John Coltrane - Der spirituelle Avantgardist
Da mir John Coltrane seit Anbeginn meiner Jazz-Begeisterung einer der liebsten Musiker geworden und geblieben ist und ich ihn darüber hinaus für einen der größten Jazzer des letzten Jahrhunderts halte, möchte ich einen Thread über sein Leben seine wichtigsten Aufnahmen hier wieder aufleben lassen.
Kurz zum Leben des Saxophonisten:
John Coltrane wird 1926 in North Carolina geboren.
Mit zwölf lernt er Klarinette, ab 1943 studiert er in Philadelphia eben dieses Instrument und Altsaxophon.
Mit 19 hat er die ersten Jobs in Tanzbands, in der Navy und direkt nach dem Krieg dann erstmals professionelle Anstellungen bei Joe Webb und Eddie "Cleanhead" Vinson.
1949 nimmt ihn Dizzy Gillespie in seine Band, 1952 Earl Bostic und 1954 Johnny Hodges. Die Jazzwelt wird langsam aufmerksam auf die neue, markante Saxophonstimme, nun nahezu ausschließlicham Tenor- und Sopransaxophon.
1955 schließlich nimmt ihn Miles Davis in sein Quintett auf, das zu einem der legendärsten der Jazzgeschichte werden soll, und (teilweise erweitert zum Sextett) für Aufnahmen wie "Round about Midnight" und "Kind of Blue" verantwortlich zeichnet.
1957 erscheint die erste Schallplatte unter eigenem Namen.
1959 wechselt er von der Firma Prestige zu Atlantic. Das Album "Giant Steps" erregt enormes Aufsehen und ist bis heute ein Meilenstein in Coltranes Schaffen. Ein Jahr später entsteht mit "My Favorite Things" eines der erfolgreichsten Jazz-Alben aller Zeiten.
1961 verlässt Coltrane Miles Davis. Er ist mittlerweile aus eigenen Kräften von seiner Heroin- und Alkoholsucht befreit und hat zu tiefer Religiosität und Spiritualität gefunden, die sein späteres Schaffen durchaus prägen sollte. Er wechselt abermals die Plattenfirma, diesmal zu Impulse, die bis zu seinem Ende seine musikalische Heimat bleiben sollte. Er bildet sein eigenes "klassisches" Quartett mit McCoy Tyner am Klavier, Elvin Jones am Schlagzeug und Jimmy Garrison am Bass. Dieses Quartett wird zu einem der prägendsten und lang bestehendsten des Jazz. Es folgen diverse Studio- und Live-Alben, Tourneen durch Amerika, Europa und Japan. Sein modaler Jazz, geprägt unter anderem auch durch afrikanische, indische und spanische Einflüsse, geht spätestens ab 1965 mit dem Album "Ascension" fließend in den Free Jazz über. Er nimmt mit Pharoah Sanders einen zweiten, jungen Saxophinisten in die Band, dafür verlassen diese zunächst McCoy Tyner, später auch Elvin Jones, da sie ihrem Mentor künstlerisch nicht mehr folgen können und wollen. Ersetzt werden sie durch Coltranes Ehefrau Alice und Rashied Ali. Diese Gruppe tourt noch einmal triumphal durch Japan, spielt gar an einem Abend vor 40.000 Menschen.
Im März 1967 entsteht mit "Expression" die letzte Aufnahme, im Juli stirbt John Coltrane an einem Leberleiden, den Spätfolgen seiner früheren Süchte.
Bei den folgenden Platten-Aufnahmen beschränke ich mich auf diejenigen, die ich für außerordentlich halte sowie selbst besitze und kenne. Es sollte gerne von anderen ergänzt werden...
