Stirbt das Klassik-Publikum aus?

  • Wo zu Hause keinen Interessen nachgegangen wird, die es selbstverständlich werden lassen, Schubladen wie Romantik und Expressionismus weit auseinander zu halten, da hilft wohl auch die Schule nicht. Alle Eltern, die ich kenne, haben zu Bildungsgehalten, die mit 'klassischer Musik' und Bildender Kunst eng zusammenhängen, überhaupt keinen Bezug. Jene Schülerin, die erwog, Schumann zu den Expressionisten zu zählen, hakte die Ismen, von denen sie in der Schule gehört hatte, einfach ab. Und ich habe keine Ahnung, wie da wieder Interesse geweckt werden kann. Jene sinnvolle Vernetzung der Fächer habe ich leider auch nicht erlebt. Sie wird heute immer gefordert. Aber was ich durch meine Nichten und Neffen höre, vermittelt mir den Eindruck, dass es - u. a. wegen der Verkürzung auf 12 Jahre - eher schlimmer geworden ist. Die Schulen sind mehr mit der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit beschäftigt als mit Unterrichtsqualität. Und wer nach Qualität ruft, wird - idiotischerweise - Qualitätsmanagement bekommen.

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

  • Man müsste mal schauen, auf welche empirischen Daten sich Herr Tröndle in seiner Studie stützt. Beim Stöbern im Netz erfährt man, dass es in Deutschland in den letzten dreißig Jahren nur sehr vereinzelte und nicht immer repräsentative Erhebungen zum Altersdurchschnitt des sog. Klassikpublikums gegeben hat.

    Vgl. etwa den Beitrag von Karl-Heinz Reuband, Die Institution Oper in der Krise?, in: "http://www.kulturmanagement.net/downloads/magazin/km0912.pdf", S. 8ff.


    Wenn man außerdem in der genannten Meldung liest:

    Zitat

    Tröndle wirft der öffentlichen Kulturförderung vor, nur ein Prozent der Gelder für die Musikförderung (insgesamt mehr als zwei Milliarden Euro) für Innovationen auszugeben.

    und an anderer Stelle erfährt, dass Tröndle in verschiedenen Funktionen selbst solche "Innovationen" beruflich begleitet (hat), ist m.E. schon ein wenig Skepsis geboten. Womit nicht gesagt sein soll, dass ein Aufbrechen von Konventionen im Konzert- und Opernbetrieb nicht überlegenswert sei.


    Ansonsten blicke ich wie Holger/HollaD auf dreißig Jahre Konzert- und Opernbesuche zurück, würde ebenfalls behaupten, dass das Publikum nicht signifikant älter geworden ist - und weiß auch, dass solche subjektiven Eindrücke täuschen können. Was man allerdings zweifelsfrei sagen kann: das Durchschnittsalter des Publikums hängt von verschiedenen Faktoren ab, z.B.: wie hoch ist der (traditionell ältere) Abonnentenanteil, welche Musik wird gespielt, Oper mit welcher Regie, in welcher Stadt, mit welchen Eintrittspreisen usw.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Die Mär davon, dass die jungen Leute hauptsächlich in den Konzerten mit moderner Musik anzutreffen sind, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Da spielen wohl Klischées auch mit. Was sehr wohl stimmt, ist dass in spezielleren Programmen mehr junge Leute anzutreffen sind (und zwar gleich welcher Epoche). Bei der 2. Ives-Symphonie sinkt der Alterdurchschnitt erheblich, aber auch wenn Staier die Goldbergvariationen spielt oder die Freiburger seltenen Haydn und Dittersdorf.

    Als mögliche Erklärung für die jüngeren Leute in exotischeren Programmen hätte ich folgendes anzubieten: Viele Leute, die vorher kaum oder gar nicht Klassik gehört haben, finden in späteren Lebensabschnitten (man will ja politisch korrekt bleiben) Gefallen an der Klassik. Andere haben vielleicht hin und wieder ein Konzert besucht und wollen das jetzt intensivieren und wieder andere machens halt, weils die Freunde auch tun. Jedenfalls werden, die eher beim Mainstream bleiben. Der 55-jährige Bankkaufmann, der plötzlich die Konzerte mit Nono und Uraufführungen stürmt, ist wohl eher eine selte Ausnahmeerscheinung.
    Leute, die hingegen schon früh mit Klassik angefangen haben und sich auch aktiv damit beschäftigen, haben wohl ein breiteres oder zumindest spezielleres Interesse. Dementsprechend gehen, die auch in Konzerte mit ungewöhnlichen Programmen.

    Zu guter Letzt: Die Kartenpreise. Hier in Wien gibt es die Jeunesse, die Karten für unter 26-jährige zur sehr niedrigen Preisen anbietet. Sehr oft sind da hochinteressante Konzerte darunter (wie zuletzt Mahlers 10. mit dem Arnheim Philharmonic Orchestra). Die Altersschnitt ist in diesen Konzerten wesentlich niedriger als normal. Bei normalen Konzerte im Musikverein kommt man sich manchmal vor wie auf der Geriatrie, im Konzerthaus teilweise auch.


    Was könnte man nun tun um die Leute in die Konzertsäle zu locken? Die hier auch geäußerte Forderung, dass die Schulen besser fördern müssen, bleibt ja immer recht wage (à la Die Wirtschaft muss wieder wachsen!). Die Verkürzung der Gymnasiallaufzeit in Deutschland um 1 Jahr macht das Kraut auch nicht mehr fett. Wenn in 12 Jahren kein Interesse geweckt wird, wird im 13. Jahr wohl kein Wunder mehr geschehen. Wenn Interesse oder gar Liebe zur Klassik geweckt werden soll, dann nur über das Elternhaus oder das soziale Umfeld. Wer nicht von zuhause mitbekommt, dass es völlig normal ist Klassik zu hören, wird in der Schule nicht auf den noch so engagierten Musiklehrer hören sondern lieber auf seine Freunde, sie sagen Klassik sei schei*e.

