Beethoven: Variationen op. 120: 33 Veränderungen (C-Dur) über einen Walzer von Anton Diabelli (1819-23)

  • Humorvoll?

    Gulda: nüchtern, perkussiv, geradlinig - ok. Gerne auch: dröge, maschinell. Aber diese Eigenschaften mit "humorvoll" auf einen Nenner zu bringen... Konkrete Beispiele bitte! ;+)

    Jetzt - nach erneutem Anhören gerade eben (mit Kopfhörer!) - etwas genauer:

    Bereits im Thema erscheint mir Guldas Zugang zutiefst unernst, burschikos, etwa in den schnellen Abwärtsbewegungen (16tel? 32tel?). Var. VII: Die Verzierungen und Akzente klingen ironisch. Var. IX: Skurril wirkende Vorschläge, extrem kurz und trocken, Dissonantes betonend. Var. X: Da klappert es ziemlich humoristisch. Var. XIII: Werden hier pathetische Anwandlungen verspottet? Var. XXI: Jetzt wird randaliert!

    Merkwürdigerweise beginnt ab Var. XXII (Leporello-Parodie) eine ernsthafte Phase, die den weiteren Verlauf ernsthafter und weniger humoristisch gestaltet. Atemberaubend noch einmal Var. XXIII mit hochvirtuoser Selbstdarstellung. Var. XXIX-XXXI: Hier kippt es ins Melancholische, so etwas wie eine Entwicklung von Mozart bis Schumann/Chopin? Der Schluß dann durchaus ernsthaft, vergleichbar dem Ende von op. 111.

    Was ich hier insgesamt als "humorvoll" herauszuhören glaube, könnte man ungefähr so charakterisieren: "Gebt mal her, das lausige Thema, ich mach jetzt mein Ding daraus - und im übrigen könnt ihr mich alle mal...!" Also mehr ein bärbeißiger, trotziger Humor, nicht ohne bitteren Beigeschmack, ganz anders als beim verbindlich-geistvollen Haydn. Ob ich hier mehr Ludwig van B. oder mehr Friedrich G. wahrnehme, da lege ich mich nicht 100%ig fest. Vielleicht aber haben sich hier zwei Geistesverwandte getroffen, denn "Leck mich!" konnte Gulda ähnlich wie Beethoven. ;+)

    Jedenfalls ist das eine Aufnahme, die mich auch heute wieder begeistert. Die trockene Akustik stört mich gar nicht, sondern paßt ganz gut zum interpretatorischen Ansatz.

    Ein Heft der Musik-Konzepte behandelte 1979 das Thema "Beethoven. Das Problem der Interpretation". Was Dietmar Holland dort geschrieben hat, finde ich durchaus berechtigt:

    Zitat

    Die kompositorische Ironie dieses zentralen Werkes aber legt FRIEDRICH GULDA [...] mit entwaffnender Trockenheit frei. Seine Interpretation ist durch ihre konsequent nicht-psychologisierende und nicht-einfühlende, sondern vielmehr distanziert-lakonische und dabei überaus differenzierte Haltung diesem musikalischen Kosmos gegenüber die bisher "modernste".


    Allerdings hat sich gerade bei Beethoven in den letzten 45 Jahren viel getan; ob Gulda immer noch die "modernste" Interpretation bietet (was immer man hier mit "modern" meint), kann ich nicht beurteilen.

    Und vielleicht wäre Brendel 1976 etwas für mich? :S

    :wink:

    PS: Nachträglich sehe ich, daß eins vorher auch der Kater etwas zu Gulda/Beethoven geschrieben hat. Paßt m. E. ganz gut zu meinen Eindrücken, auch wenn mir da nichts zu schnell scheint.

