Christoph Schlingensief (1960 - 2010)

  • Christoph Schlingensief (1960 - 2010)

    Die Berliner Staatsoper hat für ihre erste Saison in der Ausweichspielstätte „Schillertheater“ am 03.10.2010 eine Uraufführung angesetzt: die Oper „Metanoia“ von Jens Joneleit auf einen Text von René Pollesch sollte von Daniel Barenboim dirigiert und von Christoph Schlingensief inszeniert werden. Christoph Schlingensief kann diese Produktion nicht mehr betreuen, er verstarb am heutigen Samstag im Alter von 49 Jahren. Schlingensief wurde ein Opfer seiner seit längerem bekannten Lungenkrebserkrankung.

    Geboren wurde Christoph Schlingensief am 24.10.1960 in Oberhausen. Schlingensief, der in München Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik studierte, machte sich zuerst einen Namen als Filmemacher. So schildert bsplsw. das „Deutsche Kettensägenmassaker“ aus dem Jahr 1990, wie eine Metzgersfamilie aus DDR-Bürgern in einer reichlich skurrilen Geschichte Wurst produziert.

    Meine erste Begegnung mit einer Theaterproduktion von Schlingensief war im Jahr 1993 „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ an der „Volksbühne“ in Berlin. Ich wusste nicht so genau, was mich erwartete, aber eines war für mich sehr schnell klar: Vergleichbares hatte ich auf der Bühne nie gesehen. Frei improvisierte Passagen standen neben zumindest dem Grunde nach festgelegten Abläufen, das Publikum wurde nicht nur angespielt, sondern auch mit einbezogen, unter einer geradezu aberwitzigen Spielfreude schien der Abend immer wieder aus den Fugen zu geraten - und trotzdem machte das alles irgendwie Sinn. Absolut faszinierend, Geschmacksgrenzen überschreitend, polarisierend – ein Theater von einer unglaublichen Kraft: verstörend, fordernd, tief ernst und immer wieder auch heiter.

    Es folgten an der Volksbühne „Kühnen 94 – Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“ und „Rocky Dutschke 68“ (die Hörspielfassung dieses Stückes wurde mit Preisen bedacht). Das Publikum mochte Schlingensief nicht bedingungslos folgen, man rieb sich an seinen nicht leicht zu fassenden Produktionen.

    Schon in dieser Zeit arbeitete Schlingensief mit Behinderten und provozierte die Frage, ob man dies denn in der Form machen darf, wie Schlingensief es tat, in einem Züricher „Hamlet“ arbeitete er mit aussteigewilligen Neonazis, auch hier wurde gleich die Frage gestellt, ob man das denn machen darf. Schlingensief war immer überzeugt von dem, was er tat, für ihn stellten sich solche Fragen nicht.

    Wer Schlingensief live erleben konnte, sah immer einen Mann, der sich verausgabte. Ich erinnere mich an einen Abend seiner Produktion „Quiz 3000“, wo ein immer stimmloser werdender Schlingensief den Abend an den Rand des Abbruchs brachte – die heisere Stimmlosigkeit lies sich auch beim „Pfahlsitzen“ an der Frankfurter Hauptwache beobachten, eine Aktion, die Schlingensief mit Begeisterung selbst betreute.

    Zwischenzeitlich war Schlingensief selbst den grösseren Theatern nicht mehr wirklich unheimlich genug, um ihn nicht zu engagieren: am Burgtheater in Wien inszenierte er „Bambiland“ von Elfriede Jelinek, in Bayreuth war er der Regisseur von Wagners „Parsifal“. Die Produktion der Wagner-Oper war erstaunlich erfolgreich – auch wenn Titelrollentenor Endrik Wottrich sich als eigentlich grösseres Problem als der Festspielleiter Wolfgang Wagner erweisen sollte. Katharina Wagner hat nach eigener Aussage Schlingensief in ihrer „Meistersinger“-Inszenierung in der Figur des Stolzing ein kleines Denkmal gesetzt.

