Stirbt das Klassik-Publikum aus?

  • Stirbt das Klassik-Publikum aus?

    Unter der Überschrift Klassikpublikum "stirbt aus" sagt die Nachrichten-Agentur dpa Konzert- und Opernhäusern in Deutschland einen dramatischen Niedergang voraus. Sie beruft sich auf eine Studie die eine Überalterung des Publikums ausgemacht haben will. Der Kulturwissenschaftler Prof. Martin Tröndle von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen schreibt in dieser am Dienstag veröffentlichten Studie, dass das Klassikpublikum in den nächsten 30 Jahren um mehr als ein Drittel zurückgehen wird: "Es stirbt einfach aus." Das große Problem der Konzert- und Opernhäuser sei der mangelnde Nachwuchs in jüngeren Altersgruppen, die eine völlig andere musikalische Sozialisation erlebt haben.

    Nun war ich am Samstag beim Preisträgerkonzert von "Jugend musiziert" in Leverkusen (dazu der "http://www.leverkusener-anzeiger.ksta.de/html/artikel/1264185826822.shtml" KStA), eine Woche zuvor in Solingen. In beiden Fällen ging es um den regionalen Wettbewerb, der die Preisträger zum Landeswettbewerb nach Essen weiterleitet. Auswahl der Stücke und ihre Darbietung machen einem gegenüber Unkenrufen ziemlich resistent. Wenn dort von einem Plus an Teilnehmern ("Riesenandrang beim Wettbewerb" titelte das "http://www.solinger-tageblatt.de/Home/Solingen/…23c80e89be6b-ds" Solinger Tageblatt), für jeden hörbar auch von einem hohen Niveau gesprochen werden konnte, so fragt man sich, woher Prognosen à la Tröndle kommen.

    Was denkt man im Forum dazu?

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Wenn Rattle seine Philharmoniker dirigiert, ist die Philharmonie rappelvoll - keine Krise.
    Wenn Rattle in der rappelvollen Philharmonie dirgiert, ist ein Gutteil des Publikums seit einigen Jahren im Renten-Alter - Kri-se!

    Ob das Klassik-Publikum langsam aber sicher ausstirbt, vermag ich aufgrund meiner Eindrücke bei Konzert- und Opernbesuchen nicht zu beurteilen. Natürlich ist ein Gutteil des Publikums alt, sagen wir mal: über 60. Doch in der Rückschau habe ich eigentlich das Gefühl, dass das immer schon so war (wobei einem, wenn man 12 ist, auch 40-Jährige wie Greise erscheinen mögen). Man muss in diesem Zusammenhang ja auch überlegen, wer denn die Zeit hat, so regelmäßig Konzerte zu besuchen. Bei mir jedenfalls sieht es damit immer schlechter aus, ich werde wahrscheinlich auch Abos kündigen, weil ich es einfach nicht immer schaffe, rechtzeitig zum Veranstaltungsort zu gelangen. Wie ich aus dem Bekanntenkreis weiß, bin ich mit diesem Problem nicht allein.
    Gut, blieben die Studenten, die hätten ja vielleicht auch die Möglichkeit, ihre Zeit etwas freier einzuteilen. Tatsächlich habe ich auch den Eindruck, dass durchaus auch junge/ganz junge Leute in den Konzerten anwesend sind. Wobei deren Prozentsatz meinem Eindruck nach beispielsweise beim DSO höher ist als bei den BPhil, was vermutlich auch mit den Kartenpreisen zu tun haben wird - und mit einem moderneren Programm. Grundsätzlich habe ich das Gefühl, dass bei "modernerer" Musik das Publikum jünger ist, aber auch das ist natürlich lediglich hoch subjektiv.

    Später mehr.

    :wink:

    Jein (Fettes Brot, 1996)

  • Aus meinen subjektiven Beobachtungen heraus muss ich Tröndle Recht geben. Es gibt zwar eine in Relation zu früheren Zeiten eher größere, über Wettbewerbe wie "Jugend musiziert" hochgezüchtete Instrumentalistenelite, Leute, die teilweise später Musik studieren, aber diesem immer noch winzigen Grüppchen von Spezialisten steht eine breite Front von an Klassik vollkommen desinteressierten Jugendlichen entgegen.