    Auch sehe ich nicht ganz was erreicht werden soll? Dass Horden von Konzertgehern fanatisch jegliche Konzerte stürmen und pro Saison 30 Konzert aufwärts besuchen? Das war nie der Fall und ist auch für die Zukunft unwahrscheinlich und utopisch (wenngleich es doch gewissen Typen gibt, die man scheinbar in jedem Konzert antrifft :D ).

    Oder dass eine solide Klientel entsteht, die gelegentlich Konzerte besucht und vielleicht auch zum Teil nur wegen des gesellschaftlichen Wertes oder weil man mit Freunden einen schönen Abend verbringen will und dass diese Leute auch nicht jedes Werk kennen, schätzen oder analysieren können? In dem Fall müsste man aber aufhören sich über diese Leute zu mockieren und sie nicht ernst zu nehmen. Schließlich wären die Säle, wenn man sie nur mit Enthusiasten füllen würde mehr als halb leer, gleich bei welcher Musik.

    Wenn ich F10 auf meinem Computer drücke, schweigt er. Wie passend...

  • Inzwischen hat Markus Schwering (wohl nicht ganz unbekannt, v.a. wegen seines Reclam-Bändchen) sich in der KStA zu Thema gemeldet.

    Er grenzt die Verluste gleich ein (überkommener Opern- und Konzerthausbetrieb). Den Vorschlag neuer Präsentationsformen wehrt er insofern ab, weil es diese schon gibt. Die Frage ist nur, was sie bringen. Er schreibt von säkularen Umbrüchen, von der übermächtigen Dominanz von Pop und Rock u.ä., um zusammen zu fassen: Das Bildungsbürgertum alter Ordnung, das einma Träger der klassischen Musikkultur war - es existiert nicht mehr. Seine Zusammenfassung deckt sich nicht unwesentlich mit meinen Überlegungen:

    Zitat

    Die Konzerthäuser beerbten einst als Orte der Kunstreligion die Kirchen. Vielleicht erleiden sie bald auch deren Schicksal - den Leerstand. Solchermaßen wüchse dem Abschied von der Klassik sogar noch geschichtsphilosophische Würde zu.

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Zitat

    Die Verkürzung der Gymnasiallaufzeit in Deutschland um 1 Jahr macht das Kraut auch nicht mehr fett.

    Sie macht das Kraut schon um einiges fetter, da sie ihr Schärflein dazu beiträgt, daß den Kindern jedwede Luft und Lust zur außerschulischen Beschäftigung mit Bildungsinhalten genommen wird. Ich erlebe es doch jeden Montag, wie elfjährige Sextaner nach neun Schulstunden mit hängender Zunge in meinen Unterricht gekrochen kommen. Diese Kinder, die dann teilweise hinterher noch Hausaufgaben machen müssen, sind, wenn sie nicht zu den ganz Hartgesottenen gehören, fix und alle, ihre Aufnahmekapazitäten sind schlichtweg erschöpft. Daß die bei mir kaum noch etwas mitnehmen können, obwohl sie zum größten Teil guten Willens sind, liegt auf der Hand.

    Zitat

    Das Bildungsbürgertum alter Ordnung, das einmal Träger der klassischen Musikkultur war - es existiert nicht mehr.

    Ja, das scheint mir auch so. Aber auch das hat unter anderem etwas mit dem Bildungssystem zu tun.

    Neulich habe ich mich mit einem mir bekannten, kurz vor der Pensionierung stehenden Gymnasiallehrer (für Deutsch und Philosophie) unterhalten Er - ein eher konservativer Geist mit einem in seiner Weitgespanntheit von mir sehr bewunderten Wissenshorizont - war der Meinung, daß unser Schul- und Hochschulsystem inzwischen nicht mehr auf wirkliche Bildung abziele, sondern vielmehr hauptsächlich darauf, im Schnelldurchgang für die Wirtschaft möglichst gut funktionierende Worcaholics hervorzubringen, Leute, die schon über eine gewisse Intelligenz verfügen, aber nicht zu viele fachfremde Interessen haben und sich vor allem nicht zu viele individuelle Gedanken machen.
    Mir erscheint diese Aussage zunächst als gar nicht so abwegig.

    Viele Grüße

    Bernd

  • Also, ich weiß nicht. Jetzt stirbt schon wieder das Bildungsbürgertum aus - und das wird ausgerechnet in einer Institution (unserem Forum) prophezeit, in der es von Bildungsbürgern nur so wimmelt (auch wenn sich der ein oder andere hier ungern so bezeichnet sieht, er/sie ist es trotzdem ;+) ). Meine Kindheit und Jugend habe ich übrigens im Zeitalter des Spätkapitalismus verbracht, und wenn ich das Zeitliche segne, wird diese Ära des Abendrots wahrscheinlich immer noch andauern. Das tut hier natürlich nichts zur Sache :D. Jedenfalls gehört der Kulturpessimismus zum Bildungsbürgertum wie das Salz in die Suppe.

    Ist zweifellos u.a. durch meinen Beruf bedingt: aber ich sehe in meinem Bekanntenkreis (nicht in meinem Freundeskreis :D) eher einen ziemlichen Boom bildungsbürgerlicher Verhaltensweisen und Praktiken, wobei der zahlreiche Nachwuchs voll eingebunden ist. Im übrigen kenne ich trotz aller Veränderungen im Bildungssystem immer noch genug Studierende, in denen sich jetzt schon nur allzu deutlich der spätere Bildungsbürger abzeichnet. Ja, und ich weiß, dass sich auch (!) neue, bildungbürgerferne "Eliten" herausbilden bzw. schon existieren.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Sie macht das Kraut schon um einiges fetter, da sie ihr Schärflein dazu beiträgt, daß den Kindern jedwede Luft und Lust zur außerschulischen Beschäftigung mit Bildungsinhalten genommen wird. Ich erlebe es doch jeden Montag, wie elfjährige Sextaner nach neun Schulstunden mit hängender Zunge in meinen Unterricht gekrochen kommen. Diese Kinder, die dann teilweise hinterher noch Hausaufgaben machen müssen, sind, wenn sie nicht zu den ganz Hartgesottenen gehören, fix und alle, ihre Aufnahmekapazitäten sind schlichtweg erschöpft. Daß die bei mir kaum noch etwas mitnehmen können, obwohl sie zum größten Teil guten Willens sind, liegt auf der Hand.