    Einen Eklat gab es in Bonn als Schlingensief in der Uraufführung der Oper „Freax“ von Moritz Eggert statt richtiger Opernsänger/innen lieber jene Behinderte auftreten lassen wollte, mit denen er seit Jahren zusammenarbeitete, der Komponist weigerte sich, die Uraufführung konnte nur halbszenisch stattfinden. Freax

    Eine Produktion der „Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels an der „Deutschen Oper“ konnte Schlingensief wegen seiner damals ausgebrochenen Krebserkrankung nicht mehr selbst betreuen, sein Produktionsteam übernahm diese Aufgabe und zeigte einen bildstarken, fulminanten Opernabend, der mit normalen Massstäben kaum zu messen ist. hl. Johanna

    Neben Kunstaktionen wie der „Kirche der Angst“ – oder auch einer Parteigründung – engagierte sich Schlingensief für ein „Festspielhaus für Afrika“, inszenierte schon mal Wagner im Urwald und ging sehr offensiv und berührend mit seiner Krebserkrankung um.

    Mit Christoph Schlingensief verliert das deutsche Theater einen seiner radikalsten, vielleicht auch unbequemsten und sicher am schwersten einzuordnenden Regisseure. Er war jemand, der eine unglaubliche Energie zu besitzen schien. Dass er jetzt, im Alter von nur 49 Jahren verstarb, ist trotz seiner bekannten Krankheit noch schwer begreifbar.

    Der Kunst ihre Freiheit

  • Lieber Alviano,
    vielen, vielen Dank für diese Würdigung. Ich möchte mich mit zwei persönlichen Reminiszenzen anschließen.

    Schlingensief war mir im Grunde nur als Regisseur mindestens so seltsamer wie brillanter Filme bekannt, als er einen Auftrag von den Wiener Festwochen bekam und vor der Staatsoper die Aktion "Bitte liebt Österreich" veranstaltete. Im Österreichischen fernsehen lief damals die saublöde Reality-Show "Big Brother", bei der die Zuschauer mittels Anruf einzelne Teilnehmer "hinauswählen" konnten. Daran hängte sich Schlingensief an. Er brachte in einem umzäunten Container Ausländer unter, und Passanten hatten die Möglichkeit, den Abzuschiebenden zu wählen. Oben drauf prangte eine Fahne mit der Aufschrift "Ausländer raus!", dem Wahlslogan der weit, sehr weit rechts stehenden FPÖ.
    Ich bewunderte, wie Schlingensief seine Falle aufstellte: Die Aktion selbst war schon perfide - aber die Fahne war ein Geniestreich: Blieb sie, durfte man die Meinung des rechten Mannes lesen, die sich in der Öffentlichkeit immer stärker durchzusetzen schien. Würde sie abmontiert, wäre es ein Zeichen, daß Schlingensief in der Ausübung seiner künstlerischen Tätigkeit zensuriert würde.
    Die Fahne blieb, und der ÖVP-Kulturstadtrat Marboe stellte klar, daß ihm die Aktion zwar nicht gefiele, er aber mit Zähnen und Klauen verteidigen würde, daß sie so stattfinden kann, wie Schlingensief sie durchführen will.
    Das Ergebnis waren endlose Diskussionen - und Schlingensief erreichte, daß wohl jeder halbwegs denkfähige Österreicher zumindest vor sich selbst einmal klären mußte, wie er es denn mit den Zuwanderern halte. Ich bewundere Schlingensief dafür bis heute.

    Zweite persönliche Reminiszenz: Schlingensief war einer der Kandidaten für den "Nestroy", einen österreichischen Theaterpreis, dr ähnlich den Oscar-Modalitäten vergeben wird, also mit einem Gewinner und mehreren Verlierern. Schlingensief war bereits todkrank, reiste dennoch an, denn man war ziemlich sicher, daß man ihm den Preis zuerkennen würde, schon angesichts der besonderen Situation. Und man führte Schlingensief auf die mieseste Weise vor, indem man jemand anderem den Preis zuerkannte, der ihn erstens nicht ansatzweise in diesem Ausmaß verdient hatte und zweitens ohne weiteres noch ein oder zwei Jahre hätte warten können. Ich hielt das für eine extrem miese Aktion und schrieb in der Zeitung einen entsprechenden Artikel.
    Zwei Tage später kam eine Mail von Schlingensief, in der er sich sehr persönlich und liebenswürdig bedankte. Es gab dann noch ein paar Mails, und immer mehr wurde mir klar, daß dieser brillante Provokateur eine unglaublich sensible Seite hatte und obendrein über eine ungeheure Fähigkeit verfügte, Verbindungen zwischen Wissensinhalten herzustellen. Meine Bewunderung stieg und stieg.

    Mir wird dieser kluge, sensible und brillante Mensch fehlen - und er wird dem Theater und dem Musiktheater fehlen. Denn Provokateure mag es viele geben, aber es gab nur einen Schlingensief.