    Diejenigen von den bislang durch meinen Unterricht gegangenen Musikschuleleven, die freiwillig ein Sinfoniekonzert oder eine Opernaufführung besuchen bzw. eine Klassik-CD in den Player legen, lassen sich leicht an den Fingern einer Hand abzählen (es sind von seltensten Ausnahmen abgesehen eben auch die, die später den Weg an eine Musikhochschule gefunden haben). Nicht einmal diejenigen jungen Menschen, die ein "klassisches" Instrument lernen, interessieren sich also wirklich für die entsprechende Musik! Wer dann??

    Viele Grüße

    Bernd

  • Ich denke, dass ein Problem ist, was man unter Klassik-Publikum versteht. Wenn man es (wie Ekkehard und Tröndle) an großen Konzerthäusern und Oper festmacht, kann der Eindruck natürlich ein anderer sein, als wenn man die Konzertszene unterhalb des high-price-Levels ansieht. Als Schüler bin ich z.B. auch häufiger in Orgelkonzerte gegangen, weil die keinen Eintritt kosteten.

    Um es mal aus der Perspektive der Musikschule zu sehen, die ich ja als Antithese angeführt habe: Ich kann Bernd nicht bestätigen, dass Musikschüler nicht in Konzerte gehen. Mein jüngster geht als Akkordeonist natürlich vorwiegend in Akkordeon-Konzerte, aber auch in andere (inzwischen beginnt sein Klavierunterricht auch seine Früchte zu tragen), hin und wieder mit anderen Musikschülern und deren Eltern. Man kann es sicher nicht verallgemeinern, es hängt meistens von den Eltern ab. Bei mir war es vor allem mein Cello-Lehrer, der mich zum häufigen Konzert- und Operbesuch brachte. Bevor ich die jeweiligen Schüler-Abos hatte, waren es die Karten, die er als Mitglied des Stadtorchesters mir weiter reichte.

    Also: Zumindest ein Teil der Musikschüler geht nicht nur in Konzerte, sondern wirkt auch als Multiplikator (so hat mein jüngster auch schon Klassenkameraden zum Mitgehen gebracht). Das sind natürlich alles keine statistikfesten Angaben ;+)


    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Nach meiner Erfahrung hängt das ganz entschieden vom sozialen Umfeld ab und dazu zählen insbesondere die Gleichaltrigen, Schulfreunde, etc . Die Eltern legen zwar das Samenkorn in die Erde und müssen auch die finanziellen Möglchkeiten bieten kônnen, aber düngen tun dann Andere.
    Meine Tochter wurde von klein auf mit "Hochkultur" gefüttert, weil es bei uns im Hause schlicht gar ncihts anderes gab. Mit Absicht hatte das nichts zu tun, es war einfach organisch, weil unser Leben.
    Alles was Literatur betrifft, ist hängengeblieben und sogar weitergemacht worden, Alles, was klassische Musik angeht, mehr oder weniger verschollen (bis auf Richard Wagner.... :D ) Gitarren-und Klavierunterricht hin oder her.
    In ihren Freundeskreisen war Klassik so was von megaout, dass sie obschon alles Andere als eine angepasste Persönlichkeit, gar nciht auf die Idee gekommen wäre, Oper oder Konzert als Unternehmung vorzuschlagen. Der Einfluss der peer-group bei Heranwachsenden ist nun mal viel grôsser als der der Eltern. Es gab Opern/Konzertbesuche vo nder Schule organisiert. Das ist aber nciht allen Eltern môglich zu finanzieren, der Instrumentalunterrciht erst Recht nicht. Bei alleinerziehenden und sozial Schwachen wird das zum echten vom mund "Absparen", so nciht Grosseltern, Onkels etc da einspringen.

