Wie antisemitisch darf ein Künstler sein?

  • Welcher jüdische Intellektuelle oder Künstler hat denn Wagner antisemitische Codes in seinen Werken vorgeworfen?

    Adorno.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Na und? Daraus folgt für mich zunächst mal gar nichts.


    Für mich folgt daraus nur die Feststellung, dass zwei der bedeutensten Wagner-Dirigenten der letzten 60 Jahre - die in Wagners Werken vermutlich jede Note kannten bzw. kennen - diesen Aspekt in Wagners Werk nicht sahen bzw. sehen. Was man daraus wiederum folgern soll, steht auf einem anderen Blatt.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Adorno.


    Stimmt, da hast Du einen Punkt. Aber war Adornos Verhältnis zu Wagner nicht durchaus Veränderungen unterworfen?

    Übrigens gibt es von Stephen Fry (der auch jüdisch ist) einen schönen und sehr persönlichen Film mit dem Titel "Wagner and me", den man z. B. hier findet. Dies aber nur am Rande.

    LG :wink:

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  • Aber war Adornos Verhältnis zu Wagner nicht durchaus Veränderungen unterworfen?

    In Bezug auf Antisemitismus in Wagners Opern? Mir nicht bekannt. Was nicht ausschließt, daß es da Veränderungen gab.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
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    Helmut Lachenmann

  • In Bezug auf Antisemitismus in Wagners Opern? Mir nicht bekannt. Was nicht ausschließt, daß es da Veränderungen gab.


    Man müsste hierzu wohl alle Wagner-Aufsätze von Adorno nochmal sichten. Immerhin hat er in den 1960er Jahren einen Text für die Bayreuther Festspiele geschrieben, und ich glaube kaum, dass er dem dortigen Publikum seine kritischen Thesen um die Ohren gehauen hat. Das müsste man aber natürlich genau lesen, um sich ein Bild zu machen.

    LG :wink:

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  • Das sich Wagner-Dirigenten nicht explizit zu den antisemitischen Inhalten in dessen Werken geäussert haben ist kein Beweis dafür, dass es sie nicht gibt. Wer sich mit Wagners Schriften, seinen überlieferten Äusserungen (Cosimas Tagebücher) und den Kommentatoren aus seinem engsten Kreis (z.B. Hans von Wolzogen) beschäftigt, kann m.E. nicht umhin anzunehmen das es Elemente in seinen Werken gibt die sich gegen Juden richten. Das Verständnis von Antisemitismus ist je nach historischem Kontext ein anderes. Und nur weil jemand in eine jüdische Familie geboren wurde bedeutet das noch lange nicht dass er auch jüdisch denkt oder fühlt. Mahler z.B. hat von seiner jüdischen Herkunft kein Aufheben gemacht, er hat es sogar gehasst, weil es ihn überall behinderte. Als der Posten des Hofoperndirektors in Wien winkte hat er keinen Moment gezögert sich taufen zu lassen. Menselssohn ist ein ähnlicher Fall.
    Ich weiß nicht wie jüdisch die genannten Gewährsleute sind, aber jemandem nur weil er Jude ist eine besondere Empfindsamkeit abzuverlangen halte ich für unangebracht. Und auf dem Gebiet der Musik kann man Wagner ja auch keinen Vorwurf machen, und da werden wohl Musiker auch in allererster Linie den Musiker Wagner beurteilen. Und man kann die jüdischen Inhalte in Wagners Werken (und hier trifft es eigentlich nur auf den "Holländer", den "Ring" und "Parsifal" zu) ja auch als Faktum akzeptieren, als dramatisch notwendiges Element im Sinne von Wagners Philosophie und Weltbild. Ein Regisseur kann das für eine Aufführung thematisieren oder auch nicht, je nach Konzeption. Ich halte den Ansatz von Koskis Meistersinger-Inszenierung auch nicht für schlüssig (s.dort), aber es ist eine Möglichkeit sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen. Daniel Barenboim scheint es ohnehin darum zu gehen, Wagners Musik vor den Antisemitismusvorwürfen in Schutz zu nehmen, denn sonst würde er sich nicht so vehement gegen ein Aufführungsverbot wo auch immer positionieren. Er hat ohnehin ein sehr differenziertes Verhältnis zum Judentum, siehe seine Kritik am Staat Israel.