Natürlich gibt es bereits Aufnahmen Coltranes als Sideman ab 1949, unter anderem bei Dizzy Gillespie oder Earl Bostic. Ich beginne aber mit einigen exemplarischen Aufnahmen mit dem Miles Davis Quintett. 1955/56 entstand Round About Midnight. Im Titelstück, komponiert von Thelonious Monk und als die wohl berühmteste Jazz-Ballade aller Zeiten geltend, deutet Coltrane mit seinem drängenden Ton, der in wunderbarem Kontrast zu Davis' cooler, gedämpfter Trompete steht, sein Potential mehr als an. Die vier Platten Relaxin', Cookin', Steamin' und Workin' - alle bei der selben Aufnahmesitzung 1956 eingespielt - etablieren das Quintett in der absoluten Spitzengruppe. Miles dominiert diese Aufnahmen zwar, etabliert Coltrane aber endgültig als neuen Stern am Saxophonhimmel, an dem er nun munter auf Augenhöhe neben dem Platzhirsch Sonny Rollins musizieren sollte! Nachdem Coltrane nach einer Unterbrechung bei Miles Davis wieder eingestiegen war, entstand 1959 Kind of Blue, jenes legendäre Album mit dem spektakulären Bläsersatz Davis-Coltrane-Adderley, das bis heute als meistverkaufte Jazz-Platte gilt. Hier wäre ein eigener Thread von Nöten, immerhin gibt es von Ashley Kahn ein komplettes Buch über diese Aufnahme und seine Geschichte.
Nun aber zu den Platten unter eigenem Namen:
Die erste trug den wenig erstaunlichen Namen Coltrane (1957) und warb auf dem Cover noch mit dem Satz "Coltrane - eine wichtige Stimme im Miles Davis Quintett". Vom Blues geprägte Balladen spiegeln auf dieser Aufnahme Coltranes damalige große Stärke wieder. Seine Improvisationen zeigen aber bereits hier große Eigenständigkeit. Seine zweite Aufnahme bei Prestige mit dem Titel Traneing In bestätigt die angedeutete Klasse des Vorläufers, Coltrane improvisiert hier noch wuchtiger und immer noch blues-gesättigt.
Ebenfalls 1957 entsteht Coltranes einzige Aufnahme für Blue Note, nämlich Blue Train. Eine Platte, die er immerhin noch 1960 selbst für seine bis dato beste hielt, wie er in einem Interview mit dem schwedischen Rundfunk bekundete. Bis auf eine Ausnahme handelt es sich hier erstmals nur um Eigenkompositionen. Für mich ist diese Einspielung eine Sternstunde des vom Blues durchtränkten Hard Bop der späten 50er, zu deren Gelingen nicht unerheblich der großartige junge Trompeter Lee Morgan beitrug, der ein wichtiger Baustein der damaligen Blue Note - Historie war und etwas später tragischerweise erschossen wurde.
Aus Coltranes Zeit bei Atlantic ragt Giant Steps von 1959 heraus, etwa zur selben Zeit entstanden wie die Aufnahmen mit Miles Davis zu "Kind of Blue". Seine Suche nach neuen harmonischen Möglichkeiten trieb er hier auf die Spitze, führte sie gleichwohl in eine Sackgasse. Das Titelstück ist aberwitzig zu spielen. Das Tempo ist mehr als ordentlich, die Akkordfolge wechselt halbtaktig. Bis auf Coltrane selbst hört man den beteiligten Musikern an, wie sie sich in ihren Soli durch die in Terzsprüngen wechselnde Harmonik quälen. Mit der Ballade "Naima" (nach Coltranes erster Ehefrau) und den Stücken "Countdown" und "Mr P.C." (gemeint war Bassist Paul Chambers) sind weitere Coltrane-Klassiker auf der Platte vertreten.
1960 dann präsentierte er, immer noch bei Atlantic, sein festes Quartett mit den Fixsternen McCoy Tyner und Elvin Jones sowie damals noch dem Bassisten Steve Davis, der bald ersetzt werden sollte. Die Aufnahmen Coltrane plays the Blues, Coltrane's Sound und My Favorite Things sind sozusagen die Urzelle dessen, was dieses Quartett in den weiteren Jahren miteinander erreichen sollte. My Favorite Things war dabei der absolute Durchbruch und manifestierte Coltranes Spitzenposition im zeitgenössischen Jazz. Sie war so etwas wie seine Fortentwicklung dessen, was er ein Jahr zuvor mit Miles Davis auf "Kind of Blue" begonnen hatte. Bietet er hier zwar "nur" Gassenhauer wie "Summertime" oder eben "My Favorite Things", ist deren Verarbeitung sensationell. Coltrane greift hier auf das Sopransaxophon zurück und schafft einen fast schon orientalischen, hypnotischen Sound. Die Stücke sind gründlich reharmonisiert und in Skalen und Modi zerlegt, die den Improvisationen größere Freiheiten einräumen. Elvin Jones lässt hier erstmals hören, welch niemals nachlassendes Kraftwerk er für die Musik Coltranes sein sollte. Ein Donnergott, wie Michael Naura so schön treffend schrieb... Coltranes Markenzeichen, die sogenannten "Sheets of Sound", rasende Tonfolgen, die sich nahezu zu einer Klangfläche aneinander reihen, sind hier trefflich zu hören.
