Renaissancemusik von der iberischen Halbinsel - wenn Notenköpfe aus Partituren rieseln

  • Entgegen dem etwas düsteren Bild, das Christian von den Archiven der Iberischen Halbinsel zeichnet, gab es dort seit dem frühen 20. Jahrhundert eine Art Renaissance der Alten Musik, verbunden mit Archivstudien, Publikationen und Aufführungen (wahrscheinlich in Katalonien auch politisch motiviert, indem die eigenständige katalanische Kultur des Mittelalters betont wurde, nicht nur in der Musik, sondern auch etwa in der Architektur).

    Zugegebenermaßen - vielleicht habe ich etwas düstere Farben gewählt ;+) Aber wenn Du die Aufnahme des Codex gesehen hättest, in dem Noone Morales´ Kompositionen gefunden hat .....

    Es hat sich sicherlich eine Menge getan, aber die Menge des Stoffes ist fast unüberschaubar, wenn alleine schon in Toledo knapp vierzigtausend Seiten der noch der Erschließung harren. Dasviel passiert ist und weiterhin passiert, zeigen die vielen Neuproduktionen der letzten Jahre - was auch die zahlreichen von Euch geposteten Aufnahmen dokumentieren.

    Zu den Bedingungen für die Wissenschaftler vor Ort, die Herausgeberin der oben erwähnten Edition, Cristina Urchueguía, im Wortlaut:

    Zitat

    "Ich mußte den Quellen buchstäblich rund um die Halbinsel hinterherfahren oder Freunde, die nach Übersee reisten, um Hilfe bitten", [...] "Dann die Schwierigkeit, Zugang zu den Archiven zu erhalten. Häufig haben sie keine geregelten Öffnungszeiten, kein Telefon, keinen zuständigen Archivar, keinen Strom, keinen Tisch und keine Heizung, geschweige denn einen Katalog."

    Das mag auch auf andere Gebiete als die iberische Halbinsel zutreffen, nur was hier bei uns oft vergisst: die schiere Größe und die Entfernungen.

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Lieber Christian -

    sicher, die Materialfülle ist gewaltig, und dass in den Archiven der iberischen Halbinsel andere Bedingungen herrschen als in mitteleuropäischen, kann man sich durchaus vorstellen (wiewohl auch der Aufenthalt im Kölner Stadtarchiv zahlreichen Archivalien nicht gerade zur mustergültigen Erhaltung gereicht hat und auch bei uns nicht alle Archive so professionell geführt werden, wie man das erhoffen könnte - ich kenne (kannte) auch ein Stadtarchiv in Österreich, das in Unkenntnis seiner Existenz und Bedeutung vom Bürgermeister einfach komplett entsorgt wurde, um mehr Platz im Rathaus zu schaffen! Und man kann in Pfarrarchiven - die grundsätzlich zur Kategorie der unprofessionell geführten und gefährdeten Archive ohne Katalog gehören - aber auch noch in Deutschland und Österreich zahlreiche schlecht erhaltene Notenfunde machen, ganz zu schweigen von den zahlreichen zwar - dem Namen nach - bekannten, aber bislang unedierten Notenhandschriften in ordentlichen mitteleuropäischen Archiven [ich sag nur Fux!].).

    Aber man hat auch schon recht früh und recht intensiv begonnen, die musikalischen Inhalte katalanischer und auch andalusischer Archive zu erforschen und aufzuführen; in anderen Regionen Spaniens wird das anscheinend erst jetzt ernsthaft in Angriff genommen bzw. umfangreiche Archive wie das von Toledo (auch ein wichtiges Zentrum lateinischen Literaturschaffens im Mittelalter!) sind natürlich nicht von heute auf morgen vollständig durchgearbeitet, und umfangreiche Archive gibt es in Spanien viele!