    Also nicht jeder Jude muß alles was irgenwie antijüdisch ist kritisieren, oder sich gar weigern Wagner aufzuführen. Hermann Levi waren Wagners Ansichten über Juden durchaus bekannt, aber er hat trotzdem dessen Musik verehrt und dirigiert (und nicht nur weil der König von Bayern es befohlen hatte). Es ist der Gegensatz von Mensch und Künstler, der in Sachen Wagner polarisiert. Diejenigen welche in ihm das überragende Musikgenie sehen oder gesehen haben, sind durchaus bereit ihm seine Ansichten (u.a. zum Judentum) nachzusehen. Selbst der betrogene Hans von Bülow war Zeit seines Lebens ein Bewunderer von Wagners Musik.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Für mich folgt daraus nur die Feststellung, dass zwei der bedeutensten Wagner-Dirigenten der letzten 60 Jahre - die in Wagners Werken vermutlich jede Note kannten bzw. kennen - diesen Aspekt in Wagners Werk nicht sahen bzw. sehen

    Sie haben sich dazu nicht (oder wahrscheinlich nicht) geäussert. Was sie darüber dachten bzw. denken wissen wir nicht. Zumindest Barenboim hat gemeint man könne keine antisemitische Musik schreiben, womit er sich ausdrücklich auf die Musik und nicht auf das Drama bezieht. Das man in letzterem antisemitisch wirken kann wird er wohl nicht bestreiten wollen.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Sie haben sich dazu nicht (oder wahrscheinlich nicht) geäussert. Was sie darüber dachten bzw. denken wissen wir nicht. Zumindest Barenboim hat gemeint man könne keine antisemitische Musik schreiben, womit er sich ausdrücklich auf die Musik und nicht auf das Drama bezieht. Das man in letzterem antisemitisch wirken kann wird er wohl nicht bestreiten wollen.


    Doch, sie haben sich dazu explizit geäußert, und zwar in dem von mir dargelegten Sinn - sie haben diesen Aspekt bestritten.

    LG :wink:

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  • Welcher jüdische Intellektuelle oder Künstler hat denn Wagner antisemitische Codes in seinen Werken vorgeworfen?

    Gustav Mahler nach den Aufzeichnungen seiner Vertrauten Natalie Bauer-Lechner im Zusammenhang einer Neubesetzung des Mime in einer von ihm geleiteten Siegfried-Aufführung im September 1898 (Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, hrsg. von Herbert Kilian, Hamburg 1984, S. 122):
    Im Siegfried Spielmann als neuer Mime. Das Ärgste an ihm ist das Mauscheln. Obwohl ich überzeugt bin, daß diese Gestalt die leibhaftige, von Wagner gewollte Persiflage eines Juden ist (in allen Zügen, mit denen er sie ausstattete: der kleinlichen Gescheitheit, Habsucht und dem ganzen musikalisch wie textlich vortrefflichen Jargon), so darf das hier um Gottes willen nicht übertrieben und so dick aufgetragen werden, wie Spielmann es tat.

    Der jüdische Musikwissenschaftler Alfred Einstein (u.a. bekannt durch seine Mozart-Monographie) hat bereits 1927 den ersten Versuch gemacht, antijüdische und antisemitische Topoi in Musikwerken vom Barock bis zu Richard Strauss zu benennen. Die Schrift ist hochinteressant und widerlegt zudem das beliebte Argument, man sei erst heute für dieses Thema (hyper)sensibilisiert. Man kann das in Gänze online lesen, es lohnt sich: https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/fron…10_a4_Art03.pdf Einstein nimmt - durchaus differenziert - auch zu Wagner Stellung und schreibt u.a.:
    Alberich und Mime, die Nibelungen, Kundry, das Zauberweib - sie sind Wagner und den Wagnerianern Symbol des Jüdischen: dort der Materialismus, der nur durch die Selbstvernichtung der Welt vernichtet werden kann, hier des Triebs, des Egoismus der Sünde, des Bösen an sich, das wieder nur durch Auflösung Erlösung findet. (S. 599, der Passus zu Wagner geht noch weiter).