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Danke, Alviano und Edwin. Ich bin zu traurig, um jetzt groß aufzuschreiben, warum mir Christoph Schlingensief so sehr fehlen wird. Nur so viel: es wird jetzt wieder ein paar Tage lang die Rede sein vom "Provokateur", "Querulanten" und "enfant terrible" Schlinge. Das übliche oberflächliche Gerede. Vor allem war er: ein ganz großer Moralist, ein großer Ermöglicher und Grenzenöffner und ein unglaublicher Theatermacher. Ich bin einfach zornig, dass Gott uns gerade den so früh nimmt. Er war ungeheuer wichtig, für uns alle - auch für die, die das gar nicht wissen. Seine Kunst stand weit über dem allermeisten. Sein Tod ist ein riesiger Verlust.

    M.

  • Die Nachricht vom Tode Schlingensiefs hat mich heute auch sehr betroffen gemacht. Vor einigen Monaten noch sah ich ihn in einer nächtlichen TV-Runde, in der er mit dem aus Burkina Faso stammenden Architekten Francis Kéré das Projekt Festspielhaus für Afrika eindringlich vorstellte. Dort strahlte er trotz körperlicher Auszehrung viel Kraft und - zumindest nach außen - großen Optimismus und Lebenswillen aus.

    Mir ist Schlingensief zunächst durch seine Filme 100 Jahre Adolf Hitler - Die letzte Stunde im Führerbunker, Das deutsche Kettensägenmassaker, Terror 2000 und Die 120 Tage von Bottrop bekannt geworden. Und durch seine Zusammenarbeit mit dem in einigen Punkten geistesverwandten Helge Schneider. Theater-Inszenierungen habe ich leider nie live erlebt.

    Die von Edwin erwähnte Asylbewerber-Aktion in Wien habe ich damals aus der Ferne auch mit großem Interesse verfolgt. Auch an Quiz 3000 erinnere ich mich. Ebenso an U3000 - eine für den Musiksender MTV produzierte mehrteilige Reality-Show aus einer Berliner U-Bahn. In ihr rief Schlingensief mit Dutschke-Perücke die Revolution aus oder exorzierte vom Teufel besessene Menschen mit Hilfe von afrikanischen Trommlern. Es wurde geschrien, geprügelt, gesungen und - natürlich - es floss viel Kunstblut.

    Ich hatte immer das Gefühl, im Hirn und in der Seele des großen Jungen Christoph Schlingensief waren so viele Geschichten, Probleme, Ängste und Wut zu einem so großen Knäuel verknotet, dass er immer wieder Versuche unternahm, unter großer Pein und lautem Schreien diesen Knoten zu lösen. Auch in seinen diversen Interviews drängte sich mir der Eindruck auf, dass die unzähligen Themen, an denen er förmlich litt, so groß und vielfältig waren, dass er sich selbst in ihnen verfing. Er konnte oft nervig sein, enorm anstrengend, laut und schrill, getrieben von einem unbändigen Willen. Bei ihm spürte man aber immer, dass das nur die andere Seite der Medaille eines hochsensiblen Menschen war. Ich war ein großer - wenn auch manchmal fassungslos kopfschüttelnder - Anhänger seiner Aktionen und künstlerischen Tätigkeiten. Sein viel zu früher Tod stimmt mich sehr traurig.

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Danke Edwin für diese Würdigung.

    Ich habe lange überlegt, was ich aus meinem subjektiven Empfinden zum Tod dises bedeutenden Menschen sagen kann. Mir fehlen die Worte und du hast aus Wien alles gesagt, was es zu würdigen gibt. Schlingensief war zweifellos kein einfacher Künstler, aber er hat über das Theater hinaus Denkanstöße geliefert und Diskussionen provoziert.

    Vielen wird er abgehen.

  • es wird jetzt wieder ein paar Tage lang die Rede sein vom "Provokateur", "Querulanten" und "enfant terrible" Schlinge. Das übliche oberflächliche Gerede.