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Aber das Faszinierendste ist für mich schon die Vorstellung des Themas. Als ich die CD seinerzeit einlegte, musste ich nach wenigen Takten unwillkürlich lächeln. Brendel spielt sie genau so, wie ich mir Beethoven nach Beendigung seiner Arbeit vorstelle. Beethoven lehnte ja zunächst die Aufforderung seines Verlegers ab, geriet aber dann wohl in einen richtigen Schaffensrausch. Es musste ihm aufgegangen sein, was man aus dem einfachen Material alles machen könne, und hier hört man ihn durch Brendel, wie er sagt: „Wertlos, ja! Aber gleich könnt ihr mal erleben, was ich aus so einem belanglosen Fetzen alles machen kann!“ Das genau ist mein Gefühl schon in der Vorstellung des Walzer-Themas; so eine Art triumphierende und schmunzelnde Gewissheit, dass er mit seinem Variationszyklus allen gezeigt hat, was in ihm steckt. Ganz herrlich, wie Brendel das hörbar macht. Ich habe das nie wieder bei einem anderen Pianisten so interpretiert gehört.

    Macht Brendel das in seinen anderen Aufnahmen auch so hörbar?

    Ich kann das nur mit der 1976er-Liveaufnahme vergleichen: Beide Interpretationen des Themas sind sich sehr ähnlich (wobei der trockene, leicht topfige Klang von 1976 gegenüber dem kultivierten Studioklang von 1990 schon heftig differiert). In beiden Aufnahmen versucht Brendel in Tempo und Charakteristik sowohl den Tanzcharakter als auch die etwas grotesken Züge des Themas (die kurzen, zweitaktigen Crescendi, die Sforzati) zu betonen, wobei die hüpfenden Quart- und Quintintervalle sehr deutlich herauskommen. Bei der späteren Interpretation differenziert Brendel die Dynamik noch ein wenig mehr und setzt die auftaktige Verzierung etwas stärker vom Thema ab.


    Ad Gulda.
    Trockener Humor eben ;+)
    Woran macht man humorvoll fest? Ich habe sie gestern nochmal gehört, vielleicht ist Gulda insgesamt zu "unerbittlich", um auf jeden humorvoll zu wirken, aber m.E. kommt der Humor allein durch die überschlagenden Tempi, die Unsentimentalität heraus. Der Witz ist ja in den Stücken angelegt. Die rasanten Tempi und die vergleichsweise einheitliche Darstellung (die man auch als Mangel an Differerenzierung sehen kann) geben dem Stück einen ungeheuren Zug, den ich nach wie vor attraktiv finde. Zu schnell ist mir Gulda eigentlich nur in der "Fughetta" 24, die langsamen Variationen (wie 14, 20, 29-31) sind zwar fast alle auch flüssiger als bei vielen anderen.

    Ich hab mir den Gulda gestern nochmal angehört: klar bekommt das Werk durch die überwiegend sehr schnellen Tempi viel "Zug" - für mich von Anfang an zuviel: es fehlt eine Dramaturgie. Egal, wie man musikalischen Humor bestimmen will: Op. 120 lebt doch von der Vielgestaltigkeit, von den Kontrasten zwischen den Variationen und auch innerhalb der Variationen. Da wird von Gulda viel eingeebnet. Wenn in der gewichtigen, gleichzeitig aber etwas grotesken Variation Nr. 6 der A- und B-Teil der Variation überraschenderweise in einigen Dolce-Takten auslaufen, spielt Gulda einfach darüber hinweg. Etwas verhaltenere Variationen wie 3, 11 und besonders 18 werden völlig lieblos metronomisch heruntergespielt. Eine "gefährlich" drängende Variation wie Nr. 7 wirkt einfach nur rasend schnell. Schon im Thema negiert Gulda komplett den Walzercharakter, missachtet die zweitaktigen Crescendi und verlegt sich ausschließlich auf das Sforzato der rollenden Achtelfigur im Bass (kein Wunder bei dem Tempo, dass Gurnemanz hier 16tel oder 32tel vermutet). Die "ernsten" Variationen ab Nr. 29 finde ich, wie so oft bei Gulda, unterspielt - und das ist keine Frage des Tempos. Es gibt zweifellos auch Gelungenes, etwa die maschinenhaft ratternden Allegro-con-brio-Teile der Nr. 21.