    Lieber Bernd,

    du sprichst mir hier ganz aus der Seele! Ich bin völlig erschreckt, wenn ich bei Freunden mit Kindern im Gymnasialalter mitbekomme, wieviel Zeit sie für die Schule aufbringen und welche große Bedeutung kurzzeitig abfragbare Leistung, Disziplin und Noten heute wieder haben. Was haben wir vor ca. 25 Jahren noch für Zeit gehabt: Schulorchester und mehrere Rock und Jazz-Bandproben, politisches Engagement und das Leben und die Liebe in vollen Zügen ziemlich exzessiv auszuprobieren, konnte ich mit jede Menge Lesen und Hören von dem, was mich selbst interessierte, verbinden. Zum sehr guten Abitur hats bei mir trozdem gereicht, obwohl ich praktisch nichts für die Schule, aber sehr viel für mich gelernt und gelesen habe. Das wäre heute so unmöglich. Die Kids wollen es gar nicht glauben, wenn ich damit rausrücke, was wir uns an Blau-Machen, drastischen Scherzen, selten und dann meist kollektiv erledigten Hausarbeiten erlauben konnten und wie wir systematisch und gut organisiert auch die Kumpels, denen damals nicht so der Sinn nach Schule war, durch Klausuren und Abitur gemogelt haben - und gerade aus denen ist später noch viel geworden.

    Vor allem in meinen Uniseminaren erlebe ich genau dass, was du, Bernd, weiter oben schilderst: Die große Mehrheit hat von allem möglichen mal gehört, aber alles ist völlig diffus in Erinnerung und schlimmer noch, es fehlen die Koordinaten, auf denen sich aufbauen ließe. Etwas besser ist es in meinen gewerkschaftlichen Bildungskursen: Die Teilnehmer sind dort freiwillig neben Ausbildung und Beruf, riskieren heute häufig sogar etwas, wenn sie sich noch trauen, Bildungsurlaub anzumelden oder nutzen die auch für die meisten weniger gewordenen "Freizeit".

    unser Schul- und Hochschulsystem inzwischen nicht mehr auf wirkliche Bildung abziele, sondern vielmehr hauptsächlich darauf, im Schnelldurchgang für die Wirtschaft möglichst gut funktionierende Worcaholics hervorzubringen, Leute. die schon über eine gewisse Intelligenz verfügen, aber nicht zu viele fachfremde Interessen haben und sich vor allem nicht zu viel individuelle Gedanken machen.

    Das ist genau auch mein Eindruck und wird mir von den wenigen noch kritischen Bildungsforschern auch bestätigt, von den wenigen ganz konservativen, wie von den wenigen noch ganz linken.

    :wink: Matthias

  • Ja, das scheint mir auch so. Aber auch das hat unter anderem etwas mit dem Bildungssystem zu tun.

    Neulich habe ich mich mit einem mir bekannten, kurz vor der Pensionierung stehenden Gymnasiallehrer (für Deutsch und Philosophie) unterhalten Er - ein eher konservativer Geist mit einem in seiner Weitgespanntheit von mir sehr bewunderten Wissenshorizont - war der Meinung, daß unser Schul- und Hochschulsystem inzwischen nicht mehr auf wirkliche Bildung abziele, sondern vielmehr hauptsächlich darauf, im Schnelldurchgang für die Wirtschaft möglichst gut funktionierende Worcaholics hervorzubringen, Leute. die schon über eine gewisse Intelligenz verfügen, aber nicht zu viele fachfremde Interessen haben und sich vor allem nicht zu viel individuelle Gedanken machen.
    Mir erscheint diese Aussage zunächst als gar nicht so abwegig.

    Lieber Bernd,

    ich habe so meine Probleme mit dem Begriff "Bildungsbürgertum" (wie übrigens auch mit dem "Spätkapitalismus" aus dem Folgebeitrag). Im engeren Sinne war Bildungsbürgertum eine sozialgeschichtliche Kategorie des 19. Jahrhunderts, nach dem 1. Weltkrieg wurde der Begriff eher metaphorisch. Es gab unterschiedliche Eliten, die sich z.T. auf das Bildungsbürgertum und seine Ziele im 19. Jahrhundert bezogen, z.T. (wie große Teile des Nazismus) in Frontstellung zum Bildungsbürgertum waren. Auch die Rückbesinnung auf Ideale des Bildungsbürgertums nach dem 2. Weltkrieg war nur kurzfristig.

    Die Einheit von Bürger und Kunst war spätestens mit dem Beginn der Moderne aufgekündigt, was da nun jetzt sterben soll, ist schon längst tot. Kunst als Legitimation von Herrschaft bezieht sich nicht mehr auf die "Hochkammkunst", Pop in allen seinen Formen ist angesagt. Dass Ideale des Bildungsbürgertum im Stalinismus und im Nachstalinismus noch vertreten wurden, ist eine andere interessante Variante.

    Was stirbt denn nun tatsächlich? Ist es die Einübung in Kunstkennerschaft, die sich (immer noch) auf das Umfeld der sogenannten Klassik bezieht, nicht aber auf die gegenwärtigen Kunstformen. Die Streitigkeiten um "Regietheater" u.ä. erklären sich für mich in dieser Schärfe nur dadurch, dass man sich, wie der Chef eines anderen Forums ja offen propagiert, von der Gegenwart in die Wiederholung vergangener Rituale zurückgezogen hat und diese mühsamen Zeremonien mit zerschlissenem Stoff vom Tageslicht der Gegenwart entlarvt und bedroht fühlt.

    Es stirbt etwas, das die Geschichtlichkeit künstlerischer Produktion aus der Rezeption aussperren wollte. Muss man da trauern?

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Zitat

    Die Streitigkeiten um "Regietheater" u.ä. erklären sich für mich in dieser Schärfe nur dadurch, dass man sich, wie der Chef eines anderen Forums ja offen propagiert, von der Gegenwart in die Wiederholung vergangener Rituale zurückgezogen hat und diese mühsamen Zeremonien mit zerschlissenem Stoff vom Tageslicht der Gegenwart entlarvt und bedroht fühlt.