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • jaja, der Morales. Der hat auch auf Palestrina Eindruck gemacht. Ihr kennt sicher dieses Bild:

    [Blockierte Grafik: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/39/Giovanni_Palestrina_and_Pope_Julius_III.jpg]

    Es stammt aus dem Frontispiz von Palestrinas ersten Band Messen, den er hier seinem Gönner Julius III präsentiert. Dummerweise ist die Komposition, die man darauf sieht, eine von Morales...

    (tatsächlich ist der Holzstich eine Raubkopie aus einer Morales-Ausgabe, und der Herr auf dem Bild ist keineswegs Palestrina, sondern eben Cristobal de Morales.)

    Zitat


    ganz zu schweigen von den zahlreichen zwar - dem Namen nach - bekannten, aber bislang unedierten Notenhandschriften in ordentlichen mitteleuropäischen Archiven [ich sag nur Fux!]

    Ich sag nur: Telemann! Ein Trauerspiel!

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Liebe Capricciosi!

    Ich habe mittlerweile den FAZ-Artikel zum Thema von Christian geschickt bekommen und durchgelesen - der abgebildete Morales-Codex ist wirklich in einem schlechten Erhaltungszustand und ich zweifle nicht daran, dass noch weiteres Material in Spaniens Archiven vermodert. Wie ich aber schon im obigen Beitrag angemerkt habe, ist das Problem ungenügend professioneller Archive nicht allein auf die iberische Halbinsel beschränkt. Es mag die Situation in Spanien besonders krass sein (wovon ich gar nicht unbedingt überzeugt bin), aber ordentliche und durchgearbeitete Archive gibt es nur in Ländern mit wenigen und kleinen Archiven, woanders fehlt dazu immer Manpower und vor allem Geld. Die zahlreichen kleinen Stadt- und Pfarrarchive sind auch in unseren Breiten wenig katalogisiert und bearbeitet, und da es durchaus vorkommen kann, dass jahre- oder gar jahrzehntelang niemand Einblick begehrt und niemand die Archivalien in Augenschein nimmt, fallen dann auch schlechte Lagerung und Verrottungstendenzen niemandem auf. Wo es Kataloge gibt, sind die Kataloge oft ungenügend und verzeichnen z.B. nur das jeweils erste Werk in einem Sammelcodex; dass da noch weitere Dinge enthalten sind (und welche Dinge!), kann man beim Studieren des Katalogs nicht erkennen: gerade auf diese Weise tauchen ja auch in Mitteleuropa immer noch Bach-Stücke und Augustinus-Predigten auf!

    Dass einem Buchstaben und Noten beim Öffnen des Buches entgegenfallen (sogenannter Tintenfraß), hat wiederum wenig mit der Lagerung zu tun, sondern mit der Aggresivität der Eisengallustinte, die sich noch zusätzlich erhöht, wenn die Tinte vom Schreiber - wie es durchaus nicht unüblich war - mit Urin und/oder Wein gestreckt wurde. Papier zerbröselt unter Einwirkung von Eisengallustinte unweigerlich, nur Pergament ist stabil genug. Man kann die vom Tintenfraß befallenen Blätter zwar restaurieren, das ist aber sehr aufwändig und teuer, verändert das Original und kann auch zu weiteren Schäden führen, weswegen es eher selten angewandt wird (z.B. bei manchen Bach-Handschriften): dazu wird das Blatt in einem speziellen Bad eingeweicht, mit einer speziellen Technik in zwei Lagen geteilt, zwischen die beiden Lagen wird säurefreies Papier mit Säurepuffer geklebt und so dem Tintenfraß (hoffentlich!) ein Ende bereitet. Wenn ich mir aber vorstelle, dass man allein die Codices in Toledo so restaurieren muss - das dauert wahrscheinlich Jahrzehnte und kostet Unsummen! Man kann natürlich schon auch bei der Lagerung tricksen, indem man die Bücher gemeinsam mit Säurepuffer verpackt (bei modernen Zeitungen, die auf sehr saurem Papier gedruckt werden, wird das heutzutage meines Wissens standardmäßig gemacht, damit das Papier nicht zerbröselt), aber in den letzten 400 Jahren hatte die Eisengallustinte halt schon viel Zeit zum Fressen. "Massenentsäuerung" von ganzen Archiven, wo große Ladungen von Archivalien in eine Kammer gebracht werden, in die dann irgendwas Basisches eingeleitet wird, ist, soweit ich weiß, über die (nicht immer zufriedenstellend) verlaufenden Testphasen noch nicht viel hinausgekommen (und natürlich auch nicht gerade ganz billig). Grundsätzlich ist die Übersäuerung von Büchern und Manuskripten ein Problem in allen Archiven.