    Ein Eintrag Cosima Wagners in ihrem Tagebuch vom 14.3.1870:
    In der Musikalischen Zeitung ist ein Bericht über die Aufführung der Meistersinger in Wien. Unter anderem hatten die Juden dort verbreitet, das Lied von Beckmesser sei ein altes jüdisches Lied, welches Richard habe persiflieren wollen. Hierauf Zischen im 2ten Akt und die Rufe, wir wollen es nicht weiter hören, jedoch vollständiger Sieg der Deutschen. Richard sagt: "Das bemerkt keiner unsrer Herren Kulturhistoriker, daß es jetzt soweit ist, daß die Juden im kaiserlichen Theater zu sagen wagen: Das wollen wir nicht hören."
    Von einer ähnlichen Reaktion jüdischer Theaterbesucher auf die Beckmesser-Figur berichtet Hans Richter aus Mannheim. Auch zur Zeit von Mahlers Direktion an der Wiener Hofoper gab es vergleichbare Auseinandersetzungen im Publikum über die Beckmesser-Figur.

    Das alles zeigt zumindest, dass ein entsprechender Rezeptionshorizont durchgehend seit Wagners Lebzeiten existierte. Es kann sehr verschiedene Gründe haben, dass dieser Rezeptionshorizont nicht häufiger öffentlich artikuliert wurde. Zweifellos spielt auch eine Rolle, dass - wie oben von Kater Murr gesagt - diese antisemitische Bedeutungsebene in den Opern nur eine unter vielen anderen ist, sie teilweise auch gebrochen wird.

    Die zitierte Erkenntnis hat beispielsweise Mahler nicht daran gehindert, glühender Wagnerianer zu bleiben und den Parsifal kunstreligiös anzubeten. Und auch der Wagner-Skeptiker Einstein hat nie bestritten, dass Wagner einer der größten Komponisten ist.

    :wink:

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  • Man müsste hierzu wohl alle Wagner-Aufsätze von Adorno nochmal sichten. Immerhin hat er in den 1960er Jahren einen Text für die Bayreuther Festspiele geschrieben, und ich glaube kaum, dass er dem dortigen Publikum seine kritischen Thesen um die Ohren gehauen hat. Das müsste man aber natürlich genau lesen, um sich ein Bild zu machen.

    Danke für den Hinweis!

    Auf Anhieb gefunden habe ich dies, vielleicht meinst Du diesen Aufsatz, den Adorno 1964 für ein Programmheft der Festspiele verfaßt hat: http://www.zeit.de/1964/30/des-me…komplettansicht.

    Am Schluß schlägt Adorno hier vor - es geht um die Frage, wie Wagner aktuell inszeniert werden sollte - , man solle "die musikalischen Dramen vom Stigma der schmählichen Judenkarikaturen des Mime und des Beckmesser wenigstens durch die Akzente der Inszenierung befreien."

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • In der Musikalischen Zeitung ist ein Bericht über die Aufführung der Meistersinger in Wien. Unter anderem hatten die Juden dort verbreitet, das Lied von Beckmesser sei ein altes jüdisches Lied, welches Richard habe persiflieren wollen. Hierauf Zischen im 2ten Akt und die Rufe, wir wollen es nicht weiter hören, jedoch vollständiger Sieg der Deutschen. Richard sagt: "Das bemerkt keiner unsrer Herren Kulturhistoriker, daß es jetzt soweit ist, daß die Juden im kaiserlichen Theater zu sagen wagen: Das wollen wir nicht hören."
    Von einer ähnlichen Reaktion jüdischer Theaterbesucher auf die Beckmesser-Figur berichtet Hans Richter aus Mannheim

    man muß allerdings berücksichtigen, daß Wagner 1869 sein Judenpamphlet wiederveröffentlicht hat und damit auf fast einhellige Enrüstung gestoßen war. Die Atmosphäre war also entsprechend aufgeheizt, so daß auch ein Gerücht von einer Judenparodie eine entsprechende Wirkung haben konnte.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Die Atmosphäre war also entsprechend aufgeheizt, so daß auch ein Gerücht von einer Judenparodie eine entsprechende Wirkung haben konnte.

    Ob "Gerücht" oder nicht: Es ist kein Zufall, dass gerade die Beckmesser-Figur als Judenkarikatur behauptet bzw. erkannt wurde.

    :wink:

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  • man muß allerdings berücksichtigen, daß Wagner 1869 sein Judenpamphlet wiederveröffentlicht hat und damit auf fast einhellige Enrüstung gestoßen war.

