Bachs Passacaglia für Orgel BWV 582
Zum Begriff
Die Passacaglia ist eine spezielle Variationsform, bei der sich die einzelnen Variationen über einer wiederkehrenden Basslinie (Basso ostinato) entwickeln. Ursprünglich war die Passacaglia ein spanischer Volkstanz ("pasar una calle" bedeutet "eine Straße entlang gehen"). Eng verwandt mit der Passacaglia ist die Chaconne. Oft werden beide Bezeichnungen synonym verwendet, eine Abgrenzung gegeneinander ist kaum möglich (historische Quellen behaupten beispielsweise, eine Passacaglia stehe in Moll und eine Chaconne in Dur, wobei es hier genug Gegenbeispiele gibt - widersprüchlich sind auch die Angaben zum Tempo: einige Quellen geben an, eine Passacaglia werde langsamer gespielt als eine Chaconne, einige Quellen beschreiben die Tempi genau umgekehrt).
Johann Sebastian Bach benutzte diese Variationsform in seinen überlieferten Werken nur zweimal explizit, nämlich in der Ciaconna der Partita d-moll für Violine solo BWV 1004 und in der Passacaglia für Orgel BWV 582.
Datierung, Überlieferung und Vorbilder
Vorbilder bei der Passacaglia BWV 582 waren offenbar drei Werke von Dietrich Buxtehude: die Ciaconen BuxWV 159 und 160 sowie die Passacaglia BuxWV 161. Diese drei Werke sind zusammen mit BWV 582 in einer handschriftlichen Quelle überliefert, die auf das Jahr 1714 datiert wurde. Der Bach-Forscher Hans-Joachim Schulze vermutet, dass neben BWV 582 auch die drei Werke von Buxtehude über Johann Sebastian Bach in diese Handschrift gelangt sind und er sie demzufolge gekannt haben muss. Jean-Claude Zehnder hat darauf hingewiesen, dass der Orgelsatz von BWV 582 Ähnlichkeiten mit demjenigen des ab 1713 entstandenen "Orgelbüchlein" hat, so dass BWV 582 auf 1713 oder 1714 zu datieren ist.
Bach hat den offenbar von Buxtehude geschaffenen Typus der Pedaliter-Passacaglia bzw. -Chaconne (bei dem der Basso ostinato mit dem Orgelpedal gespielt wird) in BWV 582 nicht einfach übernommen, sondern ist wesentlich über sein Vorbild hinausgegangen. Es ist aufschlussreich, einige Merkmale zu vergleichen:
- Buxtehude benutzt eine viertaktige Basslinie, die vom Grundton aus gesehen auf der Unterquart endet (also funktionsharmonisch auf der Dominante) und damit zum Ende hin offen ist. Bach dagegen verwendet eine achttaktige Linie, die mit dem Grundton sowohl beginnt als auch endet und damit in sich abgeschlossen ist.
- Bei Bach fällt im Vergleich zu Buxtehude die konsequente motivische Durchgestaltung von der ersten Variation an auf. Die ersten Takte von BWV 582 erscheinen beinahe als ein Zitat des Beginns von BuxWV 161 (man höre beide Werke im Vergleich!), aber anders als bei Buxtehude enthält der erste Takt bei Bach schon das motivische Material, das in den ersten beiden Variationen verwendet wird.
- Bach schliesst die Passacaglia mit einer umfangreichen Fuge ab, deren Thema die erste Hälfte der Basslinie ist. Auf diese Fuge wird weiter unten noch näher eingegangen, bei Buxtehude findet sich dergleichen nicht.
Das Werk
Im folgenden werden Passacaglia und anschliessende Fuge genauer betrachtet - freie Noten für BWV 582 sind beispielsweise hier verfügbar.
Zu Beginn wird die Basslinie einmal unbegleitet im Pedal gespielt, daran schliessen sich 20 Variationen an:
- Variation 1: Dreistimmiger, eher harmonisch orientierter Satz in den Manualen, Motivik ähnlich dem Beginn von BuxWV 161 (siehe oben).
- Variation 2: Motivik wie in Variation 1, aber andere harmonische Ausdeutung der Basslinie.