    So einfach ist es nicht. Im betreffenden Thread war der Streit schon u. a. dahingehend zugespitzt, dass es auch darum ging, ob die von Regisseuren in den Mittelpunkt gerückten Botschaften und Interpretationen tatsächlich so wesentlich bei der Aufführung eines Musikdramas sein sollten.


    Zitat

    Er - ein eher konservativer Geist mit einem in seiner Weitgespanntheit von mir sehr bewunderten Wissenshorizont - war der Meinung, daß unser Schul- und Hochschulsystem inzwischen nicht mehr auf wirkliche Bildung abziele, sondern vielmehr hauptsächlich darauf, im Schnelldurchgang für die Wirtschaft möglichst gut funktionierende Worcaholics hervorzubringen, Leute.


    Eben diese Kritik klingt zwar pessimistisch, könnte aber etwas treffen. Die Schulzeitverkürzung auf 12 Jahre spricht dafür, vieles andere auch. Wenn immer wieder nach dem 'Nutzen' von Unterrichtsinhalten gefragt wird, wird die Vermittlung kultureller Kodes am schnellsten dem für 'effizienter' Gehaltenen geopfert.


    Zitat

    Pop in allen seinen Formen ist angesagt.


    Ja. Gerade deshalb ist die Frage nach Qualitätsmerkmalen - genreübergreifend - ein interessanter Stoff, auch für Schulen.


    Zitat

    auf dreißig Jahre Konzert- und Opernbesuche zurück, würde ebenfalls behaupten, dass das Publikum nicht signifikant älter geworden ist


    Sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, ob dem, was die Musikindustrie zu 'Klassik' zählt, Publikum verloren geht. Die Konzertszene ist wohl eine Art 'Spiel' für sich, an dem sich noch lange genug beteiligen, um Häuser zu füllen.

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

  • Zitat


    Sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, ob dem, was die Musikindustrie zu 'Klassik' zählt, Publikum verloren geht. Die Konzertszene ist wohl eine Art 'Spiel' für sich, an dem sich noch lange genug beteiligen, um Häuser zu füllen.

    Bezugspunkt war das im Eröffnungsbeitrag angesprochene und von Tröndle untersuchte "Klassik-Publikum": dort definiert als die Besucher von Konzert- und Opernhäusern. Also zunächst mal nicht die Käufer von Tonträgern etc.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • So einfach ist es nicht. Im betreffenden Thread war der Streit schon u. a. dahingehend zugespitzt, dass es auch darum ging, ob die von Regisseuren in den Mittelpunkt gerückten Botschaften und Interpretationen tatsächlich so wesentlich bei der Aufführung eines Musikdramas sein sollten.

    Lieber Kunnukun,

    es ist ein Indiz, nicht mehr und nicht weniger. Auf der einen Seite steht eben das Aufführen von alten Opern (zur Zeit Mozarts stand keine Oper, die 50 oder gar 200 Jahre vorher geschrieben worden war, auf dem Spielplan), auf der anderen ein Rechtfertigungszwang, vor allem, wenn es keinen Konsens in der Wertung mehr gibt, sondern eigentlich nur das (indirekte) Berufen auf alte Autoritäten.


    Zitat


    Eben diese Kritik klingt zwar pessimistisch, könnte aber etwas treffen. Die Schulzeitverkürzung auf 12 Jahre spricht dafür, vieles andere auch. Wenn immer wieder nach dem 'Nutzen' von Unterrichtsinhalten gefragt wird, wird die Vermittlung kultureller Kodes am schnellsten dem für 'effizienter' Gehaltenen geopfert.

    Ich empfinde auf jeden Fall Wissen und Bildungsstand, den die Leute von der Schule mitbringen, katastrophal.

    Zitat


    Ja. Gerade deshalb ist die Frage nach Qualitätsmerkmalen - genreübergreifend - ein interessanter Stoff, auch für Schulen.

    Das Problem ist, dass man so etwas nur in der Oberstufe diskutieren kann, aber da hat man durch das Kurssystem gar keine Gelegenheit dazu.

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Sie macht das Kraut schon um einiges fetter, da sie ihr Schärflein dazu beiträgt, daß den Kindern jedwede Luft und Lust zur außerschulischen Beschäftigung mit Bildungsinhalten genommen wird. Ich erlebe es doch jeden Montag, wie elfjährige Sextaner nach neun Schulstunden mit hängender Zunge in meinen Unterricht gekrochen kommen. Diese Kinder, die dann teilweise hinterher noch Hausaufgaben machen müssen, sind, wenn sie nicht zu den ganz Hartgesottenen gehören, fix und alle, ihre Aufnahmekapazitäten sind schlichtweg erschöpft. Daß die bei mir kaum noch etwas mitnehmen können, obwohl sie zum größten Teil guten Willens sind, liegt auf der Hand.

    Nun hier in Österreich gibt es seit vielen Jahrzehnten die 12-Jahres-Form und es gibt bei uns keine Diskussion, dass sie Schüler signifikant weniger Freizeit hätten als in Deutschland zu Zeiten der 13-Jahres-Form. Auch die Musikschulen beschweren sich meines Wissens nach nicht. Es ist weniger das eine Jahr als weniger viel mehr die Ganztagesschule (deren Befürworter ich in den letzten Jahren mit Vorbehalten geworden bin), die dazu führt, dass für außerschulische Aktivitäten keine Zeit mehr bleibt. Dem "ganzheitlichen" Ansatz (wohl das Unwort des Jahrzehnts) dieser Schulform ist es immanent, dass für außerschulische Aktivitäten, die viel Zeit erfordern und innerhalb der Schulen einfach nicht angeboten werden können, kaum noch Zeit bleibt.

    Im übrigen bin ich der Meinung, dass der Zugang zur Klassik über Musikunterricht nicht unbedingt leichter erfolgt. Höchstens früher. Denn wer auf Klassik gepolt ist und mit dieser Art Musik etwas anfangen kann, der findet das über den Musikunterricht eher heraus. Jemand, der nix damit anfangen kann, wird über das Klavier oder die Geige auch nicht bekehrt werden. Es gibt aber auch Leute, die gerne und viel selber Musizieren, aber so gut wie nie ein Konzert besuchen. Umgekehrt kenne ich Leute, die jegliche Art von Musikunterricht hassen wie die Pest, aber glühende Konzertgeher und Klassikhörer sind. Es gibt halt auch Gourmets, die selber nicht mal Nudeln kochen können oder Haubenköche, die beim Milchreis seelig sind.