    Die Entrüstung war keineswegs einhellig. Es gab genügend Personen die ebenso dachten wie Wagner. Ressentiments gegenüber Juden waren ja durchaus gesellschaftsfähig, man war nur nicht so sensibilisiert wie heute.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Die Entrüstung war keineswegs einhellig. Es gab genügend Personen die ebenso dachten wie Wagner. Ressentiments gegenüber Juden waren ja durchaus gesellschaftsfähig, man war nur nicht so sensibilisiert wie heute.

    "... fast einhellig" schrieb ich. Jens Malte Fischer, der keinesfalls zu denen gehört, die Wagner in irgendeiner Hinsicht verteidigen wollen, veröffentlichte 28 Dokumente, die Reaktionen auf die Wiederveröffentlichung darstellen, davon 2 oder 3, die Wagner irgendwie in Schutz nehmen. Und auch unter den Stimmen, die Wagner in Schutz nehmen, findet sich deutliche Kritik an Wagner (s. in dem unten noch zitierten Aufsatz von einem Venzoni).

    Um nur mal ein Bild davon zu geben, wie es zuging, hier der Titel einer Stimme:

    Der zukünftige Musik-Heiland Richard Wagner vor der öffentlichen Meinung. Antwort auf dessen frivole Broschüre: "Das Judenthum in der Musik." Von einem Christen ...

    In einer Verteidigung Wagners heißt es:

    "Das große Aufsehen, welches die Broschüre von Wagner erregt, hat bekanntlich eine Menge Kritiken und Gegendemonstrationen hervorgerufen. Unter diesen allen finden sich sehr wenige, die in dem Aufreten W.'s einen künstlerischen, berechtigten Angriff sehen, sondern beinahe alle sind darin einig, in der Broschüre nur einen Ausdruck von Borniertheit, Anmaßung, gekränktem Stolz, Schreibschwindel usw. gefunden zu haben

    J. C. Venzoni: Richard Wagner's "Judenthum in der Musik" und Hanslick's Kritik derselben, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 65, Nr. 22, 1869, S. 181ff.

    J. M. Fischer berichtet von einem Brief Wagners an die Sängerin Viardot-Garcia:

    Der Brief vermittelt den Eindruck, daß Wagner doch überrascht und teilweise geniert war durch die Heftigkeit der negativen Reaktionen, denn er bemühte sich in diesem Brief, die Aufregung zu dämpfen und der ganzen Angelegenheit ein viel harmloseres Gesicht zu geben, als sie in Wirklichkeit hatte.

    (J. M. Fischer, Richard Wagners "Das Judenthum in der Musik", Frankfurt 2000, S. 112).

    weitere Äußerungen von J. M. Fischer:

    Diese Ereignisse [auch die Meistersingerproteste sind damit gemeint] [...] zeigen, daß Wagner sich vollkommen verkalkuliert hatte.

    Selbst wohlmeinende Freunde wandten sich kopfschüttelnd ab [...]

    Mit dem üblen Stichwort von der "gewaltsamen Auswerfung des fremden Elements" unterminierte Wagner ohne Not die ruhigste und positivste Phase der Emanzipation der deutschen Juden, die es je gab. Er gab der zehn Jahre später ausbrechenden massiven Antisemitismuswelle eine Art Anschubfinanzierung [...]

    (S. 116, 117, 120).

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Die Sache ist doch einfach die: Wenn es keine Judenvernichtung im 20. Jhd. gegeben hätte, würden wir den A. bei Wagner ungefähr so wahrnehmen wie die Saupreißn-Karikaturen bei Ludwig Thoma. Es wäre nicht uninteressant, würde sicher auch kein gutes Licht auf den Komponisten werfen, aber es wäre nicht von dominierenden Wichtigkeit.


    "Alberich und Mime, die Nibelungen, Kundry, das Zauberweib -
    sie sind Wagner und den Wagnerianern Symbol des Jüdischen: dort
    der Materialismus, der nur durch die Selbstvernichtung der Welt
    vernichtet werden kann, hier des Triebs, des Egoismus der Sünde,

    des Bösen an sich, das wieder nur durch Auflösung Erlösung findet." (Einstein)