    Ich bin so gut wie gar nicht vertraut mit den Werken Schlingensiefs, aber ich empfinde schon jetzt leichten Groll gegen das unaufrichtige und wie Don Fatale richtig bemerkt oberflächliche Gesülze allenthalben.
    Diese Buchstabenwixerei, in der sogar Magazine wie DER SPIEGEL in seiner online-Präsenz mitmischen (oder sollte man sich gar nicht wundern, schließlich verkommt das Magazin auch immer merh zum Service-Schmierblatt) und in großen Lettern vom Theater-Provokateur schreiben ist widerlich. Es reicht nicht, dass ein wohl bedeutender Theaterregisseur viel zu jung stirbt, der Ritus gewordene, Gleichgültigkeit offenbarende, breaking news-bullshit läuft auf Hochtouren. Man möchte wirklich kotzen. Und die ganzen Stimmen, die folgen werden. :stern: :stern: :stern: *KOTZ*

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Ich bin auch sehr traurig.
    Danke für Eure Würdigungen.
    Besonders schön finde ich folgende Bemerkung von Edwin:

    ... und immer mehr wurde mir klar, daß dieser brillante Provokateur eine unglaublich sensible Seite hatte und obendrein über eine ungeheure Fähigkeit verfügte, Verbindungen zwischen Wissensinhalten herzustellen.

    Ich kenne die Hörspielarbeiten von Schlingensief und finde vor allem "Rocky Dutschke '68" sehr gelungen, witzig, kühn inszeniert.
    Einen ganz anderen Schlingensief habe ich kennen gelernt, als ich sein Krebstagebuch gelesen habe.

    Es ist ein außerordentlich berührendes Buch: Nach seiner Krebsdiagnose spricht Schlingensief im Krankenhaus seine Gedanken und Empfindungen in ein Diktiergerät. Man erlebt die verschiedenen Stadien der Reflexion, der Angst und der Euphorie dadurch ziemlich direkt, nicht gebrochen durch einen reflektierenden Rückblick. Schlingensief durchläuft Phasen der Wut, Verzweiflung und Gelassenheit. Vollkommen überrascht hat mich die große Empathie, die Schlingensief für andere Menschen hat, die Sensibilität, Naivität und auch der, ich kann's nicht anders sagen, kindliche Humor.
    Was mich sehr beeindruckt hat, war das Verständnis, mit dem Schlingensief über Behinderung nachgedacht hat. Eine Krebsdiagnose ist ja noch nicht unbedingt der Anlass, sich intensiv mit Behinderung zu beschäftigen. Aber was Schlingensief an Gedanken entwickelt, geht sehr weit. Andere, habe ich mir beim Lesen gedacht, brauchen Jahre eines Lebens mit Behinderung, um soweit zu kommen, wie Schlingensief nach ein paar Monaten. (Und damit habe ich mich gemeint.)

    Ich glaube, ich habe selten etwas gelesen, das von größerer Sensibilität und Menschlichkeit geprägt war.
    Danke, Christoph Schlingensief, dafür!

    One word is sufficient. But if one cannot find it?

    Virginia Woolf, Jacob's Room

  • Christoph Schlingensief

    An die "Ausländer raus"-Performance kann ich mich auch noch erinnern - sie war in der Tat perfide und damit einfach punktgenau. Wir hatten in Deutschland vergleichbare Aktionen. Das Plakat "Tötet Helmut Kohl" (anlässlich eines Projektes zur Kasseler "Documenta") brachte Schlingensief Ermittlungen des Staatsanwaltes ein. In der von mir besuchten Aufführung von "Quiz 3000" rannte Schlingensief wie besessen durch den Zuschauerraum und skandierte eben diesen Satz, das Publikum zeigte sich leicht hilflos.

    Bedenkt man, wie brutal manche Bildfindung von Schlingensief war (Videoeinspielungen von Operationen am offenen Herzen oder von (männlichen) Beschneidungen prägen sich vermutlich nicht nur sensibleren Gemütern tief ein, denen sind möglicherweise schon Zeitlupenaufnahmen von verwesenden Hasen zuviel), wirkte er in Interviews oft sehr verbindlich, feinfühlig, reflektierend und ausgesprochen angenehm - das deckt sich mit dem Eindruck, den Edwin hier schildert.

    Bei den Filmen gab es oft irrwitziges zu sehen - aber allein wie es Schlingensief gelingt, eine Darstellerin wie Kitten Natividad oder einen Darsteller wie Udo Kier zu integrieren ("United Trash"), verdient Respekt.

    Bislang unerwähnt blieb Schlingensiefs Versuch, sich als Talkmaster zu bewähren. Während Ingrid Steeger von Schlingensief heillos überfordert wurde (und einem wirklich leid tun konnte), waren die Interviews mit Mooshammer und vor allem Hildegard Knef echte Sternstunden eines Versuches, die Idee "Talk-Show" geradezu ad-absurdum zu führen.

