Expressionismus in der Musik - Was ist das? Möglichkeiten der Abgrenzung

  • Expressionismus in der Musik - Was ist das? Möglichkeiten der Abgrenzung

    Die nachfolgenden fünf Beiträge stammen aus der Diskussion Alte Musik romantisch "neukomponiert" (ausgehend von Peter Brixius' Frage, ob Edwin Fischers Bach-Interpretationen "romantisch" oder "expressionistisch" seien). Da sie - über die Fragestellung: Wie kann man Expressionismus von Romantik abgrenzen? - ein eigenes Thema umreißen, habe ich sie hierhin kopiert.

    Es geht hier nicht nur um die Frage des Unterschieds von romantischer und expressionistischer Musik, sondern auch um die Frage, ob eine solche Abgrenzung sinnvoll ist - auch um mögliche Grenzen zu Impressionismus und auch Neoklassizismus u. a. m.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Dass man die "Etiketten" so austauschen kann, glaube ich eher nicht, auch wenn man es häufig vorfindet. Es sind schon zwei verschiedene Epochen und unterschiedliche Akzente. Deine Charakteristik finde ich treffend ...


    Ich finde die Charakteristik ebenfalls sehr treffend, und ich finde sie zeigt auch, warum man doch eher von "romantisch", keinefalss aber von "expressionistisch" sprechen sollte. "Expressionismus" ist ja nicht gleichbedeutend mit Expressivität, in der Musik verbindet sich der Begriff des Expressionismus ja vor allem mit frühen seriellen Techniken wie vor allem der Zwölftonmusik (ja, ich weiß, esgehört noch mehr dazu, natürlich).Exressionistische Musik wendet sich in ihren radikalen Experimenten und in ihrer formalen Strenge also gerade gegen eine Musik, die vor allem subjektive Emotionalität in den Vordergrund stellt.
    Die Musik der Spätromantik wiederum ist gerade diese Strömung, gegen die die expressionistischen Musiker opponieren. Mit Spätromantik verbindet man als Hörer eine sehr emotionale Musik, für manche Hörer schon an der Grenze zum Kitsch, Subjektivität, eine bestimmte Art von Harmonik und Melodik.
    Die Art von Barock-Interpretation, die der Ausgangspunkt zu diesem Thread war, bedient sich nun ja eher den musikalischen Mitteln, die man mit spätromantischer Musik assoziiert (große Orchesterbesetzung, ausgreifendes Vibrato, subjektivistische Interpretationshaltung, leicht nachvollziehbare Harmonik und Melodik etc.). Mit den radikalen Experimenten, dem schroffen Formalismus expressionistischer Musik hat das doch nichts zu tun, oder?

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde


  • Ich finde die Charakteristik ebenfalls sehr treffend, und ich finde sie zeigt auch, warum man doch eher von "romantisch", keinefalss aber von "expressionistisch" sprechen sollte. "Expressionismus" ist ja nicht gleichbedeutend mit Expressivität, in der Musik verbindet sich der Begriff des Expressionismus ja vor allem mit frühen seriellen Techniken wie vor allem der Zwölftonmusik (ja, ich weiß, esgehört noch mehr dazu, natürlich).Exressionistische Musik wendet sich in ihren radikalen Experimenten und in ihrer formalen Strenge also gerade gegen eine Musik, die vor allem subjektive Emotionalität in den Vordergrund stellt.
    Die Musik der Spätromantik wiederum ist gerade diese Strömung, gegen die die expressionistischen Musiker opponieren.

    Ich weiß nicht, wie man das auf Interpretationen älterer Musik übertragen kann oder sollte, aber die expressionistische Musik von ca. 1900-1920 wendet sich keineswegs gegen die Romantik, sondern ist eine extreme Steigerung und Zuspitzung der Romantik, ausgehend besonders von Wagners Harmonik und Expressivität. Die Linien von Tristan zu Schönbergs "Erwartung" oder von Mahler zu Bergs Orchesterstücken op.6 sind sehr deutlich zu ziehen (und zu hören).

    (Inwiefern sich Wagner, Bruckner, Mahler, Reger, Pfitzner, häufig auch Brahms und Strauss jedenfalls in Werken wie Salome und Elektra durch "leicht nachvollziehbare Harmonik und Melodik" auszeichnen ist mir bisher anscheinend entgangen...)

    Die "Gegenbewegung" ist eher im "Exotismus" oder Barbaro-Stil z.B. Strawinskys zu suchen, der an Rimsky, Debussy, Mussorgsky anknüpft und eben gerade nicht an die "deutsch-österreichische" Tradition von Bach bis Wagner/Brahms/Mahler. Und im sachlichen Neoklassizismus, der sich von offen emotionalem Ausdruck distanziert.