    Was ich oben schlecht ausdrücken konnte, ist u.a. folgendes, das ich umgekehrt wie Einstein formulieren würde: Weil für den Antisemiten Wagner "das Jüdische" ein markantes Symbol des Materialismus und der anderen vorstehend genannten Laster (bei Geldgier vielleicht noch nachvollziehbar, aber warum "der Trieb" oder das "Böse an sich" nun jüdisch sein sollten..?) ist, finden sich solche Züge in den Figuren, die diesen Lastern verfallen sind.
    Aus dem Kontext der Opern folgt m.E. aber, dass ungeachtet dieser Assoziationen es Wagner um die allgemeine menschliche Verstrickung in diese Laster geht, nicht um das Projizieren auf einen wohlfeilen Sündenbock, den man dann vernichten kann und somit frei von Problemen wird. (Alberich zu töten würde nicht viel an der Entwicklung des Ringdramas ändern, der verfluchte Ring ist nun mal in der Welt.) Sonst könnte man Parsifal auch als "anti-christliche" Oper ansehen, weil die heuchlerische Mitleidlosigkeit der Gralsritter offensichtlich ein Zerrbild christlicher monastischer Gemeinschaften ist usw. Es fehlen (außer vielleicht bei Kundry) auch Parallelen zu der historisch-theologischen Begründung des Antijudaismus. Im Ring ist der Gegner Alberichs, Wotan, ja nicht besser. Alberich begeht als "Ursünde" den Goldraub, Wotan schwindelt ihm das Gold ab. Wotans Welt muss genauso untergehen bzw. erlöst/abgelöst werden wie Alberichs. Oder wie oben schon bei Parsifal gesagt: Wenn Wagner die (quasichristliche) Erlösung des ewigen Juden darstellen wollte, dann müsste sich Amfortas für Kundry opfern o.ä., nicht umgekehrt.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Das alles zeigt zumindest, dass ein entsprechender Rezeptionshorizont durchgehend seit Wagners Lebzeiten existierte. Es kann sehr verschiedene Gründe haben, dass dieser Rezeptionshorizont nicht häufiger öffentlich artikuliert wurde. Zweifellos spielt auch eine Rolle, dass - wie oben von Kater Murr gesagt - diese antisemitische Bedeutungsebene in den Opern nur eine unter vielen anderen ist, sie teilweise auch gebrochen wird.


    Danke für die Hinweise, ich finde Deine Schlussfolgerung plausibel. Der Widerspruch bleibt nämlich, dass viele Intellektuelle und Künstler diesen Rezeptionshorizont nicht nur ignorieren (wie Mahler), sondern ihn sogar negieren (wie Solti und Barenboim). Ich greife mal Deinen Gedanken von einer Brechung dieser Bedeutungsebene auf.

    Wenn wir davon ausgehen, dass Wagner Mime, Beckmesser und Kundry mit antisemitischen Klischees versehen hat: werden sie damit zu antisemitisch 'funktionierenden' Figuren? Ich meine, dass dies nicht der Fall ist, weil sich gegenüber den drei genannten Figuren keine hinreichende Antipathie einstellt.

    Der Beckmesser ist in seiner künstlerischen Kraftlosigkeit (bei gleichzeitigem Bemühen um gewissenhafte Traditionspflege) doch eigentlich eine arme Wurst, und im Kontext der eher heiteren Stimmung des Stücks zündet er als Bösewicht m. E. nicht.

    Bei Mime und Kundry ist bemerkenswert, dass es in den jeweiligen Stücken deutlich dunklere Figuren gibt: im "Ring" ist das Hagen (der zwar von der vermeintlichen Judenfigur Alberich abstammt, aber ansonsten nicht antisemitisch codiert wird), im "Parsifal" ist es Klingsor (bei dem jegliche jüdische Konnotation fehlt). Diese Judenfiguren sind gerade nicht sinisterer, sondern eher mitleidserweckender Natur - ähnlich wie Beckmesser.

    Wenn Wagner diese Figuren also als Judenfiguren codiert hat, so hat er dies zumindest nicht mit der Konsequenz getan, sie als dunkle Charaktere im dramatischen Gefüge darzustellen. Der Dramatiker Wagner siegt hier m. E. über den Antisemiten Wagner.

