Ja, es ist wirklich seltsam, dass einem so großen Kenner nicht aufgefallen ist, was da alles nicht stimmt.
Ich will gar nicht von der Obsession des Streits zwischen Ecclesia und Synagoga anfangen, weil das einfach zu albern ist, aber nehmen wir einanderes, sehr charakteristisches Beispiel: Die Darstellung des »Tannhäuser«. Daraus zum Beispiel dieser Satz:
»Es handelt sich um die Geschichte des Minnesängerns Tannhäuser, welcher der Sinneslust der Venus verfällt, weil seine eigentliche Liebe, die im Grunde geistig begründete zu Elisabeth, der Tochter des Landgrafen von Thüringen, a priori gesellschaftlich nicht statthaft ist.«
Wer das Stück kennt, weiß, dass das Unsinn ist. (Die sprachliche Fehlleistung der »Sinneslust«, einem von zahllosen Missgriffen dieser Art, wollen wir mal schweigend übergehen.) Tannhäusers Liebe zu Elisabeth ist keineswegs »geistig begründet«, wie immer man sich eine solche Liebe vorstellen soll. Wäre er zu einer solchen »geistig begründeten« Liebe in der Lage, gäbe es keinen Konflikt mit den Wartburg-Rittern, und das ganze Stück würde nicht stattfinden. Außerdem ist an keiner Stelle des Stücks keine Rede davon, dass seine Liebe zu Elisabeth a priori gesellschaftlich nicht statthaft ist. (A posteriori schon, nämlich nachdem er beim Sängerkrieg die Bombe gezündet hat. Aber da ist sowieso von einer Möglichkeit, diese Liebe zu verwirklichen, keine Rede mehr, und sei es nur weil diese Möglichkeit für Elisabeth nun (also a posteriori!) ausgeschlossen ist.) Und diese angebliche Unstatthaftigkeit seiner Liebe zu Elisabeth ist auch nicht der Grund, weshalb er die Wartburg verlässt. Vielmehr hatte er Streit mit den anderen Rittern, der mit Sicherheit mit seiner anderen Lebensauffassung zu tun hatte, weshalb es folgerichtig ist, dass er zu Venus ging, wo er sich der Sinnenlust (was für einen Unterschied doch ein Buchstabe machen kann!) hingab, weil ihm das eine tragfähige Alternative zur Welt der Wartburg schien.
Etwas später gibt es diese Kostbarkeit: »Tannhäuser versündigt sich mit seiner sinnlichen Begierde an einer reinen Frau, und er missachtet die gesellschaftlichen Konventionen, indem er als Bürgerlicher die Nichte eines Landgrafen, die Adlige also, begehrt.«
Auch das ist, wie jeder weiß, der das Stück kennt, Unsinn. Der erste Teil des Satzes besagt ja wohl, dass er über Elisabeth herfällt (jedenfalls wenn man des Deutschen halbwegs mächtig ist), was er nicht tut. Aber während das nur wieder eine sprachliche Fehlleistung ist, kann diese Ausflucht für den zweiten Teil des Satzes nicht geltend gemacht werden. Hier ist Tannhäuser plötzlich zu einem Bürgerlichen geworden, obwohl er eine halbe Seite vorher noch ein Minnesänger, also ein Ritter war. Was man sich zur Handlunsgzeit unter einem Bürgerlichen vorstellen soll, und wie man es sich denken soll, dass der zum Sängerwettstreit auf der Wartburg Zutritt hat, ja sogar von den Rittern nachdrücklich eingeladen wird, doch mitzukommen, ist Drüners Geheimnis und kann es meinetwegen auch bleiben, denn das muss er irgendwie geträumt haben. Im Stück steht davon nichts, und es ist auch ganz unmöglich. Ebenso wenig steht im Stück, dass es zwischen Elisabeth und Tannhäuser einen Standesunterschied gibt der die Ehe zwischen ihnen unmöglich machen würde, so dass sein Wunsch, sie zu ehelichen, eine Missachtung der Konventionen wäre. Richtig ist vielmehr, dass der Landgraf genau weiß, dass Elisabeth Tannhäuser liebt und sich sicher ist, dass Tannhäuser des Wettbewerb gewinnen und Elisabeths Hand erbitten wird, die er dann auch erhalten soll. Das geht mir aller wünschenswerten Klarheit aus dem Dialog zwischen dem Landgrafen und Elisabeth hervor – freilich nur für den, der ihn liest. Das hat Drüner anscheinend nicht getan, sonst wäre er nich auf diese Schnapsidee gekommen.
