Anna Netrebko - die viel Gescholtene
Ich habe zu meiner Überraschung festgestellt, daß Anna Netrebko hier noch keinen eigenes Thema hat, da sie (egal was man nun von ihr hält) in den letzten Jahren aber doch einigermaßen präsent war, habe ich beschlossen ihr einen Thread zu spendieren.
Da ich die Erfahrung gemacht habe, daß die Wogen beim Thema „Anna Netrebko“ schnell mal hochschlagen, bitte ich, folgendes als rein subjektive Ansicht zu betrachten.
Ein paar besonders subjektive Ansichten zu Beginn:
1. Anna Netrebko hat eine wunderschöne Stimme
2. Anna Netrebko ist eine begabte Darstellerin
3. Anna Netrebko ist eine solide, zuverlässige Sängerin, die nur selten einen Auftritt absagt und wenn sie singt nahezu immer gut bei Stimme ist.
4. Anna Netrebko ist eine schöne Frau, der man ihre Rollen optisch glaubt.
5. Das alles zusammen ist schon sehr viel, und mehr, als man von manchen Kollegen/Kolleginnen sagen kann.
6. Anna Netrebko wird überschätzt
7. Das ist nicht ihre Schuld
8. Anna Netrebko ist keine Belcantistin.
9. Anna Netrebko ist eine gute, aber keine außergewöhnliche Sängerin.
Ich habe sie zum erstenmal in der Salzburger Traviata gesehen und gehört, und war, wie an anderer Stelle nachzulesen ist, von der Aufführung begeistert. Zum Geburtstag habe ich dann den CD-Mitschnitt bekommen und festgestellt, daß sie mich beim bloßen hören lange nicht so fesselt wie beim optischen UND akustischen Erlebnis, und ich denke, das liegt daran, daß Netrebko die Gefühle die sie transportieren will DARSTELLEN muß, wo eine Kollegin wie Natalie Dessay oder gar Maria Callas „nur“ singen müssen um einen weit intensiveren Eindruck zu hinterlassen (und beide waren/sind darüber hinaus bekanntermaßen ebenfalls großartige Darstellerinnen).
Besonders aufgefallen ist mir das, als ich die Liveübertragung der „Lucia di Lammermoor“ gesehen habe, die Netrebko an der Seite von Piotr Beczala in der MET gesungen hat.
Mein erster Gedanke als sie auf der Bühne den Mund aufgetan hat war „Großer Gott, was für eine schöne Stimme“, denn ich mag ihren dunkel strahlenden Sopran wirklich sehr, und finde, daß sie sich (was die reine Stimmschönheit angeht) nach ihrer Schwangerschaft noch enorm gesteigert hat.
Mein zweiter Gedanke war ein ketzerisches „Kein Wunder, daß es soviel „provokative“ Stimmgesundheit dem armen Villazón mit seinen Problemen die Stimme verschlägt.“ Mein dritter Gedanke: „Eine Lucia ist sie nicht“.
Für mich, und die Experten dürfen mich gerne korrigieren, ist eine Belcantistin vor allem eine Sängerin, die in der Lage ist, ein Charakterportrait nur mit ihrer Stimme zu malen, das sollte zwar auf jeden großen Sänger zutreffen, aber aus irgendeinem Grund ist mir das im Belcanto besonders wichtig. Daß Netrebko mit ihrem doch etwas erdenschweren Sopran die Koloraturen der Wahnsinns-Szene gerade mal gemeistert hat, hat mich weit weniger gestört, als die Tatsache, daß ich ihr das traumatisierte, psychisch labile junge Mädchen nicht eine Sekunde lang abgenommen habe. Man muß das von der ersten Sekunde an in der Stimme hören, nicht erst in der Wahnsinns-Szene, denn Lucias Wahnsinn ist das Ende, nicht der Beginn eines langen Leidensweges. diese Frai stammt aus einer gewaltätigen Familie, liebt einen gewaltätigen Mann, ist umgeben von Männern, die über sie bestimmen, wird von seltsamen Träumen gepeinigt, hat gerade ihre Mutter verloren und außer Edgardo niemanden, der sie liebt. Selbst wenn die Sache gut ausgegangen wäre, hätte Edgardo sehr behutsam und liebevoll mt ihr umgehen müssen, um sie ihre düstere Jugend vergessen zu lassen. All das muß man bereits bei der ersten Arie in der Stimme hören.Für mich war diese Aufführung ein Schwelgen in einer wunderschönen Stimme (und das kann ja auch mal ganz schön sein), ein menschliches Drama war es zu keiner Sekunde.
Zumindest solange nicht, wie ich die Augen geschlossen hatte, wenn ich wieder auf die Leinwand geschaut habe, hat sie mich durchaus gerührt, da sie nunmal spielen kann. Aber das muß sie auch, denn zusammen mit ihrem schönen Timbre ist es alles, was sie hat.
Dessay dagegen könnte mit Armen und Beinen im Gips und im Rollstuhl singen (falls man damit singen kann) und wäre immer noch wesentlich glaubhafter, da sie alles mit der Stimme macht, was Anna spielen muß. Wie gesagt: daß Dessay zusätzlich auch noch spielen kann (und wie!) ist das unfassbare Tüpfelchen auf dem I.
Wirklich gut gefallen hat Netrebko mir als Adina im Wiener Liebestrank, was die rein musikalische Seite angeht, bevorzuge ich zwar auch hier eine Sopranistin wie zum Beispiel Maria Bayo, aber sie hat die kokette, eitle Adina so hinreißend gespielt, und ihre männlichen Partner so wunderbar um den Finger gewickelt, daß ich das für dieses eine mal gerne vergesse. Ihr Adina werde ich immer lieben. Was ihren Erfolg in La Traviata angeht so denke ich, daß sie viel der grandiosen Inszenierung und der überaus klugen Personenregie von Willie Decker sowie ihren Bühnenpartnern zu verdanken hat. Es war einer der seltenen Momente, wo einfach alles zusammengepasst hat, in einer „herkömmlichen“ Inszenierung ist sie vermutlich eine gute, solide Violetta, aber keine herzzerreißende Kamliendame wie Teresa Stratas (und das trotz stimmlicher Probleme), Maria Callas oder Rosa Ponselle.
Ich habe den Eindruck, daß Netrebko diese Rollen zwar singen „kann“, da sie nunmal ausgebildete Sängerin ist, daß sie aber den (vor allem seelisch) zerbrechlichen, zwischen Lebensgier und Todessehnsucht hin und hergerissenen Figuren wie Violetta oder Lucia nicht wirklich gewachsen ist.
Ich würde sie, wenn die Zeit dafür gekommen ist, gerne einmal als Desdemona, Troubadour-Leonore, Don Carlos-Elisabetta oder Giulietta erleben, und hoffe, daß es eines Tages dazu kommt.
So, das war mein Senf zu der schönen Russin.