    Ich selber bin völlig unfähig selber Töne zu produzieren, am Klavier ist Alle meine Entchen das höchste der Gefühle. Ich habe nie Unterricht an einem Instrument erhalten und bin dennoch der Klassik verfallen, besuche 30 Konzerte aufwärts pro Saison und ersticke in CDs, allerdings erst als die üblichen "Angriffe" von Seiten der Schule vorrüber waren. Es hat halt einfach mal Klick gemacht.

    Ich bezweifle auch, dass eine aggressivere Förderung von Kindesbeinen an DAUERHAFT das Klassik-Publikum stark vergrößern würde. Denn auch wenn man als Kind spielerisch mit Klassik in Berührung kommt, die Begeisterung lässt irgendwann nach oder die Interessen verlagern sich und dann kann man nichts mehr ausrichten. Zwangsmissionierungen würden hier die Sache nur verschlimmern.

    Wenn ich F10 auf meinem Computer drücke, schweigt er. Wie passend...

  • Meine Kindheit und Jugend habe ich übrigens im Zeitalter des Spätkapitalismus verbracht, und wenn ich das Zeitliche segne, wird diese Ära des Abendrots wahrscheinlich immer noch andauern.

    :mlol:

    Zitat

    Jedenfalls gehört der Kulturpessimismus zum Bildungsbürgertum wie das Salz in die Suppe.

    Stimmt. :D Naklar gibt s immer noch auch ernsthafter Interessierte und wird es sicherlich auch weiterhin geben, aber ihnen wird es aus Gründen, die der Trötenbernd richtig benannt hat, heute schwieriger gemacht. Klar, dafür entdecken vielleicht sogar mehr später, was außer dem engpfadigen Karriereverfolgen auch noch wichtig sein kann, wenn verschärfte Arbeitsintensivierung und Entgrenzung von Arbeit, von denen die Arbeitssoziologen mit recht und gut belegt sprechen, ihnen dafür noch Zeit lassen oder die ersten Burn-Outs manche zu Neuorientierungen anhalten. Denn es gibt sicherlich auch ein paar neue Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen. Wo Klassik als Bildungstümelei nicht mehr in alter Weise Distinktionsgewinne verspricht, wie Bustopher richtig bemerkt, schafft das vielleicht auch wieder Chancen, kann sie in anderer Weise für manche vielleicht auch wieder interessanter werden, wenn die Rock-Pop-Zeit etwas langweilig geworden ist. Viele hier haben ja ähnliches aus ihrer eigenen Sozialisation berichtet. Auch in den Jugendpeergroups, auf deren Bedeutung Fairy hinwies, sehe ich gewisse Veränderungen: Die Szenen werden viel stärker ausdifferenziert, damit nimmt teilweise, so meine Beobachtungen, auch der Zwang etwas ab, sich nur an einer orientieren zu müssen und für die fordistischen Musikkonzerne ist das m.E. das größere Problem als die Downloaderei. Sie werden zu Dinosauriern der alten, fordistischen Epoche. Auch im Klassik-Bereich gelingt es ja immer weniger, den Karajan für alle, die glauben, auch etwas Beethoven im Haus haben zu müssen, aufzubauen und als Massenkonsumgut zu verkaufen.

    Insofern besteht womöglich zum allgemeinen Kulturpessimismus so viel oder wenig Anlaß, wie immer schon. :D Aber die Veränderungen sind schon tiefgreiffend und werden nicht nur von mir als umfassender Epochenbruch beschrieben. (Stichworte: Fallende lange Kondratiew-Welle seit 1974 ohne, dass bislang ein neues finanzmarktgetriebenes Akkumulationsregime zu einem neuen stabilen postfordistischen Akkumulationsmodell geführt hat und ohne, dass dafür die ausreichenden, beschäftigungswirksamen Basistechnologien in Sicht wären; aber viel stärker wissensbasierte Ökonomie mit neuen Aneignungs-, Verteilungs. und Organisationsweisen von Wissen, jedoch ohne adäquate Anpassungen von Primär- und Weiterbildungseinrichtungen, so dass auch hier starkeTendenzen zur Diskontierung der Zukunft bestehen; sich daraus ergebende vielfältige Widersprüche: jobless Growth, wachsende Einkommensschere, Ausdünnung der Klassenfraktionen mit mittlerem Einkommen...oder auch gestiegende Anforderungen in der, wie an die Arbeit, gleichzeitig mehr Druck durch bei den WissensarbeiterInnen mehr Freiheit, schnellere Entqualifizierung, unklarere Wege der Qualifizierung und deren Erhaltung usw.).

    Das ist begleitet von großen Umbrüchen im Kulturellen. Dazu seien nur einige wenigeTendenzen noch einmal erwähnt:

    Sehr gut belegt von einer Vielzahl von Untersuchungen etwa im Anschluß an Bourdieu ist, dass, worauf Bustopher schon hinwies, Klassik-Hören oder Konzert- und Opern-Besuche für den Habitus und die feinen Unterschiede in der Distinktion zu anderen sozialen Fraktionen, bei Menschen mit hohem ökonomischen und/oder Bildungskapital eine weitaus geringere Rolle spielen. Dem steht aber gegenüber, dass in den OECD-Ländern wie auch global der Anteil derer, die über eher hohes Bildungskapital verfügen, weiter stark wächst -Deutschland steht hier sehr zurück - und insbesondere Frauen ereichen höhere Bildunsabschlüsse und sind aus den Arbeitsmärkten nicht mehr zu verdrängen. Einerseits inflationiert Bildungskapital und das spielt dann auch eine Rolle, wenn Bildungsaufsteiger sich nicht mehr an alten habituellen Formen ausrichten, andererseits nimmt der Anteil derer, die nach den auch nach wie vor bestehenden Korrelationen von Bildungskapital und Klassikkonsum als potentielle Klassikhörer in Betracht kommen, also insgesamt zu. Auch belegen vergleichende Elitenstudien wie von Hartmann zwar, dass Klassikkonsum zwar auch hier weniger bedeutend wird, aber nach wie vor und mit signifikanten Länderunterschieden eine signifikante habituelle Rolle spielen: So nennen in Deutschland immer noch besonders viele Top-Manager, dass Oper für sie wichtig sei, Top-Kader in Frankreich besuchen demgegenüber viel häufiger als andere Konzerte mit Neuer Musik.