    Schönbergs Orchesterbearbeitung von Bachs Präludium&Fuge Es-Dur streift m.E. stellenweise durchaus die Kitschgrenze, das ist also nicht unbedingt ein Widerspruch zum Expressionismus. Da ich Fischers Bach-Interpretationen bisher kaum kenne, wäre meine Nominierung für eine expressionistische Interpretation Scherchens Kunst der Fuge. Die Instrumentierung ist keineswegs aufgeblasen, sondern eher schlicht bzw. strukturbezogen (Bläser erhalten, wenn ich recht erinnere, die Fassungen den Themas in Umkehrung, Streicher in Urform), aber die Musik wird sehr ausdrucksvoll und packend dargeboten.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)


  • Ich finde die Charakteristik ebenfalls sehr treffend, und ich finde sie zeigt auch, warum man doch eher von "romantisch", keinefalss aber von "expressionistisch" sprechen sollte. "Expressionismus" ist ja nicht gleichbedeutend mit Expressivität, in der Musik verbindet sich der Begriff des Expressionismus ja vor allem mit frühen seriellen Techniken wie vor allem der Zwölftonmusik (ja, ich weiß, esgehört noch mehr dazu, natürlich).Exressionistische Musik wendet sich in ihren radikalen Experimenten und in ihrer formalen Strenge also gerade gegen eine Musik, die vor allem subjektive Emotionalität in den Vordergrund stellt.

    Zwölftontechnik sagt nichts über den Stil einer Musik aus, deshalb finde ich "Zwölftonmusik" für einen irreführenden Begriff. Die Zwölftontechnik ist kein Besitz einer Epoche, es gibt keine Epoche, die durch die Zwölftontechnik definiert ist. Dass Berg und Schönberg zum Expressionismus gehören, ist eine Seite der Medaille, aber es gibt eine große Anzahl von Komponisten, die als Expressionisten nichts mit der Zwölftontechnik zu tun hatten, ich nenne mal Scriabin, Strawinsky und Schoeck.

    Um im Reich der Interpretation einen notwendigen Hinweis zu geben: Mengelberg ist ein gutes Beispiel - wenn man sich die von ihm benutzten Partituren ansieht, so wird man schnell bemerken, dass seine tiefgründige Analyse (immerhin ist er auch einer der gerade die Modernität Mahlers herausarbeitender Dirigent) alles andere als "romantisch" ist. Äußerlichkeiten wie Größe des Orchesters gehen mE deutlich an der Sache vorbei.

    Und Hans-Henny Jahnn hat gerade (übrigens im Schulterschluss mit dem "romantischen" Kompagnon Ramin zur Wiederbelebung der Silbermannorgeln beigetragen (u.a. aktiv als Orgelbauer)


    Es grüßt Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Ich weiß nicht, wie man das auf Interpretationen älterer Musik übertragen kann oder sollte


    Ich auch nicht, aber wenn die Frage hier schon einmal aufgeworfen wird, können wir ja mal darüber nachdenken, oder?

    Inwiefern sich Wagner, Bruckner, Mahler, Reger, Pfitzner, häufig auch Brahms und Strauss jedenfalls in Werken wie Salome und Elektra durch "leicht nachvollziehbare Harmonik und Melodik" auszeichnen ist mir bisher anscheinend entgangen...


    Ja, mir auch... Genauso ist mir aber auch offenbar entgangen, dass z. B. "Salome" und "Elektra" etwas mit Spätromantik zu tun hätten...

    Die "Gegenbewegung" ist eher im "Exotismus" oder Barbaro-Stil z.B. Strawinskys zu suchen, der an Rimsky, Debussy, Mussorgsky anknüpft und eben gerade nicht an die "deutsch-österreichische" Tradition von Bach bis Wagner/Brahms/Mahler.


    Ja, aber genau das ist doch der musikalische Expressionismus!

    Zwölftontechnik sagt nichts über den Stil einer Musik aus, deshalb finde ich "Zwölftonmusik" für einen irreführenden Begriff.


    Du findest Zwölftonmusik für einen irreführenden Begriff, weil er nichts über den Stil einer Musik aussagt? Das finde ich seltsam... Der Begriff der Zwölftonmusik sagt doch immens viel über die Machart der entsprechenden Musik aus, kennzeichnet eine bestimmte Art zu komponieren!

    Dass Berg und Schönberg zum Expressionismus gehören, ist eine Seite der Medaille, aber es gibt eine große Anzahl von Komponisten, die als Expressionisten nichts mit der Zwölftontechnik zu tun hatten, ich nenne mal Scriabin, Strawinsky und Schoeck.


