Unsere Gedenktafel: Aufklären durch Erinnern oder Verschweigen durch Vergessen?

  • Unsere Gedenktafel: Aufklären durch Erinnern oder Verschweigen durch Vergessen?

    Hallo,

    am Rande und doch zentral:

    im "Spiegel" Nr. 30 vom 26.07.2010 Seite 124-127 ist ein Interview mit dem renommierten Historiker Prof. Dr. Christian Meier („Caesar“, „Athen - Ein Neubeginn der Weltgeschichte“) über sein neues Buch „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“ (München 2010) abgedruckt.

    In diesem Interview vertritt Meier Hypothesen zur Thematik ‚Vergessen als Heilmittel’:

    „Wenn sich Teile der Gesellschaft an erlittenes Unrecht erinnern, kann das den Lebensnerv des Gemeinwesens treffen. Die Dinge können sich auf die Alternative Gerechtigkeit oder Frieden zuspitzen.“

    „...Nein, denn die Erinnerung an Schlimmes erzeugt gern den Drang zur Rache und Widerrache.“

    „Wenn manches sich so liest wie ein Plädoyer für das Vergessen, dann hat das seinen Grund darin, dass ich etwas in Frage stellen wollte. Nämlich diese heute allgemeingültige Annahme: Erinnern, erinnern und nicht vergessen! Dahinter möchte ich ein dickes Fragezeichen setzen. Man muss differenzieren.“

    „…Natürlich kann man aus der Geschichte lernen. Aber man macht selten Gebrauch davon. Wille und Wunsch sind, aufs Ganze gesehen, stärker als die Einsicht.“

    Auf die Frage: „Vergessen kann eine zweite Verletzung und Demütigung der Opfer sein?“ antwortet Meier: „Sicher. Aber es gibt Fälle, wo man ihnen das zumuten muss, so leid es einem tut.“

    Im letzten Teil erfahren wir vom 1929 geborenen Meier wohlbekannte empathische Relativierungen (Kann er persönlich noch nicht vergessen?):
    „Die Generation meiner Eltern konnte ja nichts dafür, dass sie in dieser Zeit geboren wurde. Sie ist da hineingeschlittert, zum Teil.“

    Aber er sagt auch:
    „…Die Erinnerung an Auschwitz ist unabweisbar. Sie muss wach bleiben. Aber sie leidet darunter, dass sie zum Ritual zu erstarren droht…“ und: „Ich gehörte zu denen, die meinten, man müsste ein Denkmal für alle Opfer errichten. Nicht nur für die deutschen Juden.“

    ____


    Dazu meine Meinung:

    Diese Einstellung ist von der Substanz vollständig unwissenschaftlich, es sei denn Meier möchte „das Vergessen“ vornehmlich als „Schwamm drüber“ definiert wissen, wovon man nicht ausgehen kann. Oder er möchte „das Vergessen“ für das gemeine Volk als Friedensgrundlage oder Friedensbeschleuniger verstanden wissen und dazu parallel die Wissenschaftselite aufgrund ihrer Forschungstätigkeit vom Vergessen befreit sehen? Hierauf (der Frage nach dem Vergessen im Zusammenhang mit einem „Fachmann des Erinnerns“ - Zitat "Spiegel") geht Meier ein: "Zum Beispiel, indem er [der Historiker; Anmerkung des Verfassers] den Wunsch zu vergessen zum Gegenstand seiner Forschung macht." Dieses erinnert ein wenig an I. Kant: „Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.“

    Einen Belebungsversuch der Historikerdebatte (Historikerstreit) unterstelle ich Meier nicht; die Ansichten könnten diese aber zumindest unfreiwillig aufblühen lassen und falsche Adressaten zu Dumpfheiten befruchten.

    Seine These ist anmerkungswert, aber nicht stringent - wie der Interviewverlauf zeigt - und widernatürlich. Was soll man ggf. verzeihen oder bewältigen, wer trägt die Verantwortung oder warum sollte Frieden geschlossen werden, wenn man vergessen hat? Er selbst sagt abschließend im Interview: „Ich wäre jedenfalls froh, wenn wir dieses Erinnern nicht nötig hätten. Das hieße aber, dass Auschwitz nicht geschehen wäre…“

    Diese Art von „Vergessen“ trägt die Vorstellung eines - wenn auch im größeren Zeithorizont gesehenen - Kollektivvergessens in sich. Wie soll dieses vonstattengehen, wenn nicht als politisches, volkserzieherisches Programm von oben diktiert? Wer tilgt die persönlichen Erinnerungen? Wer tilgt die Geschichtsschreibung? Wer bestimmt was und wann vergessen wird? Für Meier eine „pragmatische Frage“ des Politikers.

    Wie sollte mannigfaltig individuelles Vergessen vom öffentlichen Vergessen getrennt werden. Geht es um Vergessen oder um angeordnetes institutionalisiertes Verschweigen? (siehe "Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit")?

    Seine These, dass die Einsicht schwächer ist als die Möglichkeit des Vergessens, bleibt unbewiesen; im Grunde ist sie unbeweisbar, denn sonst müsste man sich Erinnern.

    Meier suggeriert, dass Erinnerungsrituale durch Erstarrung ungut seien. Ggf. sollte er seine Thesen mit der Forschung über kulturelle Trauerrituale und deren Funktionen abgleichen.

    Es könnte sich allerdings bei Meiers 'Erinnerung an das Vergessen' (siehe oben) durch die Buchveröffentlichung und das Interview um ein gewolltes Paradoxon handeln?

    Oder um es einmal boshaft und überpolemisch auszudrücken: Die Möglichkeit einer Vorabklärung künftiger, individueller Vergesslichkeit des 81-jährigen ist nicht auszuschließen.

    Bis dann.

  • na ja, vielleicht sollte man erst mal das Buch lesen ;+)

    Ich für meinen Teil (kein Historiker, nur interessierter Laie) kann bisher nichts Schlechtes über Christian Meier sagen,
    und die Zitate geben auch wenig Skandalöses her.

    „Wenn sich Teile der Gesellschaft an erlittenes Unrecht erinnern, kann das den Lebensnerv des Gemeinwesens treffen. Die Dinge können sich auf die Alternative Gerechtigkeit oder Frieden zuspitzen.“
    ...
    „Sicher. Aber es gibt Fälle, wo man ihnen das zumuten muss, so leid es einem tut.“


    Auf Deutschland bezogen fände ich das auch befremdlich. Man kann aber auch an den Nahen Osten oder Südafrika denken. Leider fehlt der Kontext.

    „…Die Erinnerung an Auschwitz ist unabweisbar. Sie muss wach bleiben. Aber sie leidet darunter, dass sie zum Ritual zu erstarren droht…“


    Dafür wurde schon Martin Walser abgewatscht. Richtig bleibt es trotzdem.

    Schöne Grüße,
    Peter

  • Unsere Gedenktafel: Aufklären durch Erinnern oder Verschweigen durch Vergessen?

    Lieber Peter,

    Zitat von Nightrider

    na ja, vielleicht sollte man erst mal das Buch lesen ;+)

    Ja, hier bitte: ;+)

    Zitat von Nightrider

    und die Zitate geben auch wenig Skandalöses her.

    Na ja, von sog. Skandalösem in dieser scharfen Form habe ich auch nichts geschrieben. Ich habe auch nichts gegen Meier, ich nahm Stellung zu seinen Thesen im Interview, welche mir persönlich allerdings ein Ärgernis sind.

    Zitat von Nightrider

    Auf Deutschland bezogen fände ich das auch befremdlich. Man kann aber auch an den Nahen Osten oder Südafrika denken. Leider fehlt der Kontext.