    Ob ich hier mehr Ludwig van B. oder mehr Friedrich G. wahrnehme, da lege ich mich nicht 100%ig fest.

    Man kann es jedenfalls gut als eine Charakterisierung von Beethovens Werk lesen...

    Klar, in den sachlichen 60er Jahren konnte Guldas knochentrockener Klassizismus als "modern" gelten: bloß keine Rubati, schnelle Tempi, die "Maschine" ist das Ideal, und ganz wichtig: "distanziert-lakonisch". Dazu passt natürlich das Ideal der

    Unsentimentalität

    Aber gibt es "sentimentale" Interpretationen der Diabelli-Variationen?


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Sentimental ist das nicht, doch überaus feinsinnig und zart - einen schärferen Kontrast zu Gulda könnte ich mir hier kaum denken: Vorhin habe ich nämlich entdeckt, daß sich bei mir noch eine weitere Aufnahme befindet, die Anton Kuerti 1974/75 im Rahmen einer Gesamteinspielung bei Analekta vorgelegt hat:

    Gerade gehört: Kuerti ist deutlich langsamer unterwegs, benötigt gut 10 Minuten mehr als Gulda, und gestaltet den Zyklus als eine Reihe meist meditativ bzw. kontemplativ erfüllter Episoden. Dabei geht der Zug zum Ganzen zwar weitgehend verloren (das ist Kuerti vermutlich weniger wichtig), aber das Bild makelloser Schönheit und Klarheit (wenig Pedal, aber nicht trocken) beeindruckt mich ebenfalls: ein Beethoven, der hier dazu neigt, sich in seinen Elfenbeinturm zurückzuziehen, die Welt um ihn herum ausblendet und sich selbstvergessen seinen Phantasien hingibt. Das hat viel Poesie und Ruhe; der Pianist erweist sich auch als Meister der leisen Töne. Bereits das Thema ist eine zarte, graziöse Einladung in eine Welt fein gesponnener Miniaturen.

    Und das funktioniert überraschend gut!

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Also ich lege gelegentlich auf: Mustonen (recht wild) und Korstick (mir gefällts - insb. von Micha nicht gut beurteilt):


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    • Micha: ...ich weiß nicht, wie Korstick damals in Bremen gespielt hat. Seine Studioaufnahme der Diabelli-Variationen finde ich fürchterlich. Es war meine erste (und bisher einzige) Begegnung mit Korstick. Nach allem, was ich über ihn gehört hatte, hatte ich einen fulminanten Rhythmiker erwartet - den diese Stücke m.E. auch brauchen; gerade der rhythmische Variantenreichtum ist für mich das Aufregende an dem Zyklus. Beim Hören der Korstickaufnahme war ich entsetzt. Einige der Variationen hat er rhythmisch dermaßen verhudelt, dass sie mir keinen Sinn mehr machten. Bei anderen verwischt er durch fortgesetzten Pedalmissbrauch die Konturen. Gelegentlich hatte ich gar den Eindruck, dass er einigen Passagen technisch kaum gewachsen war.
    • Die den Hörer bevormundende Entscheidung, die einzelnen Variationen nicht in Tracks zu unterteilen, sondern den gesamten Zyklus als einen Track auf der CD zu präsentieren, ärgerte mich zudem.

    (Tarsächlich in dieser Version in einem Take)

    Wer kann etwas mehr sagen zu folgenden Aufnahmen (?):

    Igor Levit

    Ronald Brautigam (ist häufig mein Favourit in HiP) - erwerbenswert?

    oder klassisch Daniel Barenboim


    oder Alfredo Perl (1993) - hatte ich schon gute "Entdeckungen"



    ... was ganz anderes: Christian Leotta "Der italienische Pianist Christian Leotta wird als 'einer der außergewöhnlichsten Beethoven Interpreten unserer Zeit gehandelt...."



    ... früher eine "sichere Bank": Vladimir Feltsman



    und schließlich einer meiner "Neu"-Entdeckungen:Alexander Romanovsky (eher ruhig auf dem Plattenmarkt in letzter Zeit)



    ... also bitte viele Hinweise hierzu oder auch zu anderen bislang nicht genannten. Danke!