1961 erfolgte dann die erste von unzähligen Aufnahmen für Impulse. Hier auszuwählen und sich zu beschränken, fällt wirklich schwer. Daher reduziere ich die Auswahl hauptsächlich auf meinen persönlichen Geschmack.
Gleich die erste Platte Africa/Brass ist der Hammer! Coltrane erweitert sein Quartett zu einer Big Band, die in ihrer ungewöhnlichen Besetzung und durch die Arrangements Eric Dolphys für einen flirrenden, nervösen Sound sorgt, der einem wirklich den Urwald in die Ohren treibt. Darüber brilliert Coltrane, McCoy Tyner spielt fast schon perkussiv dazu auf dem Klavier. Und Elvin Jones - nun ja, der Donnergott halt... er lässt die Poly-Rhythmen unaufhörlich zirkulieren und ist nicht umsonst bis heute maßstabsetzend und ein Muss für jeden angehenden Jazz-Schlagzeuger. Mit Olé erzeugte die Gruppe eine ähnliche Wirkung, bezog sich diesmal allerdings nicht auf die afrikanischen Wurzeln, sondern bediente sich bei spanischer Volksmusik. Das Ergebnis ist gleichermaßen kraftvoll und energiegeladen.
Neben der Aufnahmetätigkeit war das Quartett zuvorderst live tätig und wohl so ziemlich der heißeste Act, den New York zu der Zeit zu bieten hatte. Zeitgenossen, die diese Live-Konzerte in jenen Tagen miterlebt haben, sprachen davon, schweißgebadet und vor Erregung heiser geschrien die Clubs verlassen zu haben. Einen kleinen Eindruck von dieser Atmosphäre vermittelt die erste Live-Platte Live at the Village Vanguard. Wie sich Coltrane im 16-minütigen "Chasin' the Trane" verausgabt und sich fast um Leib und Leben bläst, ist selbst knapp ein halbes Jahrhundert später an den heimischen Lautsprechern nahezu physisch nachzuempfinden. Außerdem zeigt er hier seine ganze Bandbreite des Saxophonspiels, komprimiert an einem verdichteten Abend!
Weitere schöne Platten aus den Jahren 1961 und 1962 sind für mich Impressions, Coltrane und Ballads. In diese Zeit fallen auch die Alben gemeinsam mit Duke Ellington und mit dem Sänger Johnny Hartman. Dies sind zwar eher kommerziell erdachte Produkte, haben aber beide ihre schönen Momente.
1963 folgt eine weitere bedeutende Live-Einspielung, die bereits den weiteren Weg Coltranes andeutet: Coltrane Live at Birdland. Hier zeigt sich noch einmal die gesamte Palette vom satten Blues über die rasenden Klangflächen und sich immer wieder erneuernden Melodiebögen. Erstmals tritt hier aber auch jener hymische, von tiefer Gläubigkeit geprägte Gestus auf, der die weitere Zeit prägen sollte. Und als Bonus-Studio-Track gibt es obendrein noch "Alabama", eine beeindruckende musikalische Klage über die grässlichen rassistischen Geschehnisse im Amerika jener Zeit.