    Im Spiegel werden: "Srebrenica", (antikes) "Athen", "Juden in Russland", "Polen", "Spanien" sowie "DDR" kurz und besonders "Auschwitz" angesprochen. Bzgl. Kontext: Siehe Spiegel oder Buch. ;+)

    Zitat von Nightrider

    Dafür wurde schon Martin Walser abgewatscht. Richtig bleibt es trotzdem.

    Diese Thematik wurde ebenfalls angesprochen. Dazu Meier: "Aber Walsers Formulierungen scheinen mir übertrieben zu sein. Die "Moralkeule" ist so oft nun wieder auch nicht geschwungen worden, im Gegenteil, und wenn, dann weniger von jüdischer als von deutscher Seite." (s. o. bzgl. Stringenz)

    Bis dann.

  • Lieber Keith,

    danke für den Hinweis auf Christian Maiers Thesen, die mir völlig entgangen waren. Finde ich gut, das hier auch zur Diskussion zu stellen, stellen diese Thesen doch zentral unser Erinnerungsprojekt in Frage.

    In diesem Interview vertritt Meier Hypothesen zur Thematik ‚Vergessen als Heilmittel’:

    „Wenn sich Teile der Gesellschaft an erlittenes Unrecht erinnern, kann das den Lebensnerv des Gemeinwesens treffen. Die Dinge können sich auf die Alternative Gerechtigkeit oder Frieden zuspitzen.“

    Merkwürdige Alternativsetzung, besonders da "Gerechtigkeit" für die Opfer ja gar nicht mehr möglich ist. Aber was ist das für ein "Frieden" ohne Eingedenken? Wenn es stimmt, dass Verdrängung die Auslieferung an Wiederholungszwänge bedeutet (- was natürlich nicht meint, dass es droht, sich genau so zu wiederholen; das gibt es in der Geschichte nie -), dann sind Eingedenken und Aufarbeitung die Voraussetzung für Frieden.

    Zitat

    „...Nein, denn die Erinnerung an Schlimmes erzeugt gern den Drang zur Rache und Widerrache.“

    Gerade in jüdischer Tradition ist Eingedenken der Opfer gerade wesentlich, um den ewigen Zyklus einer Rache-"Gerechtigkeit" zu durchbrechen. Viele jüdische Religionsgelehrte halten dies für das Wesen jüdischer Religion. Aktualisiert hat diesen Gedanken vor allem Walter Benjamin in seiner Kritik der Gewalt und den Thesen über Geschichte. Aber auch christlichem Denken sollte dies nicht ganz fremd sein. Und ein Historiker des antiken Athen könnte an die Lehren Solons denken, die Ausgleich und öffentlichen Neubeginn auch nicht auf totalem Vergessen gründen. Aber mit Aufklärung hat Meier es wohl sowieso nicht so:

    Zitat

    „…Natürlich kann man aus der Geschichte lernen. Aber man macht selten Gebrauch davon. Wille und Wunsch sind, aufs Ganze gesehen, stärker als die Einsicht.“

    Wenn das unter bisherigen gesellschaftlichen Vorraussetzungen so war, dann soll man also das Projekt der Aufklärung abbrechen. Das ist deutlich. Das dient dem "Frieden" des Historikers der Herrschenden.

    Zitat

    Auf die Frage: „Vergessen kann eine zweite Verletzung und Demütigung der Opfer sein?“ antwortet Meier: „Sicher. Aber es gibt Fälle, wo man ihnen das zumuten muss, so leid es einem tut.“

    Wer ist denn hier das "man", das beansprucht, die Zumutungen zuteilen zu dürfen? Der Herrenreiter-Historiker, der seinen "Frieden" nicht gefährdet wissen will? - "so leid es einem tut".- Manchmal ist Sprache verräterisch.

    Ansonsten stimme ich auch deiner Kritik, lieber Keith, völlig zu.

    Auf Deutschland bezogen fände ich das auch befremdlich. Man kann aber auch an den Nahen Osten oder Südafrika denken.

    Mit den Wahrheitskommissionen in Südafrika sollte doch gerade Erinnern und Neubeginn ohne Rache erreicht werden, abgesehen davon, dass ich auch historische Aufklärung und rechtsstaatliche Strafverfolgung nicht mit Rache gleichsetzen würde. Auch im Nahen Osten könnte die beiderseitige eindeutige Anerkennung von Shoa und Nakba vielleicht erst die Voraussetzung für vertrauensvollere Friedensverhandlungen sein, die mehr wären, als Versuche den anderen besser über den Tisch zu ziehen zu versuchen, denn das ist in der Tat gescheitert und hat ständig den Rache-Zyklus erneuert.

    Danke, Keith, auch für deine schöne Erinnerung an Frieda Belinfante und überhaupt dafür, dass du hier nicht müde wirst, dieses Projekt fortzusetzen, das sich leider als wohl unendliche Aufgabe erweisen muß.

    :wink: Matthias

  • Unsere Gedenktafel: Aufklären durch Erinnern oder Verschweigen durch Vergessen?

    Zitat von Matthias Oberg


    ...
    Gerade in jüdischer Tradition ist Eingedenken der Opfer gerade wesentlich, um den ewigen Zyklus einer Rache-"Gerechtigkeit" zu durchbrechen. Viele jüdische Religionsgelehrte halten dies für das Wesen jüdischer Religion. Aktualisiert hat diesen Gedanken vor allem Walter Benjamin in seiner Kritik der Gewalt und den Thesen über Geschichte. Aber auch christlichem Denken sollte dies nicht ganz fremd sein. Und ein Historiker des antiken Athen könnte an die Lehren Solons denken, die Ausgleich und öffentlichen Neubeginn auch nicht auf totalem Vergessen gründen. Aber mit Aufklärung hat Meier es wohl sowieso nicht so:
    ...

    Lieber Matthias,

    Gerade diese Tradition spricht auch C. Meier an (vgl. Meier, Christian, Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns – Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010 [basierend auf einer Vorlesung von 1996]). Allerdings mit teilweise anderer anmerkungswürdiger Konnotation.

    Nachdem er gleich zu Anfang (Buchbeginn!, S. 9) unter der irritierenden Überschrift „Ein auffälliger Befund“ verschiedene Daten von ihm positiv bewerteter Beispiele des Vergessens (= Frieden, Amnestie, Verhinderung von Schlimmen) angibt, schreibt er: „Genug der Beispiele, fürs erste. Gegenbeispiele habe ich nur in der Geschichte der Juden gefunden, unter denen vom Deuteronomion bis in unsere Tage ständig und intensiv das Gebot der Erinnerung eingeschärft worden ist.“ (S. 11f.) und weiter: „169mal begegnet das Wort zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel.“ (S. 12) Hat die Bibel (hier: AT) und damit das 5. Buch Mose nicht auch für das Christentum Gültigkeit? Wurde „zachar“ später wissentlich oder unwissentlich anders übersetzt? Warum dieser Ausgangspunkt seiner Überlegungen?