    Wie andere Märkte auch, sind Märkte für Klassik stärker ausdifferenziert. Wer immer noch dem fordistischen Massengut a la Karajan hinterherläuft, wird zum Dinosaurier. So viele Lang Langs sind auch mit höherem Aufwand als früher nicht auf den Markt zu drücken. Wie auf anderen Märkten auch, setzen sich eher die durch, die geschickte Produktdiversifikationen und neue Vertriebswege hinbekommen a la Naxos und auch Nischenhändler haben eher bessere Chancen. Das führt aber auch bei Anbietern wie Konsumenten zu größeren Unübersichtlichkeiten und schwierigerem Zugang und trägt mit zur Verminderung von Distinktionsgewinnen durch Klassikkonsum bei: Wenn nur noch kleinere Gruppen überhaupt kennen, womit der Barock-Kenner brillieren kann usw.

    Der Mehrheit auch derjenigen mit höherem Bildungskapital wächst heute auf mit schon zwei Rock-Pop-Generationen vor ihnen. Auch Opa und Oma mit heute jungen Enkeln sind inzwischen in der Regel die Beatles vertrauter als Beethoven.

    Zwar steigt der Anteil derer, mit sehr guter musikalischer Ausbildung immer noch, aber an Hausmusik, Laienchören u.ä. nehmen weniger Teil, Musikunterricht an Schulen wird weniger und verliehrt an Bedeutung. Auch hier scheint sich eine Schere aufzutun, zwischen einer sogar insgesamt etwas größeren Schicht von sehr gebildeten und interessierten Klassikliebhabern und sogar von professionell Ausgebildeten und einer immer breiteren Schicht von völlig Desinteressierten. Die kulturelle Mittelschicht der Gelegenheitsklassikhörer dünnt, jedenfalls mindestens relativ gesehen, sehr aus.

    Eine immer gewichtigere Gruppe überrascht viele Sozialwissenschaftler in ihrer eigenen alten Borniertheit gegenwärtig, das sind Migranten. Hier ist nämlich der Anteil derer auch aus eher bildungsfernen sozialen Millieus, die sehr viel wert auf Bildungsaufstieg und gute Ausbildung ihrer Kinder legen und sich darum auch zu kümmern bereit sind, sehr deutlich höher als bei vergleichbaren Herkunftsdeutschen. Ihnen werden aber gerade in Deutschland nach wie vor Steine, wo es nur geht, in die Wege gelegt.
    Private Oud oder Saz-Kurse, obwohl teurer als Musikschulunterricht, sind rappelvoll, Gute Lehrer können davon heute in Städten mit hohem Migrantenanteil anständig leben. Aber die Brücke zu unserer Klassik wird nahezu nirgendwo versucht, aufzubauen. Dabei sind Gastkonzerte türkischer und arabischer klassischer Künstler jedenfalls hier in Berlin ebenso rappelvoll, sie finden bloß kaum, - oder kaum öffentlich unterstützt, statt.

    Hier ließen sich sicherlich noch viel mehr Tendenzen benennen und in ihren Widersprüchen verfolgen, ich kann auch Peter Brixius in dem Beitrag nach meinem letzten nur zustimmen, aber jetzt muß ich als prekarisierter Wissensarbeiter :D mal was anderes tun.

    :wink: Matthias

  • Lieber Matthias, das war jetzt ein bisschen zuviel auf einmal :D, ich hab aber alles gründlich durchgelesen und kann zunächst mal sagen, dass ich das...

    Fallende lange Kondratiew-Welle seit 1974 ohne, dass bislang ein neues finanzmarktgetriebenes Akkumulationsregime zu einem neuen stabilen postfordistischen Akkumulationsmodell geführt hat

    ...demnächst mal im Gespräch einflechten werde, kommt bestimmt gut und ergänzt meinen Habitus auf ansprechende Weise. :D (Irgendwann hab ich auch mal was über die Kondratiew-Zyklen gelernt, verdammt lange her).


    Einige Deiner Ausführungen fand ich besonders interessant, weil sie auf Widersprüche und Ambivalenzen hinweisen:

    Einerseits inflationiert Bildungskapital und das spielt dann auch eine Rolle, wenn Bildungsaufsteiger sich nicht mehr an alten habituellen Formen ausrichten, andererseits nimmt der Anteil derer, die nach den auch nach wie vor bestehenden Korrelationen von Bildungskapital und Klassikkonsum als potentielle Klassikhörer in Betracht kommen, also insgesamt zu.

    Wie auf anderen Märkten auch, setzen sich eher die durch, die geschickte Produktdiversifikationen und neue Vertriebswege hinbekommen a la Naxos und auch Nischenhändler haben eher bessere Chancen. Das führt aber auch bei An bietern wie Konsumenten zu größeren Unübersichtlichkeiten und schwierigerem Zugang und trägt mit zur Verminderung von Distinktionsgewinnen durch Klassikkonsum bei: Wenn nur noch kleinere Gruppen überhaupt kennen, womit der Barock-Kenner brillieren kann usw.

    Zwar steigt der Anteil derer, mit sehr guter musikalischer Ausbildung immer noch, aber an Hausmusik, Laienchören u.ä. nehmen weniger Teil, Musikunterricht an Schulen wird weniger und verliehrt an Bedeutung. Auch hier scheint sich eine Schere aufzutun, zwischen einer sogar insgesamt etwas größeren Schicht von sehr gebildeten und interessierten Klassikliebhabern und sogar von professionell Ausgebildeten und einer immer breiteren Schicht von völlig Desinteressierten. Die kulturelle Mittelschicht der Gelegenheitsklassikhörer dünnt, jedenfalls mindestens relativ gesehen, sehr aus.