    Ganz genau! Das habe ich oben ja auch schon geschrieben.

    Äußerlichkeiten wie Größe des Orchesters gehen mE deutlich an der Sache vorbei.


    Natürlich tun sie das!

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Musikalischer Expressionismus

    Schwierig bei der Diskussion finde ich gerade, daß gar nicht klar ist, wie man musikalischen Expressionismus begrifflich genauer fassen soll. Auch der in "http://de.wikipedia.org/wiki/Expressionismus_%28Musik%29" Wikipedia unternommene Versuch ("Im Gegensatz zum musikalischen Impressionismus, der naturalistisch die äußere Erscheinung der Dinge abbildet, beschäftigt sich die expressionistische Kunstrichtung mit der Innerlichkeit des Menschen.") überzeugt mich nicht recht. Aufgeführt werden dort einige Leute, deren Werk mir persönlich teilweise recht nah ist, Skrjabin, Ives, Strawinski, Hindemith, Prokofjew, Krenek, Honegger, Bartók, Busoni und vor allem Schönberg, Berg und Webern, die im Unterschied zu anderen Komponisten am Expressionismus festgehalten hätten. Aber was heißt schon, sie beschäftigten sich mit der "Innerlichkeit des Menschen"? Das taten (und tun) andere Meister auch.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Mein Vorschlag: Die Expressionisten befassen sich mit der Innerlichkeit derart radikal, daß der Ausdruck (Expression) wichtiger wird als die Schönheit. Darin besteht der Bruch zur ebenfalls innerlichen Romantik und ebenfalls zum Impressionismus, der ja für die Schilderung äußerer Sinneseindrücke doch eher "schöne" Sujets gewählt hat - Natur, Licht...
    Bei dieser Typisierung wird natürlich schnell klar, daß es die expressionistischen Komponisten garnicht geben kann, sondern immer nur expressionistische Züge in Werken: selbst ein so "klassisch" expressionistisches Werk wie der "Sacre" hat ja durchaus "impressionistische", "schöne" Partien.
    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Liebe Capricciosi!

    Ich bin ja mittlerweile auch schon dafür bekannt, dass ich gerade bei Epochendefinition gerne Querverbindungen zu anderen Künsten suche und finde und die Meinung vertrete, dass dies auch legitim und notwendig ist. Man sollte nicht in verschiedenen Künsten gleiche Epochen- oder Strömungsbezeichnungen einführen, aber jeweils ganz andere Ideen und Konzepte meinen. Und wenn man sich den Expressionismus in der Bildenden Kunst ansieht, wird man hoffentlich ganz schnell vom Gedanken geheilt, Expressionismus hätte irgendetwas mit Hässlichkeit zu tun oder sei irgendwie "unschön". Es ist eine Gegenbewegung Naturalismus; es wird nicht mehr naturalistisch gemalt (und das kann für das zeitgenössische Publikum durchaus "hässlich" gewirkt haben), aber die expressionistischen Bilder umfassen definitiv auch sehr viel Ästhetisches und viel (wenigstens für den heutigen Betrachter) auf den ersten Blick Schönes.

    Oder in der Literatur: Ist an einem expressionistischen Gedicht wie dem folgenden an der Oberfläche irgendetwas unschön?

    "Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
    Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
    Und blauen Seen, darüber die Sonne
    Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht

    Sterbende Krieger, die wilde Klage
    Ihrer zerbrochenen Münder.
    Doch stille sammelt im Weidengrund
    Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,
    Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;

    Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
    Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
    Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
    Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
    Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.

    O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre,
    Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
    Die ungebornen Enkel."