    Wogegen ich mich halt entschieden wehre, ist die Darstellungsweise in der FAZ, die insinuiert, dass Spanien exzeptionell fahrlässig mit seiner Renaissance- und Barockmusik umgeht. Aber ehrlich: wo sind denn die flächendeckenden Gesamteinspielungen von deutschen Komponisten dieser Epochen, sieht man einmal von Bach, Schütz und Händel ab? Wo die Gesamteditionen? Ich würde behaupten, die süddeutsche Musiklandschaft der Renaissance und des Barock ist eher schlechter denn besser als die spanische erforscht, und wird ebenfalls nicht im gebührenden Maße aufgeführt - und auch bei den etwas besser bearbeiteten Norddeutschen ist noch einiges zu tun (Telemann... ;+) )! Was ist mit den italienischen Archiven? Da ist noch nicht einmal Vivaldi aufgearbeitet! In musikalischer Hinsicht ist Griechenland freilich eher unergiebig, aber in philologischer Hinsicht dürfte dort auch noch einiges in Klöstern schlummern. Kurz und schlecht: Was in diesem FAZ-Artikel einseitig an Spanien kritisiert wird, kann man mutatis mutandis auf die Verhältnisse in ganz Europa umlegen.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Es stammt aus dem Frontispiz von Palestrinas ersten Band Messen, den er hier seinem Gönner Julius III präsentiert. Dummerweise ist die Komposition, die man darauf sieht, eine von Morales...

    (tatsächlich ist der Holzstich eine Raubkopie aus einer Morales-Ausgabe, und der Herr auf dem Bild ist keineswegs Palestrina, sondern eben Cristobal de Morales.)

    8| :faint:
    Weißt du, woher das Original stammt?

    LG
    Tamás
    :wink:

    "Vor dem Essen, nach dem Essen,

    Biber hören nicht vergessen!"


    Fugato

  • Die zahlreichen kleinen Stadt- und Pfarrarchive sind auch in unseren Breiten wenig katalogisiert und bearbeitet, und da es durchaus vorkommen kann, dass jahre- oder gar jahrzehntelang niemand Einblick begehrt und niemand die Archivalien in Augenschein nimmt, fallen dann auch schlechte Lagerung und Verrottungstendenzen niemandem auf. Wo es Kataloge gibt, sind die Kataloge oft ungenügend und verzeichnen z.B. nur das jeweils erste Werk in einem Sammelcodex; dass da noch weitere Dinge enthalten sind (und welche Dinge!), kann man beim Studieren des Katalogs nicht erkennen: gerade auf diese Weise tauchen ja auch in Mitteleuropa immer noch Bach-Stücke und Augustinus-Predigten auf!

    Jein...

    Die Musikhandschriften in unserem Pfarrarchiv sind komplett mit Incipit in RISM erfasst (jeweils alle Werke eines Konvolutes), waren ordentlich gebunden, sauber katalogisiert und trocken und zugreifbar gelagert. Es haben auch immer wieder mal Wissenschaftler angefragt. Vor etwa 12 Jahren wurden sie aus Platzgründen und auch mit dem Argument "Brandschutz" - das Pfarrhaus stammt aus dem 17. Jh. - in das (moderne!) Diözesanarchiv umgelagert. Die letzten Nachrichten, die ich davon erhalten habe: momentan nicht auffindbar...

    Der Morales-Druck? Muß ich mich auf die Suche machen...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Jein...