    Es verändert sich etwas, sogar Grundlegendes, kein Zweifel. Ich kann fast alle von Dir hier genannten Punkte zumindest nachvollziehen. Fraglich bleibt aber, wie die einzelnen Elemente miteinander reagieren, ob z.B. der Distinktionsgewinn durch die immer stärkere Diversifikation des "Klassikpublikums" möglicherweise doch nicht vermindert, sondern nur weiter aufgefächert wird. Ich zweifele nicht (oder nur wenig) an den von Dir referierten Diagnosen, aber Prognosen sind nochmal was anderes - und da habe ich im Laufe der Jahre ein gewisses Misstrauen entwickelt (dazu diente das Beispiel mit dem "Spätkapitalismus", das Du ja ganz richtig eingeschätzt hast). Leichte Zweifel habe ich u.a., ob die Zahl der Gelegenheitsklassikhörer wirklich ausdünnt, mein (nur auf anecdotal evidence beruhender) Eindruck ist ein anderer. Ist das "postfordistische Massengut" auf dem Klassikmarkt wirklich so im Abnehmen begriffen? So ein den ganzen Markt beherrschendes Gut wie Karajan wird es sicher nicht mehr geben, aber gerade für den Gelegenheitsklassikhörermarkt ( :D ) ist doch eher ein Boom der Lang-Lang-Netrebko-Produkte zu verzeichnen.

    Jedenfalls bestreite ich nach wie vor ein "Aussterben" des Klassikpublikums, wie es Herr Tröndle von der Zeppelin-Universität in der eingangs zitierten Pressemeldung suggeriert.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Eigentlich will ich hier keine Bildungssystemdiskussion führen und habe auch keine rechte Lust auf diesen Beitrag. Aber einige Sachen will ich hier nicht ohne Gegenrede stehen lassen.

    Die Kürzung der Gymnasialzeit von 13 auf 12 Jahre kann man keinesfalls pauschal als Schulzeitverkürzung ansehen. Denn gleichzeitig hat sich der Anteil eines Jahrgangs, der das Gymnasium besucht, deutlich erhöht. Zu einem nicht unbeachtlichen Teil liegt eine Schulzeitverlängerung von 9 bzw. 10 auf 12 Jahre vor. Ähnlich verhält es sich mit einer eventuellen Studienzeitverkürzung wegen des gegliederten Studienstystems.

    Zu dem alten Vorwurf, immer mehr Stoff würde in immer kürzerer Zeit zu lernen sein. Das halte ich (zumindest in den von mir beobachteten Fächern) für ein haltloses Mantra! Aber genauere Ausführungen hierzu gehen am Thema vorbei.

    Jammern ist eben ansteckend...


    Falstaff

  • Das halte ich (zumindest in den von mir beobachteten Fächern) für ein haltloses Mantra!

    Hm. Ich nicht. Und sogar unser Kultusminister mit seinen MBs nicht mehr.

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Meinen Informationen zufolge ist zumindest in Hamburg die Verkürzung auf 12 Schuljahre nicht mit einer merklichen Straffung der Lehrpläne einhergegangen. Wenn aber der fast identische Stoff in 12 statt 13 Jahren gelehrt wird, ist es logisch, daß die Dichte des Lehrstoffes steigt. In den universitären Bachelor-Master-Studiengängen ist die Lehre jetzt extrem stark strukturiert, und die Anzahl der studienbegleitenden (und damit für den Abschluß relevanten) Prüfungen ist sehr hoch. Das wirkt auch nicht gerade entspannend.

    Zum eigentlichen Thema zurück: Wir haben hier m. E. ein grundlegendes Problem. Es gibt zwar Studien über die Struktur des Klassik-Publikums, aber offensichtlich keine Langzeit-Daten. Damit können wir aber nicht beantworten, ob es immer schon so war, daß das Klassik-Publikum bevorzugt aus älteren Leuten besteht, die in die Rolle als Klassikhörer quasi hineinwachsen, oder ob die Altersstruktur sich vorschoben hat. Die Konsequenz ist, daß wir auf unser subjektives Erleben und Empfinden angewiesen sind, ob es zu strukturellen Änderungen in der Hörerschaft gekommen ist oder nicht. Aus meinen letzten Opernbesuchen würde ich schlußfolgern, daß der Pflege dieser Kunstform leider keine lange Dauer mehr beschieden sein kann, denn der Altersschnitt des dortigen Publikums ließ jeden Musikantenstadl altersmäßig wie MTV oder Viva erscheinen.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Prognosen sind nochmal was anderes - und da habe ich im Laufe der Jahre ein gewisses Misstrauen entwickelt

    Ja, da bin ich auch ganz vorsichtig, erst recht, wenn es nicht so meine Arbeitsgebiete sind, - das sind eher Wirtschafts- und Arbeitssoziologie - sorrry, für das sehr geraffte "zu viel" :hide: - und wenn die Lage so widersprüchlich und auch deswegen besonder schwer abschätzbar ist, wie derzeit.

    Ist das "postfordistische Massengut" auf dem Klassikmarkt wirklich so im Abnehmen begriffen?

    Äh, das fordistische Massengut, also das, was wie ein Ford T-Modell massenhaft ohne große Veränderungen einheitlich hergestellt werden kann und möglichst breite Kreise bedient. Viele Kenner konnten ebenso auf Karajan abfahren, wie das Publikum der Kaiser-Leser, wie aber auch der, der nur halt auch einen Beethoven im Eichenschrank stehen haben wollte. Das war übersichtlich und leicht kalkulierbar. Mir erscheinen die Lang Lang -Strategien als Rückzugsgefechte. Um sie durchzusetzen ist ein viel höherer, auch kostenintensiverer Aufwand nötig. Hier spielen auch die Veränderungen in der Medienlandschaft und die geringere Bedeutung der Feuilleton-Flagschiffe der Printmedien eine Rolle. Die Lang-Langs ziehen auch weniger nach, das Gelblabel verkauft durch Lang-Lang nicht mehr auch viel anderes. Das läßt sich, glaube ich, schon belegen.