    Der Kunst ihre Freiheit

  • Ich bin weiterhin kaum in der Lage, meine Gedanken in wohl gesetzte Worte zu fassen, möchte sie aber trotzdem versuchen, öffentlich ein bisschen zu sortieren - der Tod Christoph Schlingensiefs wühlt mich wirklich auf. Gerade dachte ich (und hoffe, niemanden mit diesem Gedanken zu verletzen; das ist kein irgendwie gearteter Vergleich), dass mich zuletzt der Tod von Papst Johannes Paul II. ähnlich aufgewühlt hat. Beide sind ja in gewisser Weise "öffentlich" gestorben, haben ihr Sterben, ihren allmählichen Verfall öffentlich gelebt, Christoph Schlingensief mit dem Buch, zahlreichen Interviews, dem Oratorium "Kirche der Angst", Johannes Paul unter anderem bei seinem letzten Osterfest im Vatikan. Bei beiden habe ich mich dabei nicht als fremder Voyeur ihres Sterbens gefühlt, sondern irgendwie als Teilnehmender, als Einbezogener, und beide haben mir den Gedanken ans Sterben (es hilft ja nichts, irgendwann erwartet es jeden von uns) auf eigenartige Weise leichter gemacht. Vielleicht einfach schon dadurch, dass sie es nicht versteckt und verleugnet haben. Der christliche Gedanke, dass einer für die Menschheit, für die Zurückgebliebenen stirbt, hat dadurch für mich irgendwie eine neue Bedeutung gewonnen.

    Letztlich war Christoph Schlingensief auch ein Gottsucher; er entstammte sehr ähnlich wie Joseph Beuys dem rheinischen Katholizismus; das war die Folie, auf der sich vieles von dem abspielte, was er tat und dachte. Beeindruckt hat mich immer, wie er Gemeinschaft dachte und empfand. Seine Arbeit mit Behinderten z.B. oder die Arbeit am Operndorf in Afrika war ja nie ein "Sich-Einsetzen-für-jemanden" sondern ein "Arbeiten-mit-jemandem". Das habe ich schon bei seinen frühen Theaterarbeiten sehr geliebt, an denen Menschen mit Behinderung mitwirkten, ohne dass es sich um "Projekte" handelte mit "sozialtherapeutischem" Ansatz, sondern einfach weil diese Menschen Christoph Schlingensief interessierten, weil er ihren Beitrag zu seiner Kunst wirklich wertschätzte.

    M.

  • Ich habe mir im Verlaufe dieses Abends viele Clips auf Youtube über und mit Christoph Schlingensief angesehen. Vielleicht deshalb, weil ich nicht wahrhaben möchte, dass er nun nicht mehr auf und für uns wirken wird. Sehr oft nimmt er Bezug auf den Beuys'schen erweiterten Kunstbegriff. Und wenn jemand das wirklich öffentlich gelebt hat, dann Schlingensief. Eine Trennung von Leben und Kunst war für ihn völlig undenkbar. Besonders in seinen letzten Projekten und Inszenierungen, die bereits im Schatten der schweren Erkrankung standen, hat er eine für mich sehr bewegende große Klammer um alle Themen spannen können, die letztlich danach fragen: Was bedeutet für mich Menschsein? Welche Verantwortung trage ich? Wie sieht Gerechtigkeit aus? Vom einfachen Zwiegespräch bis zur ausgetüftelten Produktion habe ich bei ihm immer diese - manchmal sehr laut gestellten - Fragen heraus gehört.

    Ich habe keine Ahnung, wie er denn im Umgang gewesen sein mag. Keine Ahnung, ob er krawallig-divenhaft mit Ensemble-Mitgliedern umgesprungen ist. Ich werde den Menschen Schlingensief eh nicht zu fassen bekommen. Ich bemerke lediglich, dass in ihm Demut und Größenwahn, kleinste Nuancen und gröbste Effekte, Liebe und Wut, Mitgefühl und Angriffslust Raum hatten, die sich in allem wieder finden, was ich von ihm kenne. All diese menschlichen Eigenschaften waren doch immer offensichtlich von ihm transportiert worden. Wie tatsächlich so simpel vom Provokateur oder Querulanten geredet werden kann, ist mir auch bei nur teilweiser Kenntnis des Schlingensief'schen Lebens und Arbeitens völlig schleierhaft.