    Meiner Meinung nach nicht, ich halte Trakls "Grodek" für hochästhetisch, und es zeigt sich hier (wie auch in der Bildenden Kunst und dann auch in der Musik) m.E., dass der Expressionismus ganz stark in der romantischen Tradition wurzelt, wie auch die anderen Strömungen der Zeit, die man gar nicht so ohne weiters leicht voneinander trennen kann: Das Fin de siècle, Symbolismus, Ästhetizismus und Jugendstil sind im Literarischen frühe Vorläufer des Expressionismus (z.B. Poe! Wilde!); auch der Impressionismus hat m.E. mit dem Expressionismus sehr viel zu tun, in der Bildenden Kunst z.B. in der Ablehnung des Naturalismus, im Hinwenden zum subjektiven Eindruck und zur subjektiven Empfindung. Auch in der Literatur wird ja von den Strömungen zur Jahrhundertwende der Naturalismus bekämpft, der sich anscheinend für viele Dichter als Sackgasse und Einengung der künstlerischen Freiheit präsentierte. Und in der Musik wird ebenfalls in vielerlei Hinsicht seit den 1880er Jahren einer als allzu institutionalisiert empfundenen Romantik Paroli geboten: Symbolismus, Exotismus, Impressionismus, Expressionismus... der Romantik wird wieder zum Aufreger, die sie einmal war. Auch diese musikalischen Strömungen hängen vielfach zusammen, und man kann sie m.E. nicht völlig getrennt betrachten: exotische Tonsysteme, Gamelan-Klänge etc. sind eine wichtige Inspirationsquelle für die Impressionisten. Die impressionistische Klangsensibilität wiederum wird in den Expressionismus übernommen. In meinen Augen ist der Expressionismus eine Art übersteigerter Romantik; wo im Impressionismus aber alles im Uneindeutigen zerfließt, die Kunst wie ein Schleier vor dem Abgebildeten liegt, konvergieren die Impressionen im Expressionismus zu einer einzigen subjektiven Realität.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Schwierig bei der Diskussion finde ich gerade, daß gar nicht klar ist, wie man musikalischen Expressionismus begrifflich genauer fassen soll.


    Ich habe jetzt mal nachgeschlagen:
    Der Brockhaus Musik definiert "Expressionismus" als "aus der Malerei und Literatur übernommene und auf die Musik übertragene, um 1918/19 aufgekommene Bezeichnung, die sich vor allem auf die frühatonale Musik von Arnold Schönberg bezog (der diese Etikettierung jedoch selbst ablehnte), besonders etwa auf die George-Lieder op. 15, die Klavierstücke op. 11 und das Melodram "Pierrot Lunaire" op. 21. Daneben wurden auch die Schönberg-Schüler Anton Webern mit seinen kurzen "Stücken" und Alban Berg ("Wozzeck"), im weiteren Sinne auch Kompositionen von Aleksander Skrjabin, Ferruccio Busoni, Bela Bartok, Igor Strawinsky, Paul Hindemith, Ernst Krenek, Franz Schreker u. a. zum musikalischen Expressionismus gezählt. Die inhaltlichen Bestimmungen des musikalischen Expressionismus betonen begrifflich die Gegenüberstellung zum (begrifflich ebenfalls umstrittenen) musikalischen Impressionismus, sachlich die für die Entstehung der Neuen Musik entscheidende Hinwendung zur atonalen Musik und kompositionsästhetisch die Berufung auf das Unbewusste, das Triebhafte des Schaffensprozesses. Zugleich weisen alle in diesem Sinne expressionistischen Werke, v. a. die der Schönberg-Schule, ein Höchtsmaß an Strukturiertheit auf".
    Diese Definition ist kurz und prägnant und scheint mir auch inhaltlich recht brauchbar zu sein. Einen Widerspruch sehe ich aber doch: Wie passen eine "Berufung auf das Unbewusste, das Triebhafte des Schaffensprozesses" und "ein Höchtsmaß an Strukturiertheit" zusammen?
    Ähnlich äußert sich auch der Detmolder Musikprofessor Werner Keil in seiner kürzlich erschienenen "Einführung in die Musikgeschichte". Dem Expressionismus ist dort ein ganzes Kapitel gewidmet, das ich hier natürlich nicht abschreiben werde. Keil beginnt mit der Feststellung: "Der Expressionismus war eine vor allem deutsche künstlerische Oppositionsbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Er trat in allen Künsten, in Malerei, Drama, Lyrik, Prosa und Musik auf und wandte sich gegen den Impressionismus: War es diesem darum zu tun, den Eindruck eines Äußeren auf das Innere des Künstlers festzuhalten, geht es nun umgekehrt darum, dem Inneren Ausdruck zu verleihen, die künstlerische Subjektivität zu legitimieren". Es wird dann die Entstehung des Begriffs aus der Malerei erläutert, woraus Keil schließt: "Wie Impressionismus ist daher auch Expressionismus bei der Übertragung auf Musik ein problematischer Begriff; er dient hauptsächlich zur Charakterisierung der Musik Arnold Schönbergs und seiner Schule". Dann wird Schönbergs Verbindung zur exprssionistischen Malerei hervorgehoben. Der Autor warnt allerdings davor, "die Begriffe Impressionismus und Expressionismus als Epochenbezeichnungen zu gebrauchen und z. B. Mahler, Debussy und Schönberg als zeitliche Abfolge von Spätromantik, Impressionismusund Expressionismus aufzufassen". Es wird dann, vor allem am Beispiel der Wiener Moderne, dargestellt, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts diverse künstlerische Strömungen nebeneinander exixtierten und konkurrierten. Dann geht es um die Geschichte des Begriffes "Expressionismus" und um die Definitionen der alten (1954) und der neuen (1995) MGG-Artikel.
    Dann geht Keil auf die Themen des Expressionismus ein: "Dramatik des Krieges, die Widersprüche des Lebens, menschliche Einsamkeit, das Grauen der Großstadt, die Suche nach neuer Humanität, das Sexuelle von dämonischer Besessenheit bis zur keuschen Anbetung, soziales Elend und Krankheit. Expressionistische Kunst war erfüllt vom Erleben des Leidens. K. H. Wörner betont im Expressionismus-Artikel der alten MGG die "unbezähmbare, fast schon neurotische Angst des Künstlers vor der eigenen Zeit und deren Folgen" und erinnert an Schönbergs Formel von Kunst als Notschrei. Für eine Systematik des expressionistischen Stls in der Musik schlug Will Hofmann vier Gesichtspunkte vor: Expression, Irritation, Reduktion und Abstraktion". Anhand dieser vier Aspekte wird dann der Stil des musikalischen Expressionismus erläutert.
    Als herausragende Beispiele expressionistischer Musik analysiert Keil Alban Bergs "Drei Orchesterstücke" op.6 und vor allem Schönbergs "Pierrot Lunaire". Zum Schluss des Kapitels werden noch einige Seiten Charles Ives gewidmet, denn "wenn man den Expressionismus als diejenige Richtung der Moderne auffasst, die den Weg in die Atonalität beschritt, muß man eines Komponisten bedenken, der im gleichen jahr wie Schönberg zur Welt kam und praktisch alle Neuerungen der europäischen Avantgarde um Jahre vorweg nahm, ohne dass diese ihn je bemerkt hätte".