    Jedenfalls bestreite ich nach wie vor ein "Aussterben" des Klassikpublikums, wie es Herr Tröndle von der Zeppelin-Universität in der eingangs zitierten Pressemeldung suggeriert.

    Ja, würde ich auch so sehen, aber interessant wird es eben, wie und mit welchen Auswirkungen sich das Publikum verändert, ob etwa die, vergleichsweise mit früher, geringere Bedeutung von Klassik für "die Eliten", dadurch kompensiert wird, dass insgesamt mehr Menschen über höheres Bildungskapital verfügen oder auch dadurch, dass die wachsende Zahl von gesunden und ökonomisch wie bildungskapitalmäßig gut ausgestatteten Alten nach erfüllenden Beschäftigungen suchen. Vielleicht fangen die ja auch einiges in Zukunft auf? Dann wären Überalterungsbeobachtungen, die ich auch mache, nicht weiter dramatisch. Es ist hier ja auch schon von anderen beschrieben worden, wer Geld hat, hat im Berufsleben weniger Zeit, sich mit etwas zu beschäftigen, wozu eben nicht mehr selbstverständlich die Grundlagen geschaffen werden und wer zu viel Zeit hat, nicht das Geld und wenig Anreize. Vielleicht verschiebt sich bei, mindestens einigen, von denen, die durch höheres Bildungskapital immer noch eher als potentielle Klassikhörer in Betracht kommen, nur das Lebenszeitalter, in dem Klassik ein Gegenstand der Beschäftigung wird?

    Es gibt zwar Studien über die Struktur des Klassik-Publikums, aber offensichtlich keine Langzeit-Daten.

    Es ist halt auch nicht mein Arbeitsgebiet, aber es gibt schon einiges, z.B. in Deutschland ein viele Kilo schweres Jahrbuch Musik-Ökonomie, prall gefüllt mit Daten und analytischen Auswertungen. Aber wenn es stimmt, dass die Lage sehr widersprüchlich ist, erleichtert das trotzdem nicht unbedingt die Prognose.

    Ich glaube jedenfalls, dass ein Forum wie dieses, in dem neben Klassik auch die anderen Musikkulturen Gegenstand sind, wohl nicht nur immer mehr dem Musikhörerverhalten entspricht, sondern auch eine wichtige Brückenfunktion erfüllen kann.

    In dem Zusammenhang finde ich auch den Gedanken von Kunnukun interessant, über genreübergreiffende Qualitätskriterien nachzudenken und diese in die Diskussion zu bingen, jedoch müßte man über das Verhältnis von genreübergreiffenden und je genrespezifischen genau nachdenken. Finde ich nicht einfach. Aber dazu gehört schon dann wohl auch, Mist Mist zu nennen und das möglichtst nachvollziehbar zu begründen und dann etwas ähnliche, aber bessere Alternativen anzugeben; streitbar, aber freundlich, mit Humor und ohne persönliche Abwertungen.

    Und dazu gehört wohl auch, jenseits von "Regietheater"-, oder Neue Musik-Diskussionen ein Bewußtsein, dass Klassikliebhaber auch einiges gemeinsam zu verteidigen haben, am besten auch im Bündnis und nicht gegen die Freunde anderer Kunstmusiken. Auf den meisten Jazzkonzerten senke ich auch immer noch den Altersdurchschnitt und Subventionierungen sind hier viel geringer. Dazu vielleicht etwas später ein eigener Thread. Jedenfalls wird die Lage der öffentlichen Haushalte ja weiter beängstigend.

    :wink: Matthias

  • Heute hat Markus Schwering seiner Glosse einen längeren Artikel im Kölner Stadt-Anzeiger folgen lassen, einer Besprechung des Buches
    Martin Tröndle [Hrsg.]: Das Konzert. Bielefeld 2009

    Schwering referiert die Meinung Tröndles, der negative Trend könne umgekehrt werden. Nicht die Musik schrecke die Jugend ab, sondern das Ritual. Nun gibt es meines Wissens mehr als genug Aufführungen außerhalb des Rituals, ohne dass sich mE etwas geändert hat. Schwering listet die Gründe auf

    - rasante Expansion der Popmusik
    - massiver normativer Druck in den Peer-Groups der Jugendkultur
    - Zusammenbruch der Vermittlung durch die Elternhäuser
    - katastrophale Situation des Musikunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen

    Neue Formate lösen das Grundproblem nicht, etwa die 80minütige Bruckner-Sinfonie zu deren Hören auch Wissen über musikalische Motive und deren Entwicklung, Sonatenform und Themenbezüge (und diese noch über die Satzgrenzen hinaus) usw - Schwering moniert zu Recht, dass dies nicht mundgerecht proportionierbar ist.

    Auch die Garrett-Methode bringt nicht weiter: verpopte Schnipsel als Einsteiger wird dann die Besucher eines Konzertes verscheuchen, die auf den Einsatz von Rhythmusinstrumenten warten. Dort hat Vivaldi eben keinen Beat - wenigstens nicht den von der Stange.

    Die entscheidende Schranke wird von Schwering benannt: Klassische Musik ist anspruchsvoll, braucht Kenntnisse.

    In der Rezension "Klassik in der Krise" erfährt man leider viel zu wenig über das Buch, sehr viel über Schwerings Meinungen und seinen Pessimismus, der uns am Ende nur noch auf die digitale Konserve als Hörer beschränkt sieht. Das Neue in dem Artikel ist nicht gut, das Gute nicht neu.

    Schade.

    Es grüßt Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Nicht die Musik schrecke die Jugend ab, sondern das Ritual. Nun gibt es meines Wissens mehr als genug Aufführungen außerhalb des Rituals, ohne dass sich mE etwas geändert hat.

    Caroline Widmann tritt mit Schumann und Neuer Musik in Clubs auf, auch das Fauré Quartet macht Club-Tourneen. Diese Konzerte sind schon voll, mit einem anderen, jüngeren Publikum. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muß der Prophet halt.... Also da könnte schon was dran sein. Aber so etwas kann natürlich noch keine Trends umdrehen.

    :wink: Matthias

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