in seiner SS-Uniform. Mensch, Jakob! Der Junge ist Idealist! Wie wir damals beim Freichor Oberländer! Du, als alter Kamerad must doch zugeben, dass die Roten jetzt endlich endgültig ausgespielt haben. Und die Systemparteien gleich mit. Man muß mit der Zeit gehen! Ach, - und noch was, Jakob. Du standest doch immer gut mit dem Levinson. Was , alter Frontkämpfer, der? Der hat es sich doch in seinem Lazarett gemütlich gemacht...Ja, ja, schon gut. Ich sag ja, du standest mit dem Levinson immer gut. Du weißt doch, der hatte diesen Engel, gute deutsche Holzschnitzarbeit. Du weißt ja, wie ich denke: Wird Zeit das dieses deutsche Meisterwerk wieder in deutsche Hände kommt. Kann er doch sowieso nicht mitnehmen. Kannst du ihn nicht `mal `drauf anhauen? Ich krieg den Engel und du kannst deine Bekenner-Eskapaden bei dir in der Kirche weiterlaufen lassen. Solange es beim Beten bleibt, kriege ich das schon irgendwie gedeckt. Mensch, Jakob, um der alten Kameradschaft willen!"

  • Kameradschaft. Ein reichlich strapaziertes Wort befand Jakob. Wie so viele Wörter wurde es in letzter Zeit durch den Fleischwolf nationaler Propaganda gedreht und am Ende stand stets die gleiche Essenz: blinde Gefolgschaft und hohle Empathie. Jakob wusste: die Menschen sündigten gegen Gottes erstes Gebot. Sie scharrten sich erneut um einen Götzen - dieses mal einen armen Irren aus österreichischen Landen - und lauschten jedem seiner Worte mit einer Hingabe und Achtsamkeit, die sich Jakob so sehr für seine eigenen Predigten wünschte. Lange Zeit, ja! lange Zeit war er früh aufgestanden, den bettflüchtigen Alten Gottes frohe Botschaft zu verkünden. Nun versammelten sich Gottes Kinder und lauschten dem Evangelium des Teufels.

    Jakob gefiel sein Vergleich, bekräftige es ihn in seiner Wut über Abtrünnigkeit. Abend für Abend stand er vor dem Pfarrhaus und richtete seinen Blick gen Himmel. Was er dort sah, war die Stigmatisierung durch Gottes Hand: die Sterne, die das Firmanent erleuchteten und die ihm so sehr Heil vor der Fratzenhaftigkeit der bei Tage ersichtlichen Sterne boten, verwiesen die Menschen auf den ihnen gebührenden Platz. Sie trennten Himmel und Erde, boten Orientierung und liessen dennoch keinen Zweifel an der Unendlichkeit des Reiches Gottes und der Machtlosigkeit des Menschen. Der Turmbau zu Babel hat erneut begonnen, doch Du, o Herr, wirst sie in ihre Schranken weisen.
    Er hoffte - hoffte auf ein Ende all dessen und volle Kirchen sittsamer, frommer Menschen.

    Jakob überlegte. War es nicht anmassend, so über all diese Menschen zu denken? Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass die Sache an sich ihn weniger bewegte, als die blosse Tatsache, dass sie gegen Gottes Gebote verstoss.
    Gegen das Leid vieler erhob er nicht die Stimme, von lauthalsem Protest ganz zu schweigen. Ein einziger Mensch nahm von seinen Gedanken und Gefühlen Besitz - eine Frau dazu.
    Aber war er nicht deswegen Priester geworden, weil er aus Gutmenschentum weder zur Hingabe an eine Frau noch zu einem Protest, ja zu einem Kampf je fähig gewesen wäre?