    Ich möchte nicht unterschlagen, dass Meier die Themen: Angriffskrieg, Kriegsverbrechen, Entnazifizierung, Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrecherprozesse, Schuldige, Strafen, Historikerstreit (S. 50ff.) anreißt und schreibt:
    „Das Reich brach zusammen, seine eindeutige Schuld an der Eröffnung des Kriegs war kaum zu leugnen, die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen, die von den Deutschen oder in ihrem Auftrag während des Krieges begangen worden waren, muß [sic] vielen im Nacken gesessen haben.“ Aber er fährt direkt fort: „Damit war jenseits von Sieg und Niederlage eine starke moralische Asymmetrie zwischen den Kriegsgegnern vermacht.“ (S. 54). Meier spricht auch die Zeit des Verschweigens und Verdrängens an und erwähnt die Gegenpositionen von z. B. A. und M. Mitscherlich, A. Koestler und T. Bernhard (S. 58ff.). Meier schreibt auch: „Noch in den achtziger Jahren hatte man im Historikerstreit hart darum zu kämpfen, daß [sic] das ganze Ausmaß der deutschen Verbrechen ohne Wenn und Aber anerkannt wird.“ (S. 79) und „In der Geschichte von Erinnern – Verdrängen – Vergessen stellt Auschwitz etwas völlig Neues dar. Es kann im ganzen [sic] so wenig wie in unendlich vielen Einzelheiten vergessen werden.“ (S. 72)

    Aber es finden sich weitere kommentierende vorbereitende Thesen-Begründungen oder immer wieder einzeln eingebaute Sätze wie:
    „Indes könnte man sich fragen, ob nicht die Herauslösung vieler alter Nazis aus ihren Stellungen, die Ungewissheit über ihre Zukunft, die Angst, aufs Ganze gesehen, eine nützliche Vorbereitung auf die Einordnung in die Demokratie dargestellt hat.“ (S. 53f.)
    „Gern wurde – und wird – dazu ein Satz aus einem 1905 erschienenen Buch des amerikanischen Philosophen George de Santayana zitiert: Wer die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist verurteilt, sie zu wiederholen. Ob das wirklich zutrifft, mag mit guten Gründen bezweifelt werden.“ (S. 73)
    „Kurz, ich möchte mit allem Nachdruck fragen, ob in den fünfziger Jahren, zumindest bis 1958, die Wahrheit über die NS-Vergangenheit wirklich zumutbar war.“ (S. 68)
    „An den Schulen ist ausgiebig, gelegentlich wohl gar zu ausgiebig vom Holocaust die Rede.“ (S. 77)
    „Es fragt sich doch, ob etwa Erstarrung und die ihr korrespondierende Betroffenheit – samt ihren Auswüchsen, dem sogenannten Sündenstolz etwa – die Elemente sind, in denen diese Vergangenheit auf die Dauer lebendig erhalten werden kann. Anders gesagt: Ob nicht notwendig das Bewusstsein von Auschwitz immer neu mit Vorstellungskraft zu unterfangen, immer neu auch in Beziehung zu setzen ist zu den guten und bösen Seiten der damaligen deutschen Gesellschaft.“ (S. 78f.)

    Ich unterstelle Meier keinesfalls Geschichtsbeschönigung. Beim Lesen fragte ich mich jedoch wiederholt: Ja…gut…in Ordnung, aber auf was will Meier eigentlich hinaus? Was ist die Botschaft? Will Meier eine „andere Erinnerungskultur bzw. Aufarbeitung“ oder „keine Erinnerung“? Ein „Abwägen“*? Warum bettet er 'Auschwitz' zwischen Geschichtsbeispielen aus alter (Antike, Mittelalter) und jüngerer Vergangenheit (Spanien, Polen, Kambodscha, USA (Indianer, Sklaven), Südafrika etc.? Ich komme leider immer wieder auf seine Ausgangsthese, den Buchanfang und das Interview zurück.

    * Meier schreibt einmal (!) ziemlich zum Ende bevor er auf den Umgang mit der DDR-Vergangenheit eingeht: „Der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen muß also stets neu ausgefochten werden…So laut und berechtigt und notwenig der Aufschrei der Opfer und all derer, die als ihre Anwälte fungieren können, immer wieder sein wird: Stets neu wird sich, vermute ich, auch die Frage stellen, ob Vergangenheit nicht besser ruht. Wobei wohl auf einer Unterscheidung zu bestehen sein wird: Wo es sich um Genozid handelt, wird mit aller Macht gegen das Vergessen anzukämpfen sein.“ (S. 89; Hervorhebung durch den Zitierenden). Na ja, aber...und dieser Gesamtkontext...

    Bis dann.

  • „169mal begegnet das Wort zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel.“ (S. 12) Hat die Bibel (hier: AT) und damit das 5. Buch Mose nicht auch für das Christentum Gültigkeit? Wurde „zachar“ später wissentlich oder unwissentlich anders übersetzt?

    Zachar ist vor allem ein Schlüssel-Begriff des Talmud, der in jüdisch-rabbinischer Tradition zusammen mit der unabschließbaren Diskussion über den Talmud als die "lebendige Thora" gilt. Erinnern und Traditionsbezug werden hier also aktivistisch und prozessural verstanden als lebendiger Bezug auf Geschichte und Verpflichtung gegenüber dem Bund des Volks Israel untereinander und mit seinem Gott und seinem Gesetz. Zachar meint also das Gegenteil von "Kranzabwurfstelle" :D Der Bund ist hier keineswegs partikularistisch, sondern unbedingt universalistisch zu verstehen: Der Talmud erwähnt ausdrücklich auch die Frauen und Kinder, Mägde und Knechte als in Bezug auf den Vertrag freie und gleiche Vertragsschließer. Und gelten zwar die besonderen Gesetze des Bundes, die Halacha, nur für das Volk Israels, welches das Privileg oder Pech haben, von Gott direkt angesprochen worden zu sein, so soll der Bund doch dazu dienen, das nemeische, allgemeinere Gesetz, ungefähr mit den christlichen 10 Geboten vergleichbar, die wohl davon abgeleitet sind, universalistisch für alle auf der Welt durchzusetzen. Zachar ist wesentlicher Bestandteil des jüdischen Gottesdienstes und besonders der Festtage, an denen im Eingedenken an die Geschichte man sich an die gegenseitig eingegangene Verpflichtung des Bundes erinnert. Zachar steht in seinem Bundesbezug in enger Beziehung zum Begriff "Techiya" = Gerechtigkeit, der aber gerade fundamental von Rachegerechtigkeit, der zu einem ewigen Zyklus führt, unterschieden wird, was insofern bemwerkenswert, ja welthistorisch revolutionär ist, da in Gesellschaftsformationen, die weitgehend von agrarischen Produktionsweisen dominiert werden, das Denken normalerweise von ewigen Zyklen bestimmt wird. Zachar ist also immer Unterbrechung der Alltagsgeschäftigkeit, Erinnern an die Unterbrechung des Zyklus von Gewalt und Ungerechtigkeiten, die der Bund bedeutete und aktivierende Antizipation eines universalistischen Bruchs mit diesen Gewaltzyklen alter Rache- und Opfergerechtigkeit. Um Zachar von unspezifischer "Erinnerung" abzugrenzen und das bewußte und aktivistische Moment hervorzuheben, wird Zachar oft mit "Eingedenken" übersetzt. "Eingedenken" ist dann auch ein Schlüsselbegriff Adornos, dessen Philosophie, wie auch die Benjamins, wie aber auch die, des christlichen Theologen Paul Tillich, wesentlich diese Gedanken aufnimmt.

    Bei dem zweifellos bedeutenden Althistoriker Christian Meier hätte ich ja vermutet, dass seine Kritik an der Erinnerungspolitik, so wie du sie referierst, auf die - jedenfalls so als Ideal proklamierte - Politik der stasis in der klassischen griechischen polis rekuriert. Stasis ist ein merkwürdiger Begriff, der im politischen Zusammenhang je nach Kontext sowohl Spaltung, Bürgerkrieg in der polis , als auch Ausgleich, Vereinigung, neues Kompromissgleichgewicht bedeuten kann. Zur Politik der stasis gehörte, - jedenfalls als proklamiertem Ideal -, dass nach Beendigung der stasis, verstanden als Bürgerkrieg, die neue stasis, verstanden als neuer, die Stabilität des polis-Gemeinwesens garantierender Ausgleich, nach einigen Verurteilungen bei Beendigung des Bürgerkriegs danach nicht an die alten Parteinahmen und die damit verbundenen Kampfhandlungen, einschließlich der Verbrechen während des Bürgerkriegs erinnert werden durfte.
    Allerdings durfte an die Praxis der Lauen und Opportunisten, die sich keiner Seite angeschlossen hatten oder nur ganz spät auf die Siegerseite geschlagen hatten, erinnert werden, denn sie galten als für die polis-Gemeinschaft gefährlicher, als die, welche aus Sorge um die polis im Bürgerkrieg ihr Leben und die Freiheit ihrer Familie riskiert hatten. Viele polis-Verfassungen sahen sogar als Teil des Übergangs zwischen den zwei Zuständen der stasis die Verurteilung dieser Lauen und Opportunisten zur Verbannung oder zum Verlust der Bürgerrechte vor. Insofern wäre auch ein Bezug auf die klassische griechische Praxis etwas einseitig.

