ORFF: Carmina Burana - ein "Meister-Machwerk"?
Liebe Capricciosi!
Anlass und Aufhänger zu diesem Thread ist das Booklet der folgenden Aufnahme, aus dem man erfahren kann, dass der Bariton Christian Gerhaher Orffs mit Abstand populärste, aber auch vielfach geschmähte Komposition ein "Meister-Machwerk" genannt hat.
Hat er Recht? Ich glaube, diese pointierte Aussage verfehlt die Wahrheit gar nicht so weit. Denn die "Carmina Burana" mit ihrem "statischen Aufbau" (Orff) und den vielen Wiederholungen sind doch geradezu bewusst banal, z.T. sicher auch reißerisch; setzen sich jedenfalls durchaus mit Absicht von "echter Kunst" ab. Auf der anderen Seite kann man dem Stück die Genialität auch nicht absprechen: Wie Orff sein Pseudo-Mittelalter evoziert, diese Verbindung von Archaismen und früher Moderne - das gab es so vorher kaum und hat weithin auf Filmmusik und "U-Musik" (schreckliches Wort!) gewirkt.
Nicht vergessen sollte man auch, dass einige Gedichte aus den "Carmina Burana" (mehr dazu im Thread Lateinische Literatur des Mittelalters), gerade auch solche, die Orff für die Vertonung ausgesucht hat, eindeutig oder zweideutig ironisch sind - und auch der Musik durchaus eine gewisse ironische Distanzierung innewohnt. Mit dem Zaunpfahl kommt die Ironie selbstverständlich beim (zu) scharf angebratenen Schwan in Falsetthöhe (ich vermute, gleichzeitig eine Parodie auf Opernklagen und sämtliche Schwanenszenen der Romantik von Saint-Saens bis Tschaikowski), aber gerade auch die anderen Schänkenszenen sind kaum ernst zu nehmen. Gerade dadurch, dass Orff die vorderste Ebene des Textes oft bis zur Übertreibung unterstützt (obwohl er es sicher besser gewusst hätte), erhöht er die ironische Wirkung, wie z.B. in dem beschwingten Teil "Bibit hera, bibit herus etc." oder im "Stetit puella", das sich genauso naiv gibt wie der Text, dabei aber "unabsichtlich" sexuelle Komponenten freigibt (Hoppla!). Es ist ja das Wesen der Ironie, gerade das Nichtgemeinte besonders zu betonen. In anderen Stücken ("Estuans interius"!) fügt Orff schon in der Musik zahlreiche Brechungen ein, wie die falschen Wortakzente und den Kontrast zwischen archaisierendem A-Teil und dem sich als Belcanto-Versatzstück gerierenden B-Teil. Auch die kläglich hohe Lage des Bariton-Solos im Liebeskummer-Song "Dies, nox et omnia" oder das Horn(? oder ein anderes Blechblasinstument)crescendo am Ende von "In taberna quando sumus" verweisen auf die Doppelbödigkeit des ganzen Werks. Wenn man den Faktor der Ironie sowohl bei der Aufführung als auch als Zuhörer vernachlässigt, tut man m.E. den "Carmina Burana" doch unrecht.
Selbstverständlich soll hier aber auch Platz für Besprechungen einzelner Aufnahmen sein, derer es ja gerade bei diesem Werk recht viele gibt. Die oben angeführte z.B. setzt meine Vorstellungen von diesem Stück zu meiner Zufriedenheit um. ;+) In "Eben gehört" habe ich geschrieben:
ZitatDaniel Harding dirigiert nicht so sehr die romantische Breitwandkitschburg, als die die "Carmina" bisweilen verstanden werden, sondern arbeitet Orffs Archaismen, Modernismen und vor allem die dem Text und der Musik häufig innewohnende Ironie schön heraus, bleibt immer spannend und durchhörbar und bietet federnde Tanzrhythmen. An der Tontechnik und/oder Akustik des Aufnahmeraums liegt es wohl, dass die Klangfarben der Instrumente sehr schön und intensiv herauskommen und die Aufnahme insgesamt ein für heutige Verhältnisse recht "direktes" Klangbild hat (was ich gern habe, Geschmäcker sind da vielleicht verschieden).
Die Solisten unterstützen Harding rundum: Christian Gerhahers facettenreicher Vortrag ist definitiv am Kunstlied geschult: "Estuans interius" - eines der meiner Meinung nach genialsten Gedichte der gesamten lateinischsprachigen Literatur - habe ich noch nie besser gehört. Hans-Werner Bunz erfüllt als Fehlleistung mittelalterlicher Küchentechnik seine zugegebenermaßen dankbare Aufgabe mit Bravour. Patricia Petibon verleiht der Gespielin im dritten Teil Zerbrechlichkeit und Mädchenhaftigkeit, etwa im hinreißenden "Stetit puella" - und lässt dennoch manchmal versteckte Wollust durchblitzen.
Liebe Grüße,
Areios