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Zitat

    Exressionistische Musik wendet sich in ihren radikalen Experimenten und in ihrer formalen Strenge also gerade gegen eine Musik, die vor allem subjektive Emotionalität in den Vordergrund stellt

    Es stellt sich die Frage, ob durch formale Strenge z.B. der 12-Tontechnik versucht wird, der „subjektiven Emotionalität“ zur eine gewisse objektiven Geltung zu verhelfen, oder aber auch die „subjektive Emotionalität“ zu panzern, zu stacheln, abzudichten gegen schnellen einschnappendem Zugriff und Integration durch den Hörer.

    Ansonsten plädiere ich auch dafür, die 12-Ton-Technik nicht unmittelbar mit Expressionismus in Beziehung zu setzten.

    Zitat

    Der Brockhaus Musik definiert "Expressionismus" als "aus der Malerei und Literatur übernommene und auf die Musik übertragene, um 1918/19 aufgekommene Bezeichnung, die sich vor allem auf die frühatonale Musik von Arnold Schönberg bezog (der diese Etikettierung jedoch selbst ablehnte), besonders etwa auf die George-Lieder op. 15, die Klavierstücke op. 11 und das Melodram "Pierrot Lunaire" op. 21. Daneben wurden auch die Schönberg-Schüler Anton Webern mit seinen kurzen "Stücken" und Alban Berg ("Wozzeck").....

    Eben, ausgeprägt expressionistische Merkmale der Neuen Wiener Schule treten besonders in der Phase der sog. freien Atonalität auf.

    Manche in Zwölftontechnik geschriebenen Werke besitzen eher geringe oder z. Tl. überhaupt keine expressionistischen Züge: z.B. Schönbergs Bläserquintett, seine Klaviersuite oder einiges vom späten Webern.

    Auf der anderen Seite gibt es wiederum seriell geschriebener Werke, die durchaus expressionistischen Züge sich quasi „erneut“ zu eigen gemacht haben: z.B. Schönbergs Streichquartette Nr. 3 und 4 (trotz der sehr formalen Prägung: seriell und Sonatenhauptsatzform), das Streichtrio, aber auch der 2. und 3. Abschnitt von Schönbergs Klavierkonzert, B-A. Zimmermanns Soldaten etc etc etc......

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Bei Strawinsky spricht man doch auch von einer expressionistischen Phase (zeitlich passend zur Literatur zwischen 1910 und 1920). Da sollten wohl dazugehören: Sacre, 3 japanische Lieder, 3 Stücke für Streichquartett, Bauernhochzeit, Geschichte vom Soldaten, Symphonie für Blasinstrumente? Wobei vor allem Bauernhochzeit und Geschichte vom Soldaten für spätere, nicht-expressionistische Stile vorbildlich sein dürften.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

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