    Erinnerungspolitik heute, da kann man sehr grob heute zwei Richtungen unterscheiden, wie sie vielleicht in Berlin sich an unterschiedlichen Gedenkstätten manifestiert: Die "Alte Wache" will zwar nicht Krieg, Gewaltherrschaft, Terror und Genozid vergessen lassen, entnennt tendenziell aber Täter und Opfer. Das "Denkmal für die ermordeten Juden", was immer man von der Konzeption hält, es beinhaltet immerhin eine kleine Erinnerungsstätte für wechselnde Ausstellungen und Veranstaltungen, oder die "Topographie des Terrors" verschweigt diese Unterschiede immerhin nicht.

    Eine aktualisierende Anknüpfung an die jüdische Erinnerungskultur wäre eine noch anspruchsvollere Aufgabe.

    Es ist vielleicht auch hier nötig, gelegentlich z.B. für Neuhinzugekommende in Erinnerung zu rufen: Bei der Gründung dieses Forums haben wir uns in bewußter Absetzung zu der bevorzugten Erinnerungspolitik eines anderen Forenbetreibers irgendwo zwischen dieser zweiten und dieser aktiviernden, intervenierenden dritten Position situiert. Dem sollte dieser Thread dienen.

    :wink: Matthias

  • Zitat von Matthias Oberg


    ...
    Bei dem zweifellos bedeutenden Althistoriker Christian Meier hätte ich ja vermutet, dass seine Kritik an der Erinnerungspolitik, so wie du sie referierst, auf die - jedenfalls so als Ideal proklamierte - Politik der stasis in der klassischen griechischen polis rekuriert...
    ...

    Lieber Matthias,

    Zum Verständnis: Möchtest Du Deinen o. a. Satz so verstanden wissen:
    C. Meier hätte besser Kritik an der Friedens- und Amnestiepolitik, der Politik des Vergessens des antiken Athens geübt und dagegen die jüdische Tradition des 'Erinnerns' als Vorbild markieren sollen? Das wäre jedenfalls mein Standpunkt.

    Aber m. E. nimmt Meier das antike Athen zum Vorbild und geht - als herausragender Experte für diesen Geschichtsbereich - besonders hierauf ein (insb. S. 15-39 des schmalen Buches), während er die jüdische Tradition des 'Erinnerns' (zachar) lediglich kurz als Gegenposition erwähnt.

    Zum besseren Verständnis zitiere ich ausnahmsweise den gesamten Abschnitt (a. a. O., S. 11-13):
    "Was alles, könnte man aus unsern Tagen hinzufügen, wäre Millionen Menschen, ja Europa und der Welt erspart geblieben, wenn die Serben die Schlacht auf dem Amselfeld und die Türkenherrschaft vergessen (oder jedenfalls nicht so verdammt lebendig erinnert) hätten - um von kurzfristigeren Erinnerungen an das, was im 20. Jahrhundert zwischen Serben und Kroaten geschah, zu schweigen.
    Genug der Beispiele, fürs erste. Gegenbeispiele habe ich nur in der Geschichte der Juden gefunden, unter denen vom Deuteronomion bis in unsere Tage ständig und intensiv das Gebot der Erinnerung eingeschärft worden ist. 'Hüte dich, daß [sic] du nicht des Herrn vergessest, der Dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthaus geführt hat.' Aber auch das Schlimme soll erinnert werden, sowohl das erlittene - 'Gedenke, was dir die Amalekiter taten auf dem Wege, da ihr aus Ägypten zoget' - wie das selbst angerichtete: 'Gedenke und vergiß [sic] nicht, wie du den Herrn, Deinen Gott, erzürntest in der Wüste!'
    Eindringlich wird gemahnt: 'Denk an die Tage der Vergangenheit', '...frage deinen Vater, der wird dir's verkündigen, deine Ältesten, die werden dir's sagen.' 169mal begegnet das Wort zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel. Erinnerung gehört zum Inhalt fast aller großen Feste, auf denen sie nicht nur in der Gemeinde, sondern auch am Familientisch stets neu gehegt und weitergegeben wird. 'Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung', sagt die jüdische Weisheit. 'Nur in Israel, nirgends sonst empfindet ein ganzes Volk die Aufforderung, sich zu erinnern, als religiösen Imperativ.' Das Gedächtnisvolk par excellence hat Jacques Le Goff die Juden genannt. Elie Wiesel stellt fest: To be a Jew is to remember.
    Dabei steht die Erinnerung an Jahwes Verheißung, an das Geschenk des Landes, das er den Juden gemacht, an den Bund, den er mit ihnen geschlossen hat, im Vordergrund. Die Erinnerung an das Schlimme, das in Mißachtung [sic] der göttlichen Gebote selbstgetane und das erlittene (wenn Jahwes Zorn sie traf), bleibt eingefangen in seiner Verheißung - bis Auschwitz alle jüdische Erinnerung vor kaum (oder nicht mehr) lösbare Aufgaben stellt.
    Nach Auschwitz ist es aber auch, daß [sic] die Erinnerung der Menschheit allem Vergessen der unermeßlichen [sic] Untaten widerstreitet. Die Frage ist, ob damit zugleich für andere Fälle ein neues Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen gestiftet ist. Ist die unabweisbare Erinnerung an Auschwitz also die Ausnahme von der Regel der Weltgeschichte? Oder begründet sie eine neue Regel? So daß [sic] das Gebot des Vergessens obsolet wird?"

    Mit freundlichen Grüßen

    Keith M. C.

    P. S.: Deine Ausführungen sind hervorragend.
    P. S.: Kurzbermerkung: C. Meier gilt als erklärter Gegner der Rechtschreibreform.
    ____

    An dieser Stelle in eigener Sache:
    Meine Beiträge über Personen, welche ich für die Capriccio-Gedenktafel nominiere sind grundsäztlich ohne Quellenangaben verfasst, da es sich m. E. um eine 'Gedenktafel' handelt, wo ggf. umfangreiche Quellenangaben unpassend sind. Wenn die Moderation es trotzdem für notwendig erachtet diese Quellen anzugeben, werde ich diese nachliefern.

  • Zum Verständnis: Möchtest Du Deinen o. a. Satz so verstanden wissen:
    C. Meier hätte besser Kritik an der Friedens- und Amnestiepolitik, der Politik des Vergessens des antiken Athens geübt und dagegen die jüdische Tradition des 'Erinnerns' als Vorbild markieren sollen? Das wäre jedenfalls mein Standpunkt.

    Lieber Keith,

    du präzisiert das besser, als ich es formuliert und gedacht habe, aber ich bin ganz einverstanden.

    :wink: Matthias

  • In einem Band der Serie Piper:

    Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit
    der national-sozialistischen Judenvernichtung. Texte von Rudolf Augstein [a. a.]
    München, Zürich: Piper 1987. (Serie Piper 816)

    der die Texte zum Historikerstreit zusammenfasst, ist von Meier die
    "Eröffnungsrede zur 36. Versammlung deutscher Historiker in Trier, 8. Oktober 1986"
    (S. 204 - 214). Gekürzte Fassung im "Rheinischen Merkur/Christ und Welt
    vom 10. Okt. 1986.