    Vom "langen Atem der Weisheit" und "nobler Zurückhaltung" hatte der Bischof gesprochen. Die Kirche habe so einige Krisen überstanden, sie werde auch sicher diese überstehen - wenn sie an einem Strang ziehe und sich nicht in ihre Angelegenheiten reden lässt. Welch Hohn! Ein selbstgefälliger im Ritual verhafteter Haufen alter Herrschaften mit albern feierlichen Gewändern - aus lauter Hilflosigkeit vor prall gefüllten Bäuchen einem auf den Rücken liegenden Käfer gleich schlossen sie den Pakt mit dem Teufel. Doch durfte er, ausgerechnet er, der den Bund zu Gott schwur und der nun einer Frau in der Gestalt eines Engels (oder doch andersherum?) verfiel, so denken? War er nicht ein Lügner vor dem Herren?? Pfarrer Jakob, ein Lügner?

    Das Klingeln des falschen Apologeten schreckte ihn jäh aus seinen Gedanken. Eine glückliche Fügung, dass Niederstadts Besuch von kurzer Dauer war - von der Abtrünnigkeit und der Gotteslästerlichkeit seines Gegenübers versuchte Jakob diesen erst gar nicht zu überzeugen wozu in alles in der Welt auch? - ein Besuch, der mit einer flüchtigen Umarmung und einem Beschluss Jakobs sein Ende fand:
    Rebecca.

    Trude geleitete den Vikar nach draussen und entsorgte das Stück verbrannte Erde.


    Die Freunde, die sich hier trafen und umarmten, sind fort, Jeder zu seinen eigenen Fehlern. (W.H. Auden)

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Er hatte den Vorbehalt bemerkt. Das Zögern, das Taktieren – und die Erleichterung des Pfarrers, als er die Kirchenbücher in seine schwarze Ledertasche schob und den Raum verließ. Das Pfarrerlein wollte ihn narren? Ihn?
    Niederstadt stellte sich im Flur des Pfarrhauses vor den Spiegel. Die schwarze Uniform, die schwarzen Stiefel, die silbernen Runen am Kragenspiegel. Diese Frau Bergthal wusste kaum, wo sie den Blick hinwenden sollte – „ja, guck mich ruhig an“, dachte er. Wohlgefällig betrachtete er sein Spiegelbild, als er die schwarze Schirmmütze über seinen gescheitelten Schopf zog. Er spürte die Spannung, die er in diesem Haus verbreitete, er sog sie mit seinem ganzen Körper auf. Die kaum verhohlene Angst im Auge dieser Trude, die Erleichterung von Pfarrer Engelbrot ließen keinen Zweifel: Da war doch was. Der Bischof hatte Recht gehabt. Hier lief irgendetwas sehr, sehr falsch. Ein Glück, dass sie ihn geschickt hatten, sich um diese Angelegenheit zu kümmern.

    Das kleine Geheimnis des Gottesmanns stand wie eine Person im Raum. Und genau darum ging es. Rebecca. Wo war Rebecca?

    Vor dem Pfarrhaus hielt Niederstadt inne. Er betrachtete die Eiche, deren Blätter vom Wind sacht bewegt wurden, irgendwo schrie ein Säugling nach seiner Mutter, ein Huhn gackerte, ein Mädchen und ein Junge jagten auf ihren Rädern an ihm vorbei, in der Ferne rumpelte ein Lastwagen. Und mittendrin er, wie aus der Zeit gefallen. Er wusste, dass er nur warten müsste, das Richtige würde schon von ganz allein passieren. Der Säugling schrie immer noch. Es berührte ihn nicht. Er wartete.

    „Entschuldigen Sie, Herr Obersturmführer...“ Diese Bergthal, er hätte es sich denken können. „Ja?“ „Ich muss Ihnen da unbedingt etwas erzählen“, sie blickte sich um, „haben Sie vielleicht Zeit, mit in mein Haus zu kommen, ich möchte das ungern hier so auf der Straße...“ „Aber natürlich. Sehr gern.“ Niederstadt lächelte. Er sah aus wie ein Haifisch.

    Jein (Fettes Brot, 1996)

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