    Ich erlebe hier in Frankreich eine ganz erfreulich hohe Anzahl junger Menschen in klassischen Konzerten. die gesamte Galerie der Oper Lille ist immer voll mit Jugendllichen und es wird von Staatsseite viel getan, Schulklassen solche Besuche zu sponsern. Bei meinem Psychiatriepraktikum gab es sogar ein Projekt der Oper Lille mit der Jugendpsychiatrie, wo junge Patienten zur Generalprobe der Perichole von Offenbach eingeladen waren und das dann gleich in den therapeutischen Prozess mit eingearbeitet wurde.Sie wurden auch entsprehcend auf den Inhalt und die Musik vorbereitet. Ich hatte zwei Patienten, die noch nie eine Oper gesehen hatten, vorher und anschliessend in einer Gruppe und es hat mich tief beeindruckt, welche Wirkung die Gattung Oper auf junge Menschen haben kann. Sowas fidne ich grossartig udn hoffe, dass es in Deutschland auch solche Initiativen gibt.

    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Nunja, wenn ich so zurückblicke:

    erst hatte ich das Geld nicht für regelmäßige Konzert- oder gar Opernbesuche, dann lange Jahre schlicht die Zeit nicht dazu...

    Aber dieses Argument greift nicht, wenn es darum geht, die fehlende Teilnahme der Jugend zu erklären: Die Eintrittspreise bei Rock- und Pop-Konzerten sind nämlich in der Regel deutlich höher als bei klassischen Konzerten, oft sogar teurer als gute Opernkarten. Wenn man die Vergünstigungen mitrechnet, die Schüler und Studenten üblicherweise auf die Preise bekommen (ganz besonders bei den Staatsopern!!!) dann ist "mangelndes Geld" nur ein höchst nachgeordnetes Motiv, nicht hinzugehen.*)

    Es ist tatsächlich so, daß viele bzw. die meisten Jugendlichen eine Musiksozialisation erleben, die sie "nicht-klassikoffen" (so die ARD-E-Musikstudie von 2005) sein läßt. Kompetenz in klassischer Musik gehört auch nicht mehr notwendigerweise zum Bildungskanon, d.h. daß von Personen mit hohem sozialen Status nicht unbedingt erwartet wird, daß sie entsprechende Kenntnisse (und Vorlieben) aufweisen. Damit entfällt auch das Maotiv, sich damit zu beschäftigen, wenn man selbst einen entsprechenden Status anstrebt. Nachdem ein großer Teil der Musiksozialisation im Elternhaus vermittelt wird, dort aber mit fortschreitenden Generationen immer weniger Eltern selbst eine entsprechende Sozialisation erlebt haben, ist der Rückgang des Interesses für klassische Musik eigentlich ein zwangsläufiger Effekt. Diese Erkenntnis ist allerdings nicht wirklich neu (dpa!!!), das kann man schon seit einigen Jahrzehnten beobachten.

    Die rege Teilnahme an "Jugend musiziert" und ähnlichen Veranstaltungen spricht da nicht dagegen. Solche Veranstaltungen repräsentieren nicht die Allgemeinbevölkerung, das sind Sammelpunkte für diejenigen, die sich für klassische Musik interessieren. Da trifft sich halt die Minderheit. Den Rest findet man bei "Rock im Park" (und anderen Veranstaltungen) - und jetzt vergleichen wir mal, wieviele hier und dort zu finden sind...


    PS: mit Einzelfällen aus der eigenen Umgebung lassen sich valide statistische Daten nicht widerlegen...

    -----
    *) Natürlich waren auch bei uns die Preise von Schüler-/Studentenkarten in der Oper lächerlich niedrig. Nur: Damals gab es die nur an der Abendkasse - wenn es sie denn gab. Das bedeutete, daß man sich in Schale zu werfen hatte (es gab Zeiten, da war jemand mit Pullover in der Oper underdressed...), u.U. eine längere Anfahrt in Kauf zu nehmen hatte, um dann unter Umständen keine Karte zu bekommen und unverrichteter Dinge abzuziehen, das aber in einer Kleidung, die nun auch nicht wirklich kneipentauglich war.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Zitat

    Das sind natürlich alles keine statistikfesten Angaben

    Hier kann wohl jeder erst einmal nur von seiner eigenen Wahrnehmung ausgehen.