    Die Musikhandschriften in unserem Pfarrarchiv sind komplett mit Incipit in RISM erfasst (jeweils alle Werke eines Konvolutes), waren ordentlich gebunden, sauber katalogisiert und trocken und zugreifbar gelagert. Es haben auch immer wieder mal Wissenschaftler angefragt. Vor etwa 12 Jahren wurden sie aus Platzgründen und auch mit dem Argument "Brandschutz" - das Pfarrhaus stammt aus dem 17. Jh. - in das (moderne!) Diözesanarchiv umgelagert. Die letzten Nachrichten, die ich davon erhalten habe: momentan nicht auffindbar...

    Lieber Bustopher!

    So kanns auch gehen, ich habe, glaube ich, nicht behauptet, dass in großen zentralen Archiven alles so läuft, wie man sich das erwarten würde (und das in Toledo dürfte wohl auch ein Diözesanarchiv oder jedenfalls das Archiv der Bischofskirche sein), und wenn ich mir anschaue, wie viele Bücher, die ich gern einsehen würde, an der UB unauffindbar sind... Aber tendenziell scheinen mir die besagten kleinen Archive noch problematischer zu sein, auch wenn es rühmliche Ausnahmen wie das von dir genannte gibt - aber das hängt dann bei diesen kleinen Archiven oft von Zufällen ab, dass eben Leute vor Ort sind, die um den Wert des Archivs wissen, es betreuen, es katalogisieren und ordnen. Deine Erzählung ist jedenfalls ein schönes Beispiel dafür, dass auch in Deutschland, auch in modernen Archiven das musikalische Erbe unzureichend umsorgt wird und das keine iberische Spezialität ist.

    Die oben angesprochenen unzureichenden Kataloge betrafen übrigens, da habe ich mich, wie ich beim Nachlesen gesehen habe, schlecht ausgedrückt, Bibliotheks- und Archivkataloge generell und nicht nur solche aus Stadt- und Pfarrarchiven. Gerade bei sehr umfangreichen Archiven und Bibliotheken kommt es eher zu Nachlässigkeiten bei der Erfassung, als in kleinen überschaubaren. Und Ausnahmen bestätigen immer die Regel.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Ich habe mittlerweile den FAZ-Artikel zum Thema von Christian geschickt bekommen und durchgelesen

    Wogegen ich mich halt entschieden wehre, ist die Darstellungsweise in der FAZ, die insinuiert, dass Spanien exzeptionell fahrlässig mit seiner Renaissance- und Barockmusik umgeht.

    Das insinuiert Paull Ingendaay, Redakteur der FAZ in Madrid seit 1998 tatsächlich - ;+) ich werde mal anfragen, ob wir die Genehmigung bekommen, den Artikel hier zu veröffentlichen. Der Inhalt könnte für uns alles interessant sein. Mag sein, dass Ingendaay hier übertreibt - ich könnte mir vorstellen, dass er mit dem Artikel auf die Situation in Spanien aufmerksam machem wollte . Und nicht die geleistete Arbeit vor Ort diskreditieren.

    Ein Komponist, über den ich auch erst in jüngerer Zeit gestolpert bin, ist Francesco Guerrero:

    Um spanische Alte Musik hat sich übrigens auch das spanische Label "Glossa" verdient gemacht, das auch die oben erwähnte CD "Moraels en Toledo" veröffentlicht hat.

    Auf eine andere Frage möchte ich in diesem Zusammenhang noch zurückgekommen. Die musikalische Entwicklung ab 1500 verlief auf der iberischen Halbinsel ja durchaus etwas anders auf dem Kontinent. Stellt sich die Frage: Warum?

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Was ist mit den italienischen Archiven?

    Trotz ähnlich früher Bemühungen einiger weniger, ähnlich wie in Spanien, heute: Totale Katastrophe!

    Vor allem in den letzten ca. 15 Jahren ist kaum noch auch nur einigermaßen adäquat in die Erhaltung investiert worden, geschweige denn in Neuerschließungen. Und weitere, ganz massive Einsparungen, die auch die Archive betreffen, sind gerade beschlossen worden.