  • Ich habe von den angeführten nur die ersten beiden. (Mustonen ist sehr eigen, an Korstick habe ich keine genaue Erinnerung.) Von den sonst genannten habe ich über Perls sehr gute Kommentare gelesen.
    Eine gute Alternative wäre Sokolovs eher breite und sehr differenzierte Interpretation. Anderszewski ist auch recht eigen, aber nicht so einseitig wie Mustonen. Die historischen "Klassiker" sind v.a. Schnabel (dazu hat Zwielicht oben schon was geschrieben) und Rudolf Serkin.
    Ugorski ist extrem seltsam, eher als 10. Einspielung für die, die sonst schon alles haben...
    Staiers Aufnahme habe ich oben eher kritisch eingeschätzt; ich kenne keine andere auf einem historischen Instrument (es gibt aber etliche).

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • ... also bitte viele Hinweise hiezu oder auch zu anderen bislang nicht genannten.

    Bislang nicht genannt, soweit ich es überblicke , sind Horszowski 1952 ( den würde ich neben Schnabel und Serkin als Klassiker stellen) und Maria Yudina . Horszowski gibt es derzeit auf Urania ( die Ausgaben kenne ich nicht , ich habe eine Vox LP & CD) , die Yudina auf verschiedenen Labels (meine ist aus der Serie Great Pianists of the 20th Century , zusammen mit den Goldberg Variationen ). Hörproben sind bei youtube zu finden .


    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Danke für die Hinweise!

    Ich habe von den angeführten nur die ersten beiden. (Mustonen ist sehr eigen, an Korstick habe ich keine genaue Erinnerung.) Von den sonst genannten habe ich über Perls sehr gute Kommentare gelesen.
    Eine gute Alternative wäre Sokolovs eher breite und sehr differenzierte Interpretation. Anderszewski ist auch recht eigen, aber nicht so einseitig wie Mustonen. Die historischen "Klassiker" sind v.a. Schnabel (dazu hat Zwielicht oben schon was geschrieben) und Rudolf Serkin.
    Ugorski ist extrem seltsam, eher als 10. Einspielung für die, die sonst schon alles haben...
    Staiers Aufnahme habe ich oben eher kritisch eingeschätzt; ich kenne keine andere auf einem historischen Instrument (es gibt aber etliche).

    Bislang nicht genannt, soweit ich es überblicke , sind Horszowski 1952 ( den würde ich neben Schnabel und Serkin als Klassiker stellen) und Maria Yudina . Horszowski gibt es derzeit auf Urania ( die Ausgaben kenne ich nicht , ich habe eine Vox LP & CD) , die Yudina auf verschiedenen Labels (meine ist aus der Serie Great Pianists of the 20th Century , zusammen mit den Goldberg Variationen ). Hörproben sind bei youtube zu finden .

  • Rudolf Buchbinder hat eine Doppel-CD vorgelegt, die nicht nur Beethovens Diabelli-Variationen enthält, sondern auch noch elf im Wege von Kompositionsaufträgen z.B. an Tan Dun, Jörg Widmann und Brett Dean entstandene Neukompositionen und noch so einiges weiteres zum Thema Diabelli:

    Das Programm (laut jpc):
    Beethoven: Diabelli-Variationen op. 120
    +Diabelli-Variationen von Hummel, Kalkbrenner, Kreutzer, Liszt, Moscheles, FX Mozart, Schubert, Czerny
    +Auerbach: Diabellical Waltz
    +Dean: Variation for Rudi
    +Hosokawa: Verlust
    +Jost: Rock it Rudi
    +Lubman: Variation for R. B.
    +Manoury: Zwei Jahrhunderte später
    +Max Richter: Diabelli
    +Schtschedrin: Variation on a Theme of Diabelli
    +Staud: A propos de Diabelli
    +Dun: Blue Orchid
    +Widmann: Diabelli-Variation

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

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