    Die Misere, die ich rings um mich beobachte, hängt übrigens meiner Auffassung nach mit einem im völlig schiefen Gleise laufenden (Schul)bildungssystem zusammen. Mehr dazu vielleicht heute abend (in einem Extrathread?), wenn ich mit der Arbeit fertig bin.

    Viele Grüße

    Bernd

  • Musik in der Schule: die trägt zur Musiksozialisation nicht allzuviel bei, das wird sich auch nicht ändern, denn es ist eine Frage der Wahrnehmung: klassikinteressierte Jugendliche bewerten klassicche Musik im Musikuntericht anders, als solche, denen das am Arsch vorbeigeht. Das ist allerdings nicht auf das Fach Musik beschränkt, das gilt genauso für Mathemathik, Naturwissenschaften, Deutsch, Geschichet und alle anderen Fächer auch.

    Nochmal: ARD-Studie. In Auszügen nachzulesen in den Media Perspektiven 2006. Man muß über die Phänomene nicht spekulieren. Sie sind beschrieben:

    "http://www.media-perspektiven.de/fachzeitschrif…tml?&no_cache=1

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)


  • Die Misere, die ich rings um mich beobachte, hängt übrigens meiner Auffassung nach mit einem im völlig schiefen Gleise laufenden (Schul)bildungssystem zusammen. Mehr dazu vielleicht heute abend (in einem Extrathread?), wenn ich mit der Arbeit fertig bin.

    Lieber Bernd,

    ein Extrathread scheint mir (noch?) nicht notwendig, es ist ja gerade die Frage, die ich gestellt habe und die Du beantwortest. Von mir schon einmal im Vorhinein eingebracht: Von der Schule gingen auch bei mir nicht die entscheidenden Impulse aus, was den Konzertbesuch anging, selbst von meinem Musiklehrer am Gymnasium nicht. Da ging die Orientierung eher in Richtung Schulchor und Schulorchester - und in Richtung Instrumentalunterricht. Eine Musikveranstaltung haben wir mit der Klasse oder der Schule (GottseiDank) nie besucht (mir reichte schon der Schauspielbesuch).

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)


  • Nochmal: ARD-Studie. In Auszügen nachzulesen in den Media Perspektiven 2006. Man muß über die Phänomene nicht spekulieren. Sie sind beschrieben:

    "http://www.media-perspektiven.de/fachzeitschrif…tml?&no_cache=1"

    Da kommt man ins Zeitschriftenverzeichnis, den Artikel über die Studie findet man in "http://www.media-perspektiven.de/1398.html" Heft 5/2006

    HTH

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Nunja, wenn ich so zurückblicke:

    Die Eintrittspreise bei Rock- und Pop-Konzerten sind nämlich in der Regel deutlich höher als bei klassischen Konzerten, oft sogar teurer als gute Opernkarten. Wenn man die Vergünstigungen mitrechnet, die Schüler und Studenten üblicherweise auf die Preise bekommen (ganz besonders bei den Staatsopern!!!) dann ist "mangelndes Geld" nur ein höchst nachgeordnetes Motiv, nicht hinzugehen.*)

    Danke, dass da mal jemand darauf hinweist. Ich war, obwohl ich durchaus Interesse an manchen Geschichten habe, bisher noch nie auf einem ordentlichen Rockkonzert (Festivals ausgenommen), ganz einfach weil mir die Preise zu hoch sind.

    :wink:

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Zitat

    Von mir schon einmal im Vorhinein eingebracht: Von der Schule gingen auch bei mir nicht die entscheidenden Impulse aus, was den Konzertbesuch anging, selbst von meinem Musiklehrer am Gymnasium nicht.

    Die fehlenden Impulse seitens der Schule sind aus meiner Perspektive nicht das Hauptproblem. Dieses besteht vielmehr darin, daß die Schüler heutzutage mit einem ungeheuren Wust an totem "Stoff" zugeballert werden und alleine schon deshalb kaum noch eigene Initiativen entwickeln können. Ich kann das später gerne an einem Exempel erläutern - aber wie gesagt erst am Abend - die Berge von bestellten Rohren bauen sich leider nicht von selber....*ächz*....