Ganz kurios wird es, wenn er später auf der Basis dieser rudimentären Stückkenntnis fragt: »Geht es hier metaphorisch um die Vereinigung physischer und geistiger Qualitäten, um den Entwurf eines ganzheitlichen Menschentums, das jedoch in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht sein darf?« (Man ahnt, was er mit der »Vereinigung physischer und geistiger Qualitäten« meint, man ahnt auch, welche Prüderie – er wagt es nicht »körperlich« zu schreiben, was zu »geistig« deutlich besser passen würde als »physisch« – ihn zwingt, sich so verdreht aufzudrücken, aber was herauskommt, ist nicht, was er meint, sondern bedeutet einfach gar nichts. Und wieso die Vereinigung physischer und geistiger Qualitäten, die ja auf jeden Fall in jedem Menschen – und wohl in jedem Lebewesen, das etwas wie Geist hat, stattfindet – der Entwurf eines »ganzheitlichen Menschentums« sein soll, und was der Wellness-Begriff »ganzheitlich« hier überhaupt verloren hat, bleibt auch Drüners Geheimnis. Nun aber dekretiert er:) So kann man das Werk heute interpretieren, denn so ergibt es für uns Sinn. Wagner hat es so nicht gemeint.« Leider bleibt er uns die Mitteilung schuldig, wie er es denn sonst gemeint hat, und nennt uns auch nicht das Datum des Telefongesprächs mit Wagner, bei dem ihm dieser diese Mitteilung gemacht hat. Denn weder aus dem Stück noch aus Wagners eigenen Äußerungen zum Thema kann er das entnommen haben.
Solchen Unsinn kann man fast auf jeder Seite finden. Was daran großartig sein soll, erschließt sich mir nicht. Wären neben diesen zahlreichen Unfällen irgendwelche Informationen zu finden, die man bisher nicht hatte, wäre es vielleicht nicht ganz so schlimm, aber solche Informationen gibt es nicht. Was er über Wagners Leben zu erzählen weiß, sind Dinge, die seit langem bekannt sind, die er aber gern mal in falsche Zusammenhänge bringt oder so bizarr beleuchtet wie die Handlung des Tannhäuser. Wenn er da bsiher verborgene Motivationen entdeckt zu haben vorgibt, verhält es sich meist wie mit den Motivationen, die er für die Entwicklungen der Handlung des »Tannhäuser« entdeckt hat, die, das wird niemand bestreiten, der das Stück kennt, reiner Blödsinn sind.
Aber vielleicht irre ich ja auch. Vielleicht ist es ja wirklich so, dass Tannhäuser zu Elisabeth eine rein geistige Beziehung aufgebaut hatte (aus dem Stück geht m.E. hervor, dass es gar keine Beziehung zwischen ihnen gegeben hat); vielleicht ist es ja richtig, dass seine Beziehung zu Elisabeth gesellschaftlich a priori nicht statthaft war (aus dem Stück geht m.E. hervor, dass davon keine Rede ist); vielleicht ist es ja richtig, dass Tannhäuser ein bürgerlicher Minnesänger ist (ich glaube nicht, dass es so etwas gab, mir scheint auch, dass das nirgends erwähnt wird); vielleicht ist es ja wirklich so, dass es als Sünde betrachtet wird, dass der Bürgerliche eine Adlige haben will (ich kann keinen Hinweis im Stück darauf entdecken). Dann lasse ich mich gern belehren. Ich bin wirklich gespannt, wie sich das ermöglichen lässt und freue mich darauf, anschließend einen völlig neuen, bisher ganz ungeahnten Blick auf das Werk zu haben.