    Er nimmt da Habermas so einiges übel. Meier galt hier in Köln sicher nicht als Linker.
    Ich habe 1964/65 ein Proseminar Alte Geschichte gemacht, im selben Semester auch eins
    in Neuer Geschichte bei Nolte. Und Wehler war auch noch da. Später kam Andreas Hillgruber
    dazu- und es gab gewaltigen Streit. Vielleicht ist er da immer noch empfindlich, im o.g. Aufsatz
    wirft er Habermas vor, "den unerträglichen Anschuldigungen" Vorschub geleistet zu haben.

    Ich habe die Sachen lange icht mehr gelesen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass
    Meier eine "Trauerarbeit" im Sinne von Mitscherlich oder auch nur eine eingehende Aufklärung
    mit Feststellung der Täter gefördert hätte.

    lg vom eifelplatz, Chris.

  • Ich habe von dem Buch Chritian Meiers auch gehört, gelesen habe ich es nicht, nach dem Eindruck, den ich hier gewonnen habe, habe ich auch keine große Lust, das zu tun. Dieser Satz hier ist mir aber aufgefallen:

    Diese Art von „Vergessen“ trägt die Vorstellung eines - wenn auch im größeren Zeithorizont gesehenen - Kollektivvergessens in sich. Wie soll dieses vonstattengehen, wenn nicht als politisches, volkserzieherisches Programm von oben diktiert? Wer tilgt die persönlichen Erinnerungen? Wer tilgt die Geschichtsschreibung? Wer bestimmt was und wann vergessen wird? Für Meier eine „pragmatische Frage“ des Politikers.


    "Wie soll das Kollektivvergessen vonstattengehen, wenn nicht als politisches, volkserzieherisches Programm von oben?" So also, wie jetzt das Kollektiverinnern vonstattengeht? Ist nicht das Problem vielleicht eher, dieses Kollektiverinnern/Kollektivvergessen? Vielleicht sollten wir jedem selbst überlassen, ob er lieber erinnern oder vergessen möchte? Sich gegen das Kollektiverinnern als politisches, volkserzieherisches Programm von oben auszusprechen finde ich gut und notwendig, das hatten wir lange genug um es zum Ritual ohne wirkliche innere Anteilnahme und zur bloßen, ja, Moralkeule erstarren zu lassen. (Ich spreche von unserer deutschen Gesellschaft, die ihre am Nationalsozialismus geschulte "Erinnerungskultur" ja gerne unbesehen auf alles, was es zu erinnern gilt, intuitiv überträgt). Jetzt aber den umgekehrten Weg zu fordern, das Kollektivvergessen als volkserzieherisches Programm, ist meiner Meinung nach unsinnig. Verzichte man doch lieber auf jede "Erinnerungskultur", auf Erinnern oder Vergessen als volkserziehrisches Programm und überlasse es jedem selbst, wie er erinnern oder vergessen will. Wer aus einer kollektiven Erinnerungskultur heraus ritualisiert erinnert, der wird aus dieser Erinnerung nicht viel Gewinn für sich ziehen...

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Hallo Keith,

    du hast mich gebeten, etwas zu dem längeren Zitat zu sagen.Was mir ad hoc dazu einfällt, Meier unterschlägt eben den wichtigen Zusammenhang des Erinnerns mit techiya=Gerechtigkeit und dem Opferverbot, das nicht nur ich als über die unmittelbare religiöse Praxis hinausgehend interpretieren würde, als radikale Absage, Opfer einzukalkulieren und zu legitimieren, einschließlich dem Selbstopfer. (Auch Jesaja oder die Juden im Mittelalter, die sich auch angesichts des Todes nicht zwangstaufen lassen wollten, opferten sich nicht selbst, das würden sie mit der Taufe, sondern werden von anderen geopfert, weil für sie die Aufrechterhaltung dieses Erinnerungszusammenhangs als Zeugnis unbedingt ist.) Dieses Opferverbot ist eng verbunden mit einem Verständnis von Gerechtigkeit - gerade als Absage an den Gewaltzyklus von Rachegerechtigkeit - und mit Zeugnis und Erinnerung.

    Dies ist zentral verbunden mit dem Exodusgedanken, aber Exodus und Bundesverpflichtung sind nicht dasselbe wie der Messianismus, wie immer der Zusammenhang auch gefasst wird. Das ist ja im Judentum und darüber hinaus z.B. in der Benjamin-Rezeption Gegenstand der Auseinandersetzung. Wichtig scheint mir in Bezug auf Erinnerungspolitik, der aktivistische Imperativ im Exodus-Gedanken, in der Bundesverpflichtung und der Erinnerung an sie, mit dem aktivistischen Verständnis des Talmuds in seiner Schriftform wie in seiner Form der beständigen, unabschließbaren, zentral das Eingedenken immer neu reaktualisierenden Diskussion über die Schrift, als zusammen die "lebendige Thora" bildend. Damit ist klar, dass Erinnerung im historischen Prozess, über alle auch notwendigen gemeinschaftsstiftenden und -reaktualisierenden Rituale hinaus, sich auch verändert und verändern muß, immer auch Gegenstand der Auseinandersetzung über ihre aktuell angemessene Form sein muß, um das besondere dieses Eingedenkens der Bundesverpflichtung als Absage an Opfer und Rachegerechtigkeit zu reaktualisieren. Was das dann im Einzelfall heißt, ist immer wieder neu zu bestimmen. Der Talmud hilft hier nur mit etwas vergleichendem Kasualismus. Ich finde das ziemlich weise.

    Vielleicht muß hier noch etwas gesagt werden zu dem besonderen Verständnis von "aktivierend". Es geht nicht um irgendeinen Aktivismus, der die eigenen Moralproklamationen nur geschäftig inszeniert, sondern um ein schon zur Intuition zu werdendes immer schon Angesprochen-Sein, allen Verletzungen der Gerechtigkeit als wesentlicher Bundesverpflichtung gegenüber. Dieses Verständnis von aktiv und aktivierend als immer schon Angesprochen-Sein hat Levinas zu einer umfangreichen Philosophie ausgebaut. Es läßt sich auch an Spinozas Ethik denken, in der das, was er die intuitive Liebe zu Gott nennt, die höchste Erkenntnisform ist. Man muß auch nicht religiös oder gottesgläubig sein, um hier viel beerbenswertes zu erkennen.

    Zitat

    "Dabei steht die Erinnerung an Jahwes Verheißung, an das Geschenk des Landes, das er den Juden gemacht, an den Bund, den er mit ihnen geschlossen hat, im Vordergrund. Die Erinnerung an das Schlimme, das in Mißachtung [sic] der göttlichen Gebote selbstgetane und das erlittene (wenn Jahwes Zorn sie traf), bleibt eingefangen in seiner Verheißung."