    Viele überlastete Grüße

    Bernd

  • Zitat

    Die fehlenden Impulse seitens der Schule sind aus meiner Perspektive nicht das Hauptproblem. Dieses besteht vielmehr darin, daß die Schüler heutzutage mit einem ungeheuren Wust an totem "Stoff" zugeballert werden und alleine schon deshalb kaum noch eigene Initiativen entwickeln können.


    Die Frage ist dann wieder: Was ist toter Stoff? Das ist nämlich je nach Blickwinkel jeweils etwas anderes. Es gibt eine kräftige Fraktion, die findet, daß gerade der Musikuntericht an der Schule solch ein toter Stoff wäre, der zugunsten anderer Fächer mit höherer "Wirtschaftstauglichkeit " zu reduzieren, wenn nicht gar abzuschaffen wäre....

    Wenn man alles entrümpeln würde, was irgend jemand als unnötigen Ballast empfindet, dann bliebe nicht viel mehr übrig, als der Stoff der Grundschule... ;+)

    Und es ist ein weiteres Problem, daß man während der Schulzeit meist nicht vorhersagen kann, welchen Stoff man später vielleicht doch noch einmal benötigt. (Mir fallen da jedenfalls in meiner Biographie eine ganze Reihe von Beispielen ein...)

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Hallo Bustopher,

    in welchen Bereichen man den Lehrstoff konkret reduzieren könnte, ist die übernächste Frage. "Toter Stoff" ist für mich zunächst einmal jeder Stoff, von dem nichts oder so gut wie nichts hängengeblieben ist.

    Ich beobachte jedenfalls mit einem ziemlichen Gruseln bei meinen Schülern, wie in mittlerweile nur noch 8 Gymnasialjahren immer mehr Material in die Köpfe hineingetrichtert wird, Material, welches zu einem Großteil kurz nach der enstprechenden Klausur oder dem entsprechenden Test das Hirn unverdaut wieder verlässt, damit genug Platz für die nächste Fuhre vorhanden ist. Es wird viel gelernt, aber fast nichts verinnerlicht - die Menge geht klar auf Kosten der Nachhaltigkeit.

    Wie gesagt bringe ich später noch ein konkretes Beispiel für meine Auffassung.

    Viele Grüße

    Bernd

  • So, jetzt nutze ich doch schon mal die Mittagspause und nehme meine Schülerin C. als Beispiel.

    C. ist eine sympathische, aufgeweckte, offene junge Frau, die in den nächsten Monaten ihr Abitur machen wird. Sie hat gute Schulnoten, ist mir gegenüber ausgesucht höflich und betritt den Unterrichtsraum stets mit einem Lächeln. Obwohl sie nur wenig übt (das Schulorchester hat sie aus Zeitgründen ganz aufgegeben), unterrichte ich sie gerne, da sie musikalisch begabt ist und ebenso klangschön wie intonatorisch erträglich (Intonation ist auf der unserem Instrument ein Riesenproblem) Oboe spielt.

    Wenn ich C. eine Fachfrage (z.b. zum Thema Quintenzirkel) stelle, kommt mit schöner Regelmäßigkeit die Antwort: ".....ja, das hatten wir mal in der Schule...." Danach ist Ende im Gelände.

    Neulich anlässlich des Durchgehens der ersten Schumann-Romanze wollte ich von C. wissen, welcher Epochenschublade Robert Schumann denn zuzuordnen sei (das Geburts- und Sterbedatum des Komponisten war übrigens über den Noten zu sehen). Nach längerem Zögern meinte C. ".....äh....Expressionismus?"

    Ich wette, dass keine besseren Antworten kommen würden, wenn ich C. zu Michelangelo, Hegel oder Rilke befragen würde (es sei denn, einer der Genannten sei vor höchstens 2 Wochen in der Schule "dran" gewesen).