    Deswegen ist auch der mögliche antisemitische Impetus dieser Figurenkonzeptionen so schwach, dass einige Wagner-Verehrer ihn nicht sehen oder sogar abstreiten.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Im Ring ist der Gegner Alberichs, Wotan, ja nicht besser. Alberich begeht als "Ursünde" den Goldraub, Wotan schwindelt ihm das Gold ab. Wotans Welt muss genauso untergehen bzw. erlöst/abgelöst werden wie Alberichs

    Genau, aber gerade darin könnte doch eine, wenn nicht antisemitische, so doch prinzipiell rassistische Denkweise stecken. Wotan ist nicht "besser", aber er ist "etwas besseres", wie mies er sich auch benimmt.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • prinzipiell rassistische Denkweise

    ... so wie ich in den Meistersingern weniger jüdische Konnotationen bei Beckmesser bedenklich finde, als diese widerliche Art, in der "die Guten" sich als "die Guten" sofort erkennen, weil sie eben gutgeartet sind und bleiben, da ist es egal, ob der Weltweise Sachs den David verprügelt. Niemals würde er den Stolzing verprügeln.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • als diese widerliche Art, in der "die Guten" sich als "die Guten" sofort erkennen, weil sie eben gutgeartet sind und bleiben, da ist es egal, ob der Weltweise Sachs den David verprügelt. Niemals würde er den Stolzing verprügeln

    Tatsächlich gibt es in Wagners Opern solche Denkformen - wenn Gurnemanz Parsifal trotz dessen unzureichender Erziehung, Bildung, Kleidung und Bewaffnung allein anhand der Physis zuordnet: Doch adelig scheinst du selbst und hochgeboren...

    Das Beispiel aus den Meistersingern finde ich aber nicht gut gewählt: Da geht es zunächst mal um korrekt wiedergegebene Standesschranken und damit verbundene Verhaltensnormen - der Bürger Sachs schlägt den Adeligen Stolzing selbstverständlich nicht, seinem Lehrjungen kann er bei ungebührlichem Verhalten aber eine Ohrfeige geben (hier kann man wirklich auch mal historisieren: dass ein Handwerksmeister seinen Lehrling schlägt, war nicht nur im 16. Jh., sondern auch zu Wagners Zeit und noch lange danach nicht ungewöhnlich). Dass der Lehrling David den Stadtschreiber Beckmesser verprügelt, ist dagegen nur im karnevalesken Kontext der Prügelszene möglich (womit ich nicht sagen will, dass die Prügelszene nur karnevalesk ist).

    Ansonsten widerspreche ich der Behauptung, dass der Antisemitismus (nicht nur Wagners) im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit anderen, z.B. eher folkloristischen Ressentiments (Ludwig Thomas "Saupreißn") auch nur annähernd gleichzusetzen sei. Antisemitismus hatte auch in damaliger Perspektive eine ganz andere Dimension, historisch und in den konkreten Erscheinungsformen und Konsequenzen. Meine Hoffnung auf eine halbwegs konstruktive Diskussion des Themas in einem Internetforum ist allerdings minimal.

    :wink:

    .

  • der Bürger Sachs schlägt den Adeligen Stolzing selbstverständlich nicht,


    der Weltweise Sachs sollte über solche Kriterien aber erhaben sein ...

    seinem Lehrjungen kann er bei ungebührlichem Verhalten aber eine Ohrfeige geben


    es ist schon mehr:

    Lehrbuben:
    Die »Schlag«-Reime fest er [David] inne hat,
    »Arm-Hunger«-Weise singt er glatt.
    [...]
    Doch die »harte-Tritt«-Weis', die kennt er am best' -
    [...]
    Die trat ihm der Meister hart und fest!

    ---

    David:
    Trotz grossem Fleiss und Emsigkeit
    ich selbst noch bracht' es nicht so weit.
    So oft ich's versuch' und ‘s nicht gelingt,
    die »Knieriem-Schlag«-Weis' der Meister mir singt.
    sanft
    Wenn dann Jungfer Lene nicht Hilfe weiss,
    greinend
    sing' ich die »eitel Brot- und Wasser«-Weis'!

    ---

    Pogner empfängt Eva und zieht sie in das Haus. - Sachs, mit einem Knieriemen David eines überhauend und mit einem Fusstritt ihn voran in den Laden stossend, zieht Walther, den er mit der andren Hand fest gefasst hält, mit sich hinein


    Dass der Lehrling David den Stadtschreiber Beckmesser verprügelt, ist dagegen nur im karnevalesken Kontext der Prügelszene möglich


    ... und vor allem, wenn auch vielleicht nicht nach heutigen Vorstellungen, gerechtfertigt dadurch, daß Beckmesser sich an "seine" Lene heranmacht.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
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