    Den Satz halte ich also für völlig falsch, aber er steht in unseliger Tradition von christlichen Mißverständnissen des Judentum. Es geht bei Exodus, Zachar und dem Bundes-Gedanken nicht um die Verheißung und um das geschenkte Land, sondern um die universalistische, im Bund eingegangene Selbstverpflichtung, unbedingt sich ansprechen zu lassen, vom Leid und Leiden tätig nicht zu akzeptieren und zu legitimieren. Zachar als Eingedenken der Toten meint, auch ihr vergangenes Leiden ist immer noch absolut inakzeptabel, auch sie sind Teilnehmer des Bundes oder auch sie gehören zu denen, für welche die darüber hinausgehenden universalistischen Gesetze durchzusetzen sind. Dieser Gedanke ist nur insofern mit messianischer Verheissung verbunden, da erst die messianische Erfüllung auch für sie, ganz materialiter und diesseitig gedacht, wenn im jüdischen Mythos die Lebenden und die Toten gemeinsam den Leviathan, das Landungeheuer traditioneller in Gewalt und Gegengewalt befangener staatlicher Gewalt verfuttern, das nicht mehr benötigt wird, da erst die Erfüllung der Verheissung wirklich umfassend Gerechtigkeit und Versöhnung schaffen kann, in der auch die Toten einbezogen sind, was über unsere rein menschlichen Möglichkeiten geht. Das macht gerade die Verpflichtung an die Erinnerung auch der Toten als radikale Absage an die Rachegerechtigkeit aus, bedeutet aber bis dahin keinesfalls dulden und akzeptieren. Der historische Normalfall ist bis heute, die Toten fordern neue Opfer, verpflichten zu neuen Opfern. Das war zunächst immer mythisch gedacht: Die natürliche zyklische Ordnung bricht ohne Blutopfer zusammen. Gar nicht so sehr viel anders steht es aber immer noch auf den bei uns überall rumstehenden, gar nicht so alten Kriegerdenkmalen: Die Toten mahnen zum Revanchekrieg gegen den Erzfeind, ohne regelmäßigen Aderlaß droht jedem Volk Dekadenz, Frieden als gerechte Versöhnung gibts nur im Himmel und bis dahin segnet das Kreutz diesen ganzen Scheiß ab. (Wahr ist leider, das realhistorisch viele Rabbiner da genauso mitgemacht haben und es immer noch machen.)

    Zitat

    "Nach Auschwitz ist es aber auch, daß [sic] die Erinnerung der Menschheit allem Vergessen der unermeßlichen [sic] Untaten widerstreitet. Die Frage ist, ob damit zugleich für andere Fälle ein neues Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen gestiftet ist. Ist die unabweisbare Erinnerung an Auschwitz also die Ausnahme von der Regel der Weltgeschichte? Oder begründet sie eine neue Regel? So daß [sic] das Gebot des Vergessens obsolet wird?"

    So war das sicher etwa von den Anklägern und Richtern der Nürnberger Prozesse gedacht. Einer der us-amerikanischen Cheffankläger, der Brigadegeneral Telford Taylor griff in dieser mahnenden Erinnerung etwa die US-Kriegführung im Vietnam-Krieg aus schärfste an. Die Jugoslawien-Prozesse zeigen vielleicht eher, wie auch dies politisch instrumentalisierbar ist, während andere, politisch gerade wenig opportune Opfer weiterhin vergessen werden oder ganz unterschiedlich "zählen".

    Ich meine dennoch, dass die Nürnberger Prozesse mit der Konstruktion der "Verbrechen gegen die Menschheit" und mit ihrer besonderen Öffentlichkeit, ihren Anstössen für erinnerungspolitisch kritisch-intervenierende Forschung und ihrem Aufklärungswillen vielleicht ein hoffnungsvoller Beginn waren, auch wenn ihr anfängliches Vorhaben schnell durch den hereinbrechenden kalten Krieg abgebrochen wurde.

    Dieses Vorhaben ist politisch nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die machtpolitischen Instrumentalisierungen müssen sich an diesem Vorhaben messen lassen und werden ja öffentlich und kritisch auch daran gemessen, wenn auch noch mit sehr gemäßigten Erfolgen, vorsichtig gesagt.

    Darüber hinaus bleibt es eben immer wieder konkret zu reaktualisieren, wie Zyklen blutiger Rachegerechtigkeit unterbrochen werden können und in welcher Form aufklärende, in obigem Verständnis aktivierende Erinnerung sich hierfür aktualisieren kann.

    Das mag alles ziemlich hilflos klingen, so wie es in unserer Welt zugeht, ein solcher tätiger Erinnerungszusammenhang ist aber immerhin auch tätig Zusammenhänge aufbauend gegen die Ohnmacht.

    :wink:Matthias

  • Jetzt ist das hier länger geworden. Sollten wir vielleicht diese erinnerungspolitische Metadiskussion zum Nominierungs-Thread in einen eigenen Thread auslagen?

    Wenn, dann sollte im Threadtitel und in der Anordnung dieses Therads bei dem Nominierungs-, und "Verfolgt..."-Thread der Bezug aber gewahrt sein.

    :wink:

    [Diesen Vorschlag nehme ich gern auf.
    :wink:
    Gurnemanz]

  • Die Idee, die letzten Beiträge "auszulagern" finde ich sehr gut, dann kann ich nämlich ruhigeren Gewissens die "OT"-Diskussion fortsetzen. ;+)

    Ich meine dennoch, dass die Nürnberger Prozesse mit der Konstruktion der "Verbrechen gegen die Menschheit" und mit ihrer besonderen Öffentlichkeit, ihren Anstössen für erinnerungspolitisch kritisch-intervenierende Forschung und ihrem Aufklärungswillen vielleicht ein hoffnungsvoller Beginn waren, auch wenn ihr anfängliches Vorhaben schnell durch den hereinbrechenden kalten Krieg abgebrochen wurde.

    Dieses Vorhaben ist politisch nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die machtpolitischen Instrumentalisierungen müssen sich an diesem Vorhaben messen lassen und werden ja öffentlich und kritisch auch daran gemessen, wenn auch noch mit sehr gemäßigten Erfolgen, vorsichtig gesagt.

    Darüber hinaus bleibt es eben immer wieder konkret zu reaktualisieren, wie Zyklen blutiger Rachegerechtigkeit unterbrochen werden können und in welcher Form aufklärende, in obigem Verständnis aktivierende Erinnerung sich hierfür aktualisieren kann.


    "Zyklen blutiger Rachegerechtigkeit" zu durchbrechen sollte das Ziel aller Bestrebungen rund um Erinnern und Vergessen sein, da sind wir uns sicher alle einig. Dass die Nürnberger Prozesse in diesem Zusammenhang auftauchen, finde ich aber schon ein Bisschen kurios, die hatten damit ja nun gar nichts zu tun, ganz im Gegenteil. In den Nürnberger Prozessen, das dürfte inzwischen unbestritten sein, ging es um Rache der Sieger an den Besiegten, jenseits aller rechtsstaatlichen Prinzipien und jenseits jeder kritisch intervenierenden Forschung. Dieses Rachetribunal sollte uns doch gerade ein Beispiel sein, wie Erinnerung und Aufarbeitung von Unrecht nicht ablaufen sollte, wie die "Zyklen blutiger Rachegerechtigkeit" eben nicht durchbrochen, sondern auf grausige Art und Weise am Leben erhalten werden!

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Hallo Cherubino,

    du setzt "kollektive Erinnerungskultur" mit verordneter Erinnerungspolitik "von oben" gleich. Das ist aber keineswegs zwingend. Ich bezog mich auf eine Erinnerungspolitik der Selbstverpflichtung und bewußten prozeduralen Selbstvergesellschaftung "von unten".

    Auch in demokratischen Verfassungstheorien wurden demokratische Verfassungen als Selbstverpflichtungen und Selbstbindungen gesehen, die eine gemeinsame lebendige Erinnerungskultur an den gemeinsamen Beginn brauchen, damit Demokratie ein lebendiger Prozess der ständigen Demokratisierung ist und nicht Unterwerfung oder beste Ausnutzung irgendwie von den Stärkeren fixierter, nur formaler Regeln. Das war zunächst in Groß-Britannien und den USA in explizitem Bezug auf zumindest Teilelemente der jüdischen Tradition des Exodus-Denkens gedacht und in den USA waren die Schriften der Verfassungsväter Gegenstand jeder Schul- und Hochschulbildung. Diese schriften weisen sehr offensichtlich in ziemlich unterschiedliche Richtungen, so dass man dazu selbst zu einer eigenen Position kommen müßte, wenn man sie ernst nimmt, Das kann auch immerhin möglich machen, dass der Kanon der Bezugnahme sich erweitert. So wird in den USA heute mit recht daraufhingewiesen, dass zu diesem demokratischem Neubeginn auch die Stellungnahmen und Realverfassungen der Irokesen und Delawaren gehörten, wenn sie auch unterlagen, jedoch auch nicht ganz spurenlos. Das macht immerhin möglich, dass eine so verstandene demokratische Erinnerungskultur mehr werden kann als die Verbreitung der Geschichte der Sieger.