    C. ist in meinen Augen kein Ausnahmefall, sondern steht stellvertretend für die meisten (guten!) Abiturienten. Die haben vieles in der Schule schon mal "gehabt", aber ein noch so rudimentärer Überblick über *Moses und Goethe*, mithin über die kulturellen und geistesgeschichtlichen Dimensionen unserer merkwürdigen Welt ist nicht einmal im Ansatz vorhanden. Und da drängt sich mir schon die Schlussfolgerung auf, dass das System im Hinblick auf nachhaltige Bildung komplett versagt.
    Wem nutzt denn ein gewaltiger Wissens- und Faktenwust, der zum einen Ohr hinein und zwei Wochen später nach mit *gut* bestandenem Test zum anderen wieder hinaus marschiert? "Semper aliquid haeret", gewiss, aber es stellt sich schon die Frage, wieviel am Ende angesichts eines gewaltigen Aufwandes hängengeblieben ist.....

    Nebenbei bemerkt: Die Ausbeute an lebendigem Wissen war zu meiner Schulzeit, so ich mich richtig erinnere, auch nicht viel größer, aber ich hatte einfach mehr Raum, mir den für mich wichtigen "Bildungsstoff" selbstständig anzueignen. Wenn ich in der jetzigen G8-Zeit zur Schule gehen müsste, würde ich mich vermutlich binnen kürzester Frist an einer Laterne vor den Türen der Bildungsfabrik aufhängen!

    Viele Grüße

    Bernd

  • Ich beobachte jedenfalls mit einem ziemlichen Gruseln bei meinen Schülern, wie in mittlerweile nur noch 8 Gymnasialjahren immer mehr Material in die Köpfe hineingetrichtert wird, Material, welches zu einem Großteil kurz nach der enstprechenden Klausur oder dem entsprechenden Test das Hirn unverdaut wieder verlässt, damit genug Platz für die nächste Fuhre vorhanden ist. Es wird viel gelernt, aber fast nichts verinnerlicht - die Menge geht klar auf Kosten der Nachhaltigkeit.

    Wie gesagt bringe ich später noch ein konkretes Beispiel für meine Auffassung.

    Viele Grüße

    Bernd


    Da stimme ich Dir zu. Das liegt zum Teil darin, daß der Lehrstoff nicht mehr vernetzt ist. Früher, vor der reformierten gymnasialen Oberstufe, war es jedenfalls so, daß z.B. die Mathematik in der Physik benötigt wurde, die Physik in der Chemie und die Chemie in der Biologie. Bei andern Fächern, etwa Deutsch und Geschichte gab es ähnliche Wechselwirkungen. Mit der relativ freien Fächerwahl kann es heute aber durchaus vorkommen, daß wichtige Voraussetzungen aus dem einen Fach im anderen fehlen, und damit das Verständnis und die Nachhaltigkeit des Lernens erschwert werden. Es ist nicht gut, wenn Lerninhalte nach der einschlägigen Prüfung vergessen werden können... (Aber das gibt es in manchen Hochschuldisziplinen mittlerweile auch)

    Mir fehlt da auch die Qualitätskontrolle bezüglich Nachhaltigkeit des Lernens. Solange es aber ausreichend ist, nur für die nächste Prüfung zu lernen und dann den Stoff abhaken zu können, solange wird sich da auch nichts ändern.


    Zitat

    "Toter Stoff" ist für mich zunächst einmal jeder Stoff, von dem nichts oder so gut wie nichts hängengeblieben ist.

    hmm... könnte das nicht auch individuell unterschiedlich sein? (Was einen ohnehin interessiert bleibt besser hängen) Und/oder eine Frage der Präsentation? (Ich habe mich bei meiner Tochter auch hin und wieder gefragt, warum manche Dinge so umständlich und kompliziert erklärt wurden...)

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Stirbt das Klassikpublikum aus?

    Meiner Erfahrung nach ist bei Jugendlichen die persönliche Motivation und Neugierde entscheidend.
    So war es auch bei mir, der außer im schulischen Unterricht nirgends mit klassischer Musik in
    Berührung gekommen ist.
    Jetzt kann man darüber spekulieren ob die heutige Jugend weniger neugierig und/oder motiviert
    ist, ich persönlich glaube das weniger. Da wird sich, totz Veränderung der Rahmenbedingungen
    nichts geändert haben. was sollte auch der Grund sein.
    Vielleicht sollte man einfach akzeptieren, das heute die kulturelle Bandbreite die man
    geboten bekommt um ein vielfaches Größer geworden ist, und sich somit die
    Jugend und die jungen Leute einfach anderes verteilen. Soll heißen darunter
    leidet vermutlich nicht nur die klassische Musik, sondern auch andere kulturelle ( als
    klassisch geltende) Bereiche.