- Variation 3: Der Satz wird nun linearer - neues Motiv ist eine mit einem Quartsprung beginnende Achtellinie, die danach in Sekundschritten auf- oder absteigt. Zum Schluss der Variation verdichtet sich der Satz zur Vierstimmigkeit, wobei die Bewegung von zwei auf- gegen zwei absteigenden Linien den Eindruck der Verdichtung noch verstärkt.
- Variation 4: Wiederum ein neues Motiv - eine in Sekundschritten aufsteigende Folge aus zwei Sechzehnteln und einem Achtel, die auch in der Bewegung umgekehrt wird.
- Variation 5: Hier wird die Basslinie verändert - aus dem auftaktigen Vierteln werden nun Achtelpausen mit zwei folgenden Sechzehnteln, wobei jeweils eines der Sechzehntel ein Ton ist, der nicht zur ursprünglichen Linie gehört. Durch diese Änderung ist der Bass nun an der Motivik der Oberstimmen beteiligt - das neue Motiv besteht aus zwei Sechzehnteln mit einem sehr prägnanten Oktavsprung abwärts, gefolgt von einem Achtel mit Quartsprung aufwärts.
- Variation 6: Die Basslinie ist wieder unverändert, aus den drei Oberstimmen bilden sich auf- und absteigende durchgehende Sechzehntelbewegungen.
- Variation 7: Die Sechzehntelbewegung schiebt sich nun sozusagen ineinander, wodurch der Satz verdichtet wird.
- Variation 8: Sechzehntelbewegung und Satz verdichten sich weiter.
- Variation 9: Als neues Motiv erscheint nun eine Dreiklangsbrechung aus drei Sechzehnteln und einem Achtel - das Motiv erscheint zuerst im Bass, der hier ähnlich wie in Variation 5 verändert wird.
- Variation 10: In der obersten Stimme erscheint nun eine durchgehende Sechzehntelbewegung, die von den übrigen Stimmen einschliesslich der Basslinie akkordisch begleitet wird. Auch hier ist das Bassthema verändert (Verkürzung der Halben zu Vierteln mit nachfolgender Pause).
- Variation 11: Was nun folgt, könnte man als "Passacaglia paradox" bezeichnen: Die Basslinie erklingt im Sopran! Begleitet wird sie von einer durchgehenden Sechzehntellinie, diese Variation ist damit quasi ein Bicinium.
- Variation 12: Die Basslinie erklingt weiterhin im Sopran (geringfügig verändert), nun begleitet von einem dichten dreistimmigen Satz, an dem auch das Pedal beteiligt ist.
- Variation 13: Das Pedal pausiert, der Satz lockert sich zum Trio auf. Die Basslinie ist nun nicht mehr im Sopran, sondern sozusagen in der Mittelstimme "untergetaucht", wobei sie auch noch umspielt wird (ähnlich der verzierten Melodie in einer Choralbearbeitung).
- Variation 14: Der Satz lockert sich weiter auf zu zweistimmigen Akkordbrechungen, deren tiefste Noten die Basslinie andeuten, die ursprüngliche Linie hat sich weiter "verflüchtigt".
- Variation 15: Nun gibt es nur noch einstimmige Akkordbrechungen, in denen man die Basslinie mehr erahnen als deutlich hören kann. Hier ist quasi das Maximum an "Verflüchtigung" erreicht.
- Variation 16: Die Basslinie erklingt wieder dort, wo man sie erwartet - im Bass. Gleichzeitig wird der Satz bis zur Sechsstimmigkeit verdichtet, ein enormer Kontrast zur vorangegangenen Variation.
- Variation 17: Nun folgt quasi ein Trio mit durchgehender Sechzehnteltriolen-Bewegung in den beiden Oberstimmen, wobei die Triolen eine weitere Beschleunigung bewirken.
- Variation 18: Wieder wird die Basslinie verändert - die auftaktigen Viertel werden zu einer Achtelpause mit nachfolgender Achtel. Die Oberstimmen bilden einen dichten, kompakten dreistimmigen Satz.
- Variation 19: Die Basslinie erklingt nun wieder unverändert. Im dreistimmigen Satz der Oberstimmen bildet sich eine durchgehende Sechzehntelbewegung, die sich durch Wiederholungen auf gleicher Tonhöhe mehr und mehr zu stauen scheint.