    Selbstverpflichtung und Selbstbindung meint also gerade nicht, dass jeder das Selbe denken soll oder gezwungen ist, so zu tun, sondern, dass es eine beständige lebendige Debatte darüber gibt, was dies je aktuell als Demokrat in demokratischem Zusammenhang bedeutet. Die Selbstverpflichtung auf einen basalen gemeinsamen Zusammenhang ist kein Zwang zur Kollektivität, verstanden als homogener Zwangszusammenhang. Man kann sich natürlich auch selbst ausschließen und muß dann mit den Folgen, dass man sich nicht beteiligt, leben.

    Ich habe versucht, möglichst kurz zu skizzieren, wie Erinnerung in jüdischer Tradition prozedural, lebendig und Ausdruck von Selbstverpflichtung sein soll. Es sollte klar geworden sein, dass dies etwas anderes meint, als die bloß formale Teilnahme an entleerten, von oben verordneten Ritualen. Aber auch Rituale können dazu beitragen, einen Solidaritätszusammenhang über Erinnerungen immer wieder neu zu bekräftigen und müssen keineswegs entleert sein. In meiner Familie waren regelmäßige gemeinsame Abendessen jedenfalls kein leeres Ritual. Ebenso habe ich das gemeinsame Eingedenken am Sabbat und an den Festtagen keineswegs als leeres Ritual erfahren. Soll ein demokratisches Gemeinwesen ganz ohne, mindestens minimale gemeinsame Erinnerungen an gemeinsame Selbstverpflichtungen auskommen? Ich glaube nicht, dass dies geht, sondern es führt gerade zu den verordneten entleerten Beschwörungen, offen für alle Instrumentalisierungen, die du beklagst. Kann das ganz ohne gemeinsame Rituale gehen, die ja auch ein gemeinsames Innehalten von sonstigen Geschäftigkeiten bedeuten? Glaube ich nicht.

    Ich halte Auschwitz tatsächlich für ein universalhistorisches Ereignis, ein historisches Monument im Sinne Kants, dass man entweder auffassen kann als Herausforderung, eine demokratische, aufklärerische und emanzipatorische Erinnerungskultur zu schaffen, die sich bei aller pluralen Auseinanderstzungen auch über Einiges einig ist, dass sich Ähnliches nicht wiederholen kann, oder die Barbarei wird ewig, denn zu einem solchen historischen Monument kann man sich nicht nicht verhalten. Es ist so oder so erinnerungsprägend und die Zukunft über die Art des Bezugs zu ihm entscheidend mitbestimmend da. Es kann nur entschieden werden, ob der Bezug aufklärerisch, instrumentalistisch-ausbeutend oder verdrängend verläuft.

    Die offenbar immer noch nicht überwundene, immer noch nachwirkende Schwierigkeit in Deutschland liegt natürlich darin, dass die Befreiung vom Faschismus den meisten Deutschen aufgezwungen werden mußte und ein wirklicher demokratischer Neubeginn als Selbstverpflichtung in beiden Deutschland nicht stattfand. (Damit möchte ich nicht, was in beiden Deutschland geschah, gleichsetzen, aber das ist eine andere Debatte. Hier geht es mir nur um Grenzen des Neubeginns, die bei allen auch qualitativen und wesentlichen Unterschieden auch Gemeinsames aufweisen.) Aber man kann auch das, was zunächst aufgezwungen war, soweit man es selbst für richtig hält, bzw. soweit man das, was daraus hervorging, wenigstens teilweise für richtig hält, aus eigener Einsicht zur eigenen Selbstverpflichtung machen, diese richtigen Elemente auszubauen. Aber gerade auch das braucht dann die erinnerungspolitische Auseinandersetzung, was denn die richtigen auszubauenden Elemente vor dem gemeinsamen Imperativ, den gemeinsamen Willen zur Absetzung von dem, was Auschwitz möglich gemacht hat, auch wenn es noch sehr umstritten bleibt, was dies alles war, bzw ist. Vielleicht muß, je unterschiedlicher hier die Auffassungen sind, vieles an der Erinnerungskultur, soweit sie eine gemeinsame ist, noch etwas formal sein, ihre Rituale noch etwas leer, aber auch das kann immerhin die gemeinsame demokratische Auseinandersetzung über die Erinnerung und was aus ihr zu lernen wäre, in Gang halten. Selbst die Plädoyers für den Abbruch der Debatte, sind, solange sie diesen nicht durchsetzen können, vielleicht gar nicht so schlecht. Der Historikerstreitt, auf den Chris hingewiesen hat, hatte sicherlich einige nützliche Effekte.

    Demokratische Erinnerungskultur als Streittkultur ist, so verstanden, alles andere als "volkserzieherische Programmierung". Ich habe es da viel mehr mit Maud Mannonis Anti-Pädagogik, Oskar Negts Erfahrungsansatz, Paulo Freires Befreiungstheorie des Lernens, Gramscis Selbstorganisation als Lernen zu eigener Hegemoniefähigkeit der Subalternen, Ivan Illich .... halt diesem altmodischem Antiautoritarismus, jedenfalls der nicht-naiven Richtung, der heute an allem Schuld sein soll. :D Das habe ich auch immer versucht, in meinen Kursen zu praktizieren.

    :wink: Matthias

  • In den Nürnberger Prozessen, das dürfte inzwischen unbestritten sein, ging es um Rache der Sieger an den Besiegten, jenseits aller rechtsstaatlichen Prinzipien und jenseits jeder kritisch intervenierenden Forschung.

    Das würde ich aber sehr bestreitten, mit einem ganz erheblichen Teil der historischen und politisch-philosophischen, sowie rechtsphilosophischen Literatur zu diesem Thema. Die Anklagen gegen "Verbrechen gegen die Menschheit" war in der Form völlig neu, universalistisch und auf einen weltweiten Neubeginn orientiert, etwa die OMGUS-Ermittlungsberichte gegen die Deutsche Bank halte ich für absolut beispielhafte kritische Sozialforschung zu einem wichtigen Aspekt der verantwortlichen Triebkräfte des Faschismus. Oder die Dokumentationen zu den Ärzteprozessen sind doch beispielhafte Aufklärungsarbeit. Es ging primär darum, den Deutschen klar zu machen, was sie in ihrer großen Mehrheit (mit-)angerichtet hatten und ihnen ihre Verantwortlichkeit zu verdeutlichen, Verantwortung auch dafür zu übernehmen, für die Folgen dessen, was sie angerichtet hatten, wenigstens so weit es geht, aufzukommen. Durch den einbrechenden kalten Krieg wurde das alles leider viel zu früh abgebrochen.

    Die Unterbrechung der Zyklen von Rachegerechtigkeit kann doch nicht heißen, hey, ihr ward zwar eben noch Massenmörder und Organisatoren beispielloser Ausplünderungs- und Versklavungsprogramme, aber nu seit ihr besiegt und alles ist wieder gut. Für zigmillionen Opfer des deutschen Faschismus war nichts wieder gut und "wiedergutzumachen". Es heißt Verantwortungsübernahme als tätige Verpflichtung gegenüber den Opfern, aber schon gar nicht die Verwischung des Unterschieds zwischen Tätern und Opfern.