    meine persönlich Wahrnehmung ist da übrigens eine andere, ich gehe seit ca. 30 Jahren
    in Konzerte und kann nicht behaupten das da nur noch alte Leute im Gegensatz zu früher
    hingehen. Aber das kann auch damit zusammenhängen, das meine Wahrnehmung von alt
    in den Jahren eine Wandlung erfahren hat. :thumbup:

    Holger

    P.S. Toter Stoff ist nur solange tot, wie man ihn selbst mit Leben füllt.

  • Zitat

    ".....ja, das hatten wir mal in der Schule...."


    Vielleicht ist es auch nur das Unvermögen oder die mangelnde Einsicht oder vielleicht auch die mangelnde Übung, Sachverhalte gleich beim ersten Mal "auf Dauer" abzuspeichern.

    Vielleicht liegt es auch an der Flut der Bilder, die suggerieren, daß man etwas verstanden hätte, ohne daß das tatsächlich der Fall wäre, weil die aktive mentale Auseinandersetzung dadurch unterbleibt

    Beispiel Nachrichten, gestern, Tagesschau, Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Datenvorratsspeicherung: Immer dann, wenn gerade niemand interviewt wurde, kam der Text aus dem off, während im Bild irgendwelche Kabel und blinkenden LEDs gezeigt wurden, die mit dem tatsächlichen Inhalt der nachricht eigentlich keinen Bezug hatten. Auf irgendwelchen Dritten Programmen kommt spätabends Tagesschau vor 20 Jahren: Damals gab es viel weniger zappelnde Bilder, dafür mehr und konzentriertere Information Das hat auch meine Tochter letztens bemerkt und war völlig überrascht davon, wie informativ und unaufgeregt diese Berichterstattung war, mit Konzentration auf das Wesentliche. Das kann man auch an anderen alten Dokumentationen festmachen, etwa an der Berichtersttung zur ersten bemannten Mondlandung. Heute ist alles erst mal irgendwie animiert, aber ich stelle immer häufiger für mich fest: Wenn ich es nicht schon wüßte, würde ich es DAMIT nicht verstehen. Man guckt da nur die Bilder an. Sowas hat natürlich auch Auswirkungen auf das Lernverhalten Jugendlicher...

    Aber ich glaube, wir werden gerade reichlich OT...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Zitat

    Aber das kann auch damit zusammenhängen, das meine Wahrnehmung von alt
    in den Jahren eine Wandlung erfahren hat. :thumbup:

    Ja genau: je älter man selber wird, umso jünger wird das Publikum... :D

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)


  • Neulich anlässlich des Durchgehens der ersten Schumann-Romanze wollte ich von C. wissen, welcher Epochenschublade Robert Schumann denn zuzuordnen sei (das Geburts- und Sterbedatum des Komponisten war übrigens über den Noten zu sehen). Nach längerem Zögern meinte C. ".....äh....Expressionismus?"

    Das wäre bei uns (ich hatte vor 20 Jahren Abi) bei den meisten sicherlich auch nicht viel anders gewesen - bei Kunstgeschichte noch mehr als bei Musikgeschichte, denn in Kunst wurde (zumindest bis Ende der Mittelstufe) halt selber gemalt und nicht "Stile der Kunstgeschichte" gelehrt. Die Ausnahme hätten die gebildet, die - wie ich - auch außerschulischerseits ein verstärktes Interesse an (klassischer) Musik hatten.

    Ich denke, das ganze liegt nicht an "zuviel Stoff" sondern daran, dass Musik nunmal ein Nebenfach ist, der Stoff mithin eher "angekratzt" wird, (ausgenommen Leistungsfächler - (oder gibts keine "Leistungsfächer" mehr?)), während der Schwerpunkt (objektiv und ganz unsentimental gesehen auch nicht zu unrecht...) eher auf Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften liegt.

    Gruß,

    Normann

    zwischen nichtton und weißem rauschen

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