1964 dann der große Wurf, die legendäre Aufnahme, die Platte, die sich einen der vordersten Plätze in der Jazz-Geschichte gesichert hat: A Love Supreme. Coltrane zögert nun nicht mehr, seinen tiefen Glauben offen zu legen und in Musik zu transformieren. Das Album ist so etwas wie eine Suite, gegliedert in die vier Teile "Acknowledgement", "Resolution", "Pursuance" und "Psalm". Coltrane fasst hier alles bislang erreichte und erworbene exemplarisch zusammen. Es gibt die auf modaler Basis spannungsreichen Fortschreitungen, verschiedene rhythmische Ebenen und erstmals in dieser Konsequenz eine Rubato-Ballade, die das Metrum faktisch aufhebt. Ohne ein festgelegtes Grundtempo spielt Coltrane hymnisch und eindringlich wie kaum je zuvor. Man muss selbst nichts damit am Hut haben, um dennoch bewegt davon zu sein, wie jemand sozusagen "musikalisch betet". Der Einfluss dieser Platte, sowohl was ihren musikalischen Gehalt, als auch ihre außermusikalische Bedeutung anbetrifft, wirkt bis heute nach. Kein angehender Jazzmusiker kommt umhin, sich mit diesem Werk zu befassen.
Nach "A Love Supreme" folgten Platten, die den Übergang zu immer freieren Spielweisen bedeuteten. 1965 dann erschien Ascension, ein weiteres "Opus magnum". Das Quartett wurde abermals um einige Bläser erweitert. Free Jazz war 1965 nicht wirklich neu, aber Coltrane erreichte mit dieser Aufnahme eine nicht gehörte Perfektion in freiem Solo- und Gruppenspiel. Die Soli von Coltrane und Pharoah Sanders sind atemberaubende Kraftakte, die freien Ensemble-Passagen dazwischen lassen hören, wie durchdacht und organisiert auch in freiem tonalen Rahmen miteinander musiziert werden kann. Wer sich auf dieses nicht gänzlich unanstrengende Hörerlebnis einlässt, wird belohnt. Ich las einmal die Biografie eines ehemaligen Drogenabhängigen, der, statt zur nächsten Spritze zu greifen, sich immer dann auf den Boden gelegt und "Ascension" gehört hat. Dies sei gewesen, als sei er geflogen, so schrieb er. Nun ja, eine kleine Anekdote am Rande... Was mich im Gegensatz zu vielen anderen Free Jazz - Aufnahmen an denen Coltranes so fasziniert, ist die Tatsache, dass man ihnen die tiefe Menschlichkeit, den Glauben und die Liebe anhört. Hier ist keiner am Werk, der kühl herum experimentiert, sondern der mit jedem Ton herausschleudert: Hier stehe ich, ich kann nicht anders....
Die Jazzkritik hatte langsam so ziemlich jedes Verständnis verloren. Von "Anti-Jazz" war die Rede. Selbst seine musikalischen Gefährten mochten nicht mehr so recht und so wechselte Coltrane nach etwa 5 Plattenaufnahmen im freieren Stil, von denen ich Om und Sun Ship hervorheben möchte, seine Band noch ein letztes Mal durch. Seinem Mythos tat das keinen Abbruch. Concert in Japan entstand 1966 im Rahmen einer Tour, bei der er in Japan nahezu wie ein Superstar empfangen wurde. Im Rahmen dieser Tour hat er sich übrigens als erster Amerikaner auf japanischem Boden am Denkmal der Opfer Hiroshimas und Nagasakis für die Verbrechen an der Menschlichkeit entschuldigt. Es gibt Fotos, die sehr an den Kniefall Willy Brandts erinnern. 1967 macht Coltrane seine letzte Aufnahme. Expression deutet an, dass es wieder einen neuen Weg gab, den er hätte beschreiten wollen. Die kompromisslose Freiheit wurde teilweise wieder reduziert zugunsten einer eigenartigen Melodik, zugunsten wieder neuen Ausdrucksformen, mit denen er seine menschliche Existenz in Töne zu fassen versuchte.
Ich habe maximal 10 Prozent seiner Aufnahmen hier erwähnt, es gibt also trotz seines viel zu frühen Todes eine Unmenge an Musik zu entdecken. Wer ausführliches Interesse am Leben und Schaffen Coltranes hat, dem empfehle ich das Buch "Chasin' the Trane" von J. C. Thomas (Hannibal Verlag), eine der schönsten Musiker-Biografien, die ich kenne.
LG
C.