    Zur Rechtsform der Prozesse: Es wurde klar zwischen Haupttätern und anderen Tätergruppen unterschieden. In der Regel war die Beweislage absolut erdrückend, aber es gab zahlreiche Freisprüche und geringere Verurteilungen, wo die Beweislage weniger eindeutig war und es gab eine unabhängige Verteidigung sowie geschriebene Rechtsgrundlagen, auf die sich Rechtskommissionen der Siegermächte gemeinsam verständigt hatten. Das unterschied die Nürnberger Prozesse fundamental von einigen Massenprozessen in der Nachkriegszeit nicht nur in den osteuropäischen Ländern. Diesen Rechtskommissionen gehörten im Übrigen auch einige aus Deutschland stammende Juristen an, die die besten Traditionen deutscher Rechtslehre miteinbrachten, sowie sehr viele zum Exil gezwungene Sozialwissenschaftler, die die besten Traditionen deuter Sozialwissenschaft repräsentierten, zu den Ermittlerteams gehörten.

    :wink: Matthias

  • Den Satz halte ich also für völlig falsch, aber er steht in unseliger Tradition von christlichen Mißverständnissen des Judentum.

    Ich möchte doch noch ergänzen, dass sehr viele christliche Theologen unterschiedlicher Konfessionen da heute sehr viel weiter sind, wie ich das sogar bei meinen auch nur leider allzu begrenzten Kenntnissen christlicher Gegenwartstheologie wahrnehme.

    :wink: Matthias

  • Karl Jaspers und Hannah Arendt haben in ihrem Briefwechsel zu Beginn des Kriegsverbrecherprozesses in Nürnberg diskutiert, dass es nicht "Verbrechen gegen die "Menschheit" sondern Verbrechen gegen die "Menschlichkeit" heißen müsste - ich finde diesen Gedanken sehr überzeugend, ein Verbrechen also gegen das "Sein" des Menschen.
    Leider finde ich die Belegstelle ohne Sachregister nicht, sehe aber sehr interssante Diskussionen über die "Schuld".

    lg vom eifelplatz, Chris.

  • Nur ganz kurz, da sehr in Eile ein Zitat zu Menschlichkeit - Menschheit

    Zitat

    "Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Londoner Statut hat (…) die »Verbrechen gegen die Menschheit« als »unmenschliche Handlungen« definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« geworden sind – als hätten es die Nazis lediglich an »Menschlichkeit« fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhundert."


    (Hanna Arendt, Eichmann in Jerusalem. München: Piper 1995, S. 324. Hervorhebungen durch H.A.)

    :wink: Talestri

    One word is sufficient. But if one cannot find it?

    Virginia Woolf, Jacob's Room

  • Hallo Matthias,

    du setzt "kollektive Erinnerungskultur" mit verordneter Erinnerungspolitik "von oben" gleich.


    Vor allem habe ich über Keith´ Fragenachgedacht, wie denn das Vergessen, das Meier fordert, stattfinden kann. Er stellte die Frage, ob es um eine von oben verordnete "Vergessenspolitik" gehen soll. Ich habe den Eindruck, dass es eine von oben verordnete Erinnerungspolitik gibt, die ich sehr kritisch sehe. Das kollektive Erinnerungskultur auch anders aussehen kann, ist mir im Prinzip klar, ich finde eben auch, sie sollte unbedingt anders aussehen. Keith´ Aussage war für mich nur der Anreger, über verordnete Erinnerungs-/vergessenspolitik von oben nachzudenken - und sie zu verurteilen.

    Aber auch Rituale können dazu beitragen, einen Solidaritätszusammenhang über Erinnerungen immer wieder neu zu bekräftigen und müssen keineswegs entleert sein. In meiner Familie waren regelmäßige gemeinsame Abendessen jedenfalls kein leeres Ritual.


    Natürlich müssen Rituale nicht entleert sein, es besteht aber schnell die Gefahr, dass sie es werden. Ich habe auch kein grundsätzliches Problem mit Ritualen, auch nicht mit öffentlichen Zeremonien, die einen Solidaritätszusammenhang schaffen, ich halte sie aber für längst nicht so wichtig wie die persönliche Erinnerung des Einzelnen. ich weiß, dass ich da vielleicht ein Bisschen idealistische Ansprüche stelle, aber ich bin überzeugt davon, dass Erinnerung in unserem Zusammenhang nur etwas bringt, wenn sie aus eigenem Antrieb heraus geschieht und mit ganz persönlicher emotionaler Anteilnahme zu tun hat. Die Schaffung eines öffentlichen Solidaritätszusammenahnges ist dem gegenüber aus meiner Sicht nebensächlich und gerät schnell in die Gefahr einer von oben verordneten Erinnerungspolitik mit erstarrten, routiniert, nicht mit emotionaler Anteilnahme absolvierten Ritualen.

    Soll ein demokratisches Gemeinwesen ganz ohne, mindestens minimale gemeinsame Erinnerungen an gemeinsame Selbstverpflichtungen auskommen? Ich glaube nicht, dass dies geht, sondern es führt gerade zu den verordneten entleerten Beschwörungen, offen für alle Instrumentalisierungen, die du beklagst. Kann das ganz ohne gemeinsame Rituale gehen, die ja auch ein gemeinsames Innehalten von sonstigen Geschäftigkeiten bedeuten?


    Ob es ganz ohne gemeinsame Rituale gehen kann, weiß ich nicht. Ich würde es weder grundsätzlich verneinen noch bejahen wollen, ich kann mir eine zusammengehörige Gruppe einfach zu wenig vorstellen. In meinem idealstischen Menschenbild (nenn mich ruhig naiv 8+) ) würde ich es aber gerne in die Verantwortung jedes Einzelnen stellen, wie und an was er erinnern möchte. Ich mag keine gemeinsame Selbstverpflichtung (das heißt nämlich so oder so bei einer entsprechend großen Gruppe von menschen, dass Andere mir sagen, was ich bitte zu denken habe und woran ich mich zu halten habe), auch keine minimale, keine gemeinsame Erinnerung an gemeinsame Selbstverpflichtung, mein Ideal wäre es, dass jeder für sich entscheiden kann!

    Aber man kann auch das, was zunächst aufgezwungen war, soweit man es selbst für richtig hält, bzw. soweit man das, was daraus hervorging, wenigstens teilweise für richtig hält, aus eigener Einsicht zur eigenen Selbstverpflichtung machen, diese richtigen Elemente auszubauen.


    Das klingt gut, halte ich aber für schwierig. Wer vermag zu sagen, wo das zunächst Aufgezwungene aufhört und die eigene Selbstverpflichtung anfängt? Eigene Einsicht, eigene Selbstverpflichtung nach eigenen moralischen Grundsätzen ist mein Ideal, ohne das etwas aufgezwungen wird! Ich weiß, dass das in der Praxis schwer zu verwirklichen ist, aber es ist ein Ideal (ein zutiefst aufklärerisches, oder?), für das sich meiner Überzeugnung nach zu kämpfen lohnt! Deshalb habe ich auch so meine Probleme mit der Politik der Alliierten im Nachkriegsdeutschland...
    Versteht man, worauf ich hinaus will, oder verenne ich mich gerade total? :hide:

    Demokratische Erinnerungskultur als Streittkultur ist, so verstanden, alles andere als "volkserzieherische Programmierung".


    Ich glaube, im Grunde sind wir uns völlig einig: Demokratische Streitkultur sollte die Erinnerung wachhalten und jeden Einzelnen zum Mitdenken animieren, Erinnerungskultur als volkserziehrische Programmierung taugt nichts. oder?

    Liebe Grüße,

    Lars

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

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