- Variation 20: Der Satz in den Oberstimmen verdichtet sich zur Vierstimmigkeit, Sechzehntelbewegung in jeweils zwei Stimmen parallel, auch hier wieder zahlreiche Wiederholungen auf gleicher Tonhöhe, die Stauung und Verdichtung erscheint schon fast unerträglich - die Variation endet mit einem achtstimmigen (!) Akkord.
Wer meint, es müsse nun Schluss sein, denn es sei ja keine weitere Steigerung mehr möglich, irrt - es folgt eine vierstimmige Fuge, deren Thema die erste Hälfte der Passacaglia-Basslinie ist. Dieses Thema wird schon in der Exposition mit einem durch Achtelrepetitionen charakterisierten ersten Gegenthema verknüpft, das wiederum aus der zweiten Hälfte der Basslinie abgeleitet ist, später kommt ein aus Sechzehntelketten gebildetes zweites Gegenthema hinzu - es handelt sich hier schon fast um eine Permutationsfuge, bei der das Thema immer fest mit mehreren Gegenthemen verknüpft ist.
Die Exposition der Fuge beginnt mit dem achtstimmigen Schlussakkord in Takt 168, der schon die erste Note des Fugenthemas enthält. Das Thema erklingt im Alt, Gegenthema 1 (Achtel) im Tenor. Ab Takt 173 Thema im Sopran, Gegenthema 1 im Alt, Gegenthema 2 (Sechzehntel) im Tenor. Nach kurzem Zwischenspiel ab Takt 180 Thema im Bass, Gegenthema 1 im Sopran, Gegenthema 2 im Alt, danach (Takt 185) Thema im Tenor, Gegenthema 1 im Bass, Gegenthema 2 im Sopran - damit ist die Exposition abgeschlossen.
Ab Takt 191 beginnt die nächste Durchführung mit Thema im Alt, Gegenthema 1 im Tenor, Gegenthema 2 im Bass. Ab Takt 197 wird der Satz zum Trio reduziert. Das Thema erklingt nun in Dur in der Unterstimme, die Mittelstimme spielt Gegenthema 1, die Oberstimme Gegenthema 2. Nach kurzem Zwischenspiel in Takt 208 Thema erneut in Dur in der Mittelstimme, Gegenthema 1 in der Oberstimme, Gegenthema 2 in der Unterstimme. Wiederum Zwischenspiel, ab Takt 220 wieder vierstimmiger Satz, Thema im Bass, Gegenthema 1 im Alt, Gegenthema 2 im Sopran.
Ab Takt 225 wieder dreistimmiger Satz und Zwischenspiel, Thema ab Takt 233 im Tenor (Gegenthema 1 im Bass, Gegenthema 2 im Alt) als Beginn der nächsten Durchführung. Ab Takt 245 wieder vierstimmiger Satz, Thema im Sopran, Gegenthema 1 im Tenor, Gegenthema 2 im Bass. Ab Takt 255 Thema im Bass, Gegenthema 1 im Alt, Gegenthema 2 im Tenor. Als Beginn einer gewaltigen Steigerung zum Schluss ab Takt 271 (nach Trillern im Manual und Sechzehntelketten im Pedal) dann in hoher Lage der letzte Themeneinsatz: Thema im Sopran, Gegenthema 1 im Alt, Gegenthema 2 im Bass. Ab Takt 281 sich wiederholende Sechzehntelfiguren, Takt 285 neapolitanischer Sextakkord mit Fermate, ab Takt 287 wieder sich wiederholende Sechzehntelfiguren, Takt 290 Orgelpunkt und vorgeschriebene Tempoverlangsamung ("Adagio"), siebenstimmiger Schlussakkord mit Doppelpedal.
Kennzeichnend für Bach als Komponist ist, dass er Vorbilder nicht einfach nur übernimmt, sondern sie konsequent weiterentwickelt und bei gleichzeitiger Konzentration der motivischen und kontrapunktischen Arbeit wesentlich über sie hinausgeht - so auch in dieser Passacaglia, die nach ihm zahlreiche Komponisten zu ähnlichen Werken inspiriert hat.
Viele Grüße,
Fugato