    Erhellend fand ich bei meinem Youtube-Abend die Episode aus der arte-Reihe Durch die nacht mit... Hier trifft Schlingensief auf Michel Friedman. Man möge sich selbst ein Urteil bilden, wer hier der provozierendere Mensch ist... Auch Alvianos Hinweis auf Talk 2000 bin ich nachgegangen. Zwar hatte ich die Sendungen aus der Volksbühne Berlin damals gesehen, doch ich konnte mich nicht mehr so richtig erinnern. War eigentlich Schlingensiefs Abgang beim Gespräch mit Harald Schmidt ein Fake? Hatte er wirklich die Schnauze voll von Schmidts Pointen-Sucht?

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Ich habe Christoph Schlingensief sehr gemocht. Es macht mich traurig, dass er nun von uns gegangen ist.

    Ich weiß nicht sehr viel von ihm, hauptsächlich durch seine Aktionen und Gespräche in Talk-Runden wurde ich auf ihn aufmerksam. Immer habe ich mir vorgenommen, mich mehr mit dem Künstler Schlingensief auseinander zu setzen. Weil mich der Mensch Schlingensief mit all seiner Sensibilität, Direktheit, Offenheit und vor allem mit seiner großen Menschlichkeit berührte.

    Carsten sagt oben genau das, was ich auch immer dachte:

    Zitat

    All diese menschlichen Eigenschaften waren doch immer offensichtlich von ihm transportiert worden. Wie tatsächlich so simpel vom Provokateur oder Querulanten geredet werden kann, ist mir auch bei nur teilweiser Kenntnis des Schlingensief'schen Lebens und Arbeitens völlig schleierhaft.

    Ich verstehe es auch nicht.

    Zuletzt hatte ich sein Krebs-Tagebuch gelesen. Auch aus persönlichen Motiven heraus, weil ich einen guten Freund nach einer Lungenkrebs-Erkrankung verloren hatte. Ich erinnere mich, dass ich Antworten suchte, gleichzeitig das Gefühl hatte, mit meinen Fragen niemanden belästigen zu dürfen. Über Krankheit und Tod spricht man nicht, solche Themen machen Angst. Christoph Schlingensief hat nach einem Weg gesucht, um mit seiner Angst fertig zu werden. Ich bin sicher, er hat mit seinem Buch und seiner Art, künstlerisch tätig zu sein, vielen Menschen Mut gemacht.

    So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! - Vielleicht doch. Ich wünsche es ihm.

  • Christoph Schlingensief

    Wulf hat es weiter oben schon angedeutet, es ist in den vergangenen Tagen mitunter befremdliches auch in gemeinhin als seriös geltenden Medien über Christoph Schlingensief zu lesen gewesen. Ein Artikel, der mir sehr gut gefallen hat, ist in der heutigen "taz" erschienen. Er stammt von Katrin Bettina Müller und ich möchte ihn hier vorstellen:

    "http://www.taz.de/1/leben/kuenst…raft-der-kunst/" Schlingensief

    Kurz noch zu Carsten: an Harald Schmidt kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich habe auch nicht alle Folgen von "Talk 2000" sehen können. Bei Schlingensief konnte man sich nie sicher sein, wo das Spiel in den Ernst überging. Ich erinnere mich an eine grandiose Publikumsbeschimpfung, die wohl zumindest in Teilen spontan und echt war.

    Der Kunst ihre Freiheit

  • BILD brachte es mal wieder auf den Punkt:

    Zitat

    Er war Nichtraucher und ein irres Genie.

    Die Fernsehaufzeichnung von Schlingensiefs "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" (Ruhrtriennale 2008) ist bei youtube in voller Länge, auf 9 Schnipsel verteilt, zu betrachten. Dieses "Oratorium" ist letztlich Schlingensiefs Requiem auf sich selbst. Ich war sehr berührt davon, es wieder zu sehen.

    Grüße
    vom Don

  • Nachrufe und ihre Topoi sind meine Sache nicht. Vieles was jetzt über Schlingensief geschrieben wird, u.a. auch der Alviano verlinkte taz-Artikel, erscheint mir zu harmonisierend. Der ständige Gebrauch von Vokabeln wie "Provokation" und "Provokateur" ist natürlich blöd, das Kontern mit Formeln wie "Christoph Schlingensief hat den Provokateur gegeben, wo immer man den Provokateur von ihm wollte" aber auch nicht besser - zudem sachlich falsch und noch nicht mal besonders schmeichelhaft. Schlingensief war naklar ein Provokateur, er konnte enorme Aggressivität und Wut ausstrahlen, den Leuten in die Fresse hauen, wenn nötig (und manchmal auch unnötig). Dass er sich nicht darauf reduzieren lässt - auch klar. Und dass er wohl gleichzeitig ein sensibler, verletzlicher, großherziger Mensch gewesen ist - ja, wieso denn nicht? Warum sollte das ein Widerspruch sein?