    Auf eine andere Frage möchte ich in diesem Zusammenhang noch zurückgekommen. Die musikalische Entwicklung ab 1500 verlief auf der iberischen Halbinsel ja durchaus etwas anders auf dem Kontinent. Stellt sich die Frage: Warum?

    Ich würde vermuten, dass es viel mit der allgemeinen Entwicklung zu tun hat, in der die spanische Halbinsel immer mehr von der allgemeinen Entwicklung in West-, Mittel- und Nordeuropa abgehängt wurde. Ganz in Kürze, südamerikanisches Gold und Silber ermöglichen zwar früh die Herausbildung einer Zentralgewalt und Bindung des Feudaladels an den Hof, gleichzeitig wird die so gewonnene Stärke aber genutzt die Entwicklung in den Städten, die um 1500, besonders in Katalonien, noch besonders weit war, abzuwürgen. Zusätzlich wird ein Teil ihrer Träger, die sephardischen Juden, vertrieben, eine Vielzahl von feudalen Beschränkungen nicht sukzessive beschränkt und aufgehoben, sondern verstärkt, Steuern werden erhöht, aber nicht produktiv verwendet. Die neuzeitliche Zentralgewalt wird nicht zur Akkumulationssicherungsmacht, die eine erweiterte Akkumulation im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus mitanregt, wie paradigmatisch der englische Tudorstaat, sondern zur unproduktiv bleibenden Aneignungsmacht. Die Wertflüsse gehen von Lateinamerika über Spanien zunächst vor allem nach Genua, auch ins übrige Norditalien, Süddeutschland und ins spanische Flandern, später vor allem in die Niederlande und noch später nach England. Der Wirtschaftsoziologe Giovanni Arrighi, der internationale Hegemonien untersuchte, sieht eine venezianische, von einer genuesischen, von einer niederländischen, von einer britischen abgelöst, du zunehmend immer stärker und umfassender wurden, aber es gab keine spanische, trotz der um 1500 gesteigerten und noch lange andauernden großen machtpolitischen Rolle Spaniens. So bleibt in den spanischen Städten und relativ entwickelten Regionen nichts vom Reichtum aus Übersee hängen, er wird sogar genutzt, um ihre Entwicklung stark einzuschränken und zurückzudrängen.
    In der Niederlande und England und Südschottland findet hingegen etwas völlig Neues statt: Die Herausbildung und „Entbettung“ (Karl Polanyi), der kapitalistischen Produktionsweise, in der wachsende Teile der Bevölkerung keine andere Wahl mehr haben als ihr Vermögen als Kapital zu benutzen, statt es weitgehend unproduktiv zu verbrauchen, Sombarts „Erwerbsgeist“, Max Weber „protestantische Ethik“, obwohl ich, soviel ich auch sonst von Weber halte, Webers Argumente zweifelhafter finde, aber darauf kommt es in der Kürze nicht an. Andere müssen ihr Arbeitsvermögen als Arbeitskraft verkaufen oder gewinnen den Freiraum, ihre Pachtzinsen in Geld zu zahlen und dabei ‚kapitalistisch’ kalkulieren zu können. Noch der norditalienische Groß-Kaufmann hatte als Ziel seiner Unternehmungen eher, sich einen Landbesitz, Titel und Ämter zu kaufen, um unproduktiv leben zu können. Die Werflüsse aus Spanien gingen von dort aus weiter in den Osten, ablesbar an den Wanderungen der inflationären Krisen ab 1500 von Spanien bis nach China. In den Niederlanden und England wird jetzt aber akkumuliert, um erweitert zu akkumulieren. Die Wertflüsse bleiben in Europa, werden produktiv verwendet, eine bürgerliche Gesellschaft entsteht. Auf der iberischen Halbinsel bilden sich Formen der modernen bürgerlichen Gesellschaft erst im 19.Jahrh. heraus und bleiben auch dann in den meisten Regionen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein untergeordnet. Bürgerliche Öffentlichkeit, eben auch für die Künste, existierte praktisch nicht. Der Künstler als selbstständiger Unternehmer wie Händel oder Beethoven kann nicht existieren. Eine Autonomieästhetik wird erst sehr spät von außen importiert. Kunst bleibt an den Hof und die Kirche gebunden. Renaissancehumanistische, bereits in anderer Weise individualistischere Ästhetiken, wie sie mit der Blüte der spanischen Renaissancemusik im damals engen Austausch mit der flämischen und italienischen Musikentwicklung verbunden sind, wurden so eher wieder zurückgenommen, statt in bürgerlicher Weise weiterentwickelt.