    Gerade weil Schlingensief wie kein anderer zeitgenössischer Künstler sein Leben offengelegt und als Kunst inszeniert hat, kann ich wenig über den Menschen Schlingensief sagen. Ich habe ihn nicht persönlich gekannt, nur sporadisch live oder im Fernsehen erlebt. Sein Werk finde ich faszinierend, weil es mit enormer Konsequenz versucht, die europäische Avantgarde wieder zum Leben zu erwecken: in der Negierung aller Gattungen, in der Verquickung von Film, Aktionskunst, Theater, Oper, Fernsehen, Internet, Literatur, Journalismus, Politik. In der offenen Anlage seines Theaters in der Volksbühnenzeit, das wie bei futuristischen serate oder dadaistischen Soiréen darauf angelegt war, außer Kontrolle zu geraten, das Publikum aggressiv bis zur körperlichen Auseinandersetzung herauszufordern. In seinen oft wirklich witzigen, neo-neo-dadaistischen Aktionen wie Tötet Helmut Kohl! In seinen Grenzüberschreitungen zur Politik, z.B. der Parteigründung. Und natürlich in dem alten Avantgardetraum, Kunst und Leben ununterscheidbar zu machen. Schlingensief hat sich ja auch immer wieder auf die Geschichte der Aktionskunst berufen, meist auf ihre Nachkriegsausformungen, nicht nur auf Fluxus. Ich hab mich bei Schlingensief auch schon gelangweilt: die Produktionen lebten von seiner unglaublichen persönlichen Präsenz, wenn die nachließ, konnte es löchrig werden.

    Mein erstes Schlingensief-Erlebnis war der schon von Alviano erwähnte Film Das deutsche Kettensägenmassaker, in den mich (ca. 1991) eine Freundin mitschleppte. Von einem solchen Underground-Produkt war es ein weiter Weg ins Burgtheater und nach Bayreuth, und die Etablierung Schlingensiefs im Theaterbereich hat schon was Unheimliches. Kein Zufall, dass für die Nachrufe im Feuilleton jetzt häufig Theaterkritiker aufmarschieren. In der Kunstszene hat sich Schlingensief nie so gut etablieren können, auch weil Aktionskunst von den Institutionen immer misstrauisch beäugt wird. Als es 2007 ein allgemein genervtes Aufstöhnen des Kunstbetriebs anlässlich einer Hermann-Nitsch-Ausstellung (einschl. Aktion) im Berliner Gropiusbau gab, verfasste Schlingensief einen wütenden Artikel in der Süddeutschen, in dem er schlingensieftypisch zugab, dass er mit Nitsch nicht besonders viel anfangen könne, um dann loszuledern: Und wenn mir morgen noch mal ein Kunstarsch sagen will, dass Nitsch nicht im Museum funktioniert und Beuys auch nicht, dann reiß ich ihm seinen Dreitagebart aus dem Gesicht. Und das vom Meister des Dreitagebarts...


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Den "Provokateur" Christoph Schlingensief habe ich ein einziges Mal mit einer seiner Produktionen erlebt, das war Mitte der 1990er-Jahre bei einem Besuch der Berliner Volksbühne: Kühnen '94 - Bring mir den Kopf von Adolf Hitler! hieß das Stück, in dem Schlingensief selbst die Rolle des Neonazis Michael Kühnen übernommen hatte. Ich erinnere mich nicht mehr allzu klar daran; jedenfalls war es eine drastische, irritierende Vorstellung.

    Ist lange her, dennoch: Kennt jemand von Euch dieses Projekt?

    Hier gibt es Näheres: "http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t002".