    Das ist natürlich nur eine ganz grobe Skizze. Auch will ich damit nicht behaupten, dass im spanischen Barock Künstler gar keinen Individualitätsanspruch gehabt hätten. Der spezifische Wandel des Selbstverständnis von Künstlern wie der zugeschriebenen Künstlerrollen und –funktionen ist sicherlich viel genauer zu bestimmen: dieser wandel scheint mir jedenfalls bereits im Barock anders zu verlaufen als in vielen anderen Teilen Europas, in denen sich nach und nach eine bürgerliche Gesellschaft herausbildet.

    :wink: Matthias


  • Auf eine andere Frage möchte ich in diesem Zusammenhang noch zurückgekommen. Die musikalische Entwicklung ab 1500 verlief auf der iberischen Halbinsel ja durchaus etwas anders auf dem Kontinent. Stellt sich die Frage: Warum?

    Das "Warum?" könnte ich auch nicht so genau beantworten, abgesehen von dem, was Matthias bereits skizziert hat, womit sich aber m. E. auch nicht alle Sonderentwicklungen der iberischen Halbinsel schlüssig erklären lassen. Mir scheint aber beachtenswert, dass diese Sonderentwicklungen nicht nur die Musik betreffen, sondern sämtliche Künste, auch Literatur und Bildende Künste. Politische Ursachen hat sicherlich der Umstand, dass in Spanien das Früh- und Hochbarock seit jeher als besonderer Gipfelpunkt der Künste ("Siglo d'oro") angesehen wurde (der ja auch tatsächlich viele Meisterwerke und gerade in der Literatur auch Neuerungen, die für die gesamte europäische Literatur späterhin wichtig sind, gebracht hat), während man es im kriegszerfressenen Deutschland lange eher als Verfallszeit wahrnahm (und tatsächlich finden wir die berühmtesten Barockkünstler in Deutschland erst in der Spätphase der Epoche, als sich die politische Situation wieder beruhigt hatte): die Spanier hatten damals halt (relativen) Frieden und Wohlstand. Erst anschließend haben sie den Anschluss verpasst, siehe Matthias' Beitrag. Wenn man ein Modell von kulturellen Hoch-Zeiten und Niedergangszeiten vertritt, dem ich allerdings grundsätzlich etwas skeptisch gegenüberstehe, könnte man auch meinen, in Spanien sei die Entwicklung komplementär zu Resteuropa.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • , womit sich aber m. E. auch nicht alle Sonderentwicklungen der iberischen Halbinsel schlüssig erklären lassen.

    Klar, dem stimme ich völlig zu.

    Auch dem, dass tendenzielle Blüte- und Niedergangsperioden nicht sich zwangsläufig auf allen sozialen Feldern entsprechen müssen, auch schon mal, nicht nur mit Zeitverzögerungen, sehr unterschiedlich verlaufen können.

    Die Blütezeit des spanischen Barocks kann man ja dafür vielleicht schon auch als Beispiel sehen, als die Weichenstellungen für die sozialökonomisch degenerative Entwicklung schon gestellt worden waren, ja diese Entwicklung schon stattfand, auch wenn der Wohlstand natürlich immer noch lange höher war als in weiten Teilen Deutschlands mit den Verheerungen der 30-jährigen Krieges.