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Heute abend auf 3sat:

    22.25 h: Kulturzeit extra: Im memoriam Chr. Schlingensief

    23.10 h: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir - Fluxus-Oratorium von Christoph Schlingensief. Mit Margit Carstensen, Angela Winkler, Anne Tismer, Mira Partecke

    00.40 h: The African Twintowers. Ein Projekt von Christoph Schlingensief, Deutschland 2009. Mit Irm Hermann, Klaus Beyer, Patti Smith, Robert Stadlober

  • Kirche der Angst

    Aufgrund der etwas ungnädigen Zeit habe ich nur zweidrittel des Schlingensief-Abends sehen können, nämlich das Interview und "Eine Kirche der Angst", aber mich hat beides tief berührt und bewegt. Beim Interview waren es eher die Nebenbemerkungen, die hängengeblieben sind. Wenn Schlingensief darüber spricht, wieviel Lebenswillen er in sich spürt, jetzt, im Angesicht der knapper werdenden Zeit oder wenn er feststellt, dass er nicht gehen will und auch, dass er sich vor dem, was da kommt fürchtet, das lässt mich jetzt noch nicht los.

    "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" ist ein grandioser Theaterabend geworden. Er vereinigt nocheinmal die Elemente, die man von Schlingensief kennt, wirkt aber strenger in der Form, insofern man diesen Begriff auf eine Schlingensief-Arbeit überhaupt anwenden kann. Wie Schlingensief den Zuschauer mit seiner Krebserkrankung konfrontiert, was er ihm zumutet, in welche Bilder er sein Stück packt (als Video-Einspielung und live), wie er persönliches öffentlich macht, hat mich an mehr als einer Stelle erschüttert. Allein die erste Videosequenz, die Schlingensief im Krankenhaus, wohl nach der Operation, zeigt und wo Schlingensief weinend darum bittet, ihn jetzt nicht anzufassen, ist kaum auszuhalten, vor allem, wenn dieses Bild sofort durch unbeschwerte Aufnahmen aus der Kindheit konterkariert wird. Diese gesamte Passage wird am Ende des Abends wiederholt und schliesst somit einen Kreis um dieses "Oratorium". Der Blick auf die Bilder hat sich verändert, anderhalbstunden lang ist man vom Autor auf eine Reise mitgenommen worden, deren Stationen nur schwer wieder vergessen werden können, Dankeschön für diese Erfahrung.

    Die Textfragmente aus Schlingensiefs Tagebuch - und hier auch die Zitate der behandelnden Ärzte - geben Einblick in einen Umgang mit der Krankheit, der vielleicht wirklich einzigartig ist. Während das Fernsehbild die grossen Massenszenen, das Bespielen des Raumes nur unzureichend wiedergeben kann, liegt die Stärke der Kamera in den Nahaufnahmen: besonders beeindruckend für mich: die älter gewordene Margit Carstensen, der ich stundenlang hätte zuschauen und zuhören können.

    Vor zwei Jahren, als die Produktion das erste Mal gezeigt wurde, kann ich mich, bei allen kritischen Anmerkungen, an keine Besprechung erinnern, die nicht zuletzt ihren hohen Respekt vor dieser Arbeit artikuliert hätte. Zu Recht.

    Der Kunst ihre Freiheit

  • Die Textfragmente aus Schlingensiefs Tagebuch - und hier auch die Zitate der behandelnden Ärzte - geben Einblick in einen Umgang mit der Krankheit, der vielleicht wirklich einzigartig ist.


    Wie kommst Du zu der Einschätzung? Gibt es da viel Vergleich, was Krebstagebücher betrifft? Oder warst Du oft in Krebsstationen?

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Die Krebsstationen sind im Zusammenhang irrelevant, da es sich bei Schlingensief um eine künstlerische Aufarbeitung des Themas handelt. Krebstagebücher hingegen, zumindest die wenigen, die ich kenne, versuchen, das Thema in optimistischer Sicht zu behandeln. Wie Schlingensief hingegen seine Todesangst beschreibt und den Lebenswillen im Angesicht des Todes, ist weit entfernt von dem, was man zum Thema in der Regel zu lesen bekommt. Es stimmt aber, daß es nicht "einzigartig" ist. Es gibt ein Buch, das dieses Thema aus einer ähnlichen Position angeht, nämlich "Demnächst" von Jörg Mauthe mit dem niederknüppelnden ersten Satz "Demnächst werde ich sterben". Eventuell vergleichbar ist auch "Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat", in dem Hervé Guibert seine Aids-Erkrankung thematisiert, die damals noch unausweichlich zum Tod führte.
    Ich bin übrigens der Meinung, daß man angesichts dessen, welche ehrliche Erschütterung Schlingensiefs Tod bei den meisten Menschen, auch bei vielen, die sich für Theater nur am Rande interessieren, ausgelöst hat, nicht jedes Wort auf die Waagschale legen sollte.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

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