    :wink: Matthias

  • Wenn man ein Modell von kulturellen Hoch-Zeiten und Niedergangszeiten vertritt, dem ich allerdings grundsätzlich etwas skeptisch gegenüberstehe, könnte man auch meinen, in Spanien sei die Entwicklung komplementär zu Resteuropa.

    Was zumindest teilweise zutreffen dürfte: die von Matthias skizzierten Entwicklungen haben mit Sicherheit dazu beigetragen. Durch die Vertreibung der Sepharden und auch der mozarabischen Bevölkerungsgruppen beraubte sich Spanien eines erheblichen ökonomischen als auch kreativen Potentials, was dazu führte, dass die Entwicklungen, die Matthias beschrieben hat, nicht oder erst mit Verzögerung auf der iberischen Halbinsel einsetzten. Man könnte jetzt natürlich auch noch diskutieren, in welchem Umfang die Religion zu diesen besonderen Rahmenbedingungen beigetragen hat - weil wir auch hier eine "Monokultur" beobachten können. Die Prozess der Staatsbildung im Europa der frühen Neuzeit hängt nämlich durchaus auch mit den Auseinandersetzungen in Glaubensfragen zusammen, die es in dieser Form in Spanien nicht gab.

    Ein weiterer Grund: Das goldene Zeitalter, das "siglo d´oro" ist kulturell eine Hochzeit, aber politisch zumindest teilweise bereits eine Zeit des Niedergangs. Mit dem Ende der Herrschaft Philipps II. beginnt ein gradueller Abstieg Spaniens aus der ersten Reihe der europäischen Großmächte, der zwar allmählich, aber stetig verläuft. Spätestens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts ist Spanien nicht mehr die dominierende politische Kraft auf dem Kontinent, sondern wurde durch Frankreich abgelöst. Ferner zeichnet sich der Aufstieg Englands immer deutlicher ab, das neben den Niederlanden auch in ökonomischer Hinsicht Spanien in Übersee immer mehr Konkurrenz zu machen beginnt. Die Versuche von spanischen Politikern, hier wäre Gaspar de Guzmán, Graf von Olivares - man kennt ihn auch als großen Förderer Velazquez´- zu nennen, absolutistische Reformen nach französischem Vorbild durchzuführen, scheiterten im Wesentlichen.

    Sicher ist, dass man von einem politischen und ökonomischen Niedergang des Spaniens sprechen kann, der im letzten Drittel des 16. Jahrhundert beginnt - und bis ins 19. Jahrhundert andauert. Das bedeutet nicht, dass gleichzeitig auch ein kultureller Niedergang stattfindet. Die genannten Faktoren führen lediglich zu einem besonderen "Mikroklima"auf der iberischen Halbinsel, dass die spezifischen Ausprägungen in Kunst und Kultur begünstigt. Nicht nur in der Musik, auch in der Malerei lässt sich das beobachten. Spontan fällt mir da Zurbaran ein, mit seinen im wsentlichen durch geistliche Motiven geprägte, oft dunkel grundierten Bildern ein:

    Das die religiösen Motive dominieren, hat natürlich seine Ursachen auch in den spezifischen Rahmenbedingungen auf der iberischen Halbinsel.

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Chris hat mich freundlicher Weise auf eine relativ neue Aufnahme des Ensembles "Plus ultra" hingewiesen:

    From Spain to Eternity - The Sacred Polyphony of El Greco's Toledo

    Erschienen ist die Aufnahme aus Anlass des vierhundersten Todestages E Grecos. Zu hören sind Kompositionen von Alonso Lobo, Francisco Guerrero, Cristóbal de Morales und Alonso de Tejeda.

    Wer die Vokalpolyphonie der iberischen Halbinsel kennenlernen möchte, der kann mit dieser Aufnahme einen ersten Einblick in die Vielfalt dieses Mikrokosmoses gewinnen - finde ich ;+)

    Und das Ensemble Plus Ultra kennenlernen - auch das lohnt sich ;+)

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

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