Es geht weiterhin um Unterdrückung und Auflehnung, um das Schlucken von Ungerechtigkeit oder heldenhafter Selbstaufgabe, um die Gefährdung der Mitmenschen aufgrund geleistetem Widerstand. Das sind Dinge, die Schiller wichtig waren und sie bieten auch hier noch Anlass zum Nachdenken.
Klar war das dem Schiller wichtig, und er hat das in eine spezifische Geschichte gegossen. Darin geht es zweifellos "um Unterdrückung und Auflehnung, um das Schlucken von Ungerechtigkeit oder heldenhafter Selbstaufgabe, um die Gefährdung der Mitmenschen aufgrund geleistetem Widerstand", keine Frage. Aber die gleichen Themen lassen sich auch in zahllose andere Geschichten gießen: Tatsächlich sind die Bibliotheken voll davon. Das sind aber alles andere Geschichten, als "Wilhelm Tell" von Schiller. Nur, weil es immer noch um das gleiche geht, muß es nicht das gleiche sein. Apfel ist Obst. Ist Obst Apfel?
Und selbstverständlich kann eine "gebrochene" (mir fällt gerade nichts besseres ein) Identität genauso spannend sein, wie das Original, auch für Kinder. Aber ich unterstelle jetzt mal, das die mit einer gewissen Erwartungshaltung kommen (so wie viele Erwachsenen ja auch), nämlich die Geschichte so zu sehen, "wie sie im Buch steht". ( Ich kann mich irgendwie dunkel erinnern, daß es eine Studie gibt, die belegt hat, daß jugendliche "Erstbesucher" mit eher konventionellen Vorstellungen in die Oper gehen) Und diese Erwartung wird erfüllt oder nicht. Wird sie nicht erfüllt, gibt es die Enttäuschten und die trotzdem Begeisterten. Manche können die Transferleistung halt bringen, und manche nicht. Und manche wollen sie auch nicht bringen. Die Enttäuschten werden es in Zukunft blöd finden und nicht mehr wiederkommen. Die Begeisterten kommen wieder. Die Frage ist - rein spieltheoretisch: wieviele von den Begeisterten wären auch dann begeistert, wenn sich die Inszenierung näher am Original bewegt hätte, ihre ursprüngliche Erwartung also eher erfüllt worden wäre? Und wieviele wären dann weniger enttäuscht? Spieltheoretische Frage: womit kann man künftiges Publikum verlieren bzw. gewinnen? Genau diese Frage hat Ganymed angerissen. Die ist nicht a priori doof, auch wenn sie vermutlich hier nicht beantwortet werden kann.
Regietheater definiert sich also dadurch, dass es die Identität eines Bühnenstückes zerstört?
habe ich irgend etwas geschrieben, das diesen Schluß zulässt? Und wäre es nicht eine Bankrotterklärung an die Umsetzungsfähigkeit moderner Regie, sie so zu definieren? Die Zerstörung der Identität als Selbstzweck? Nochmal, ganz allgemein: Man kann jede beliebige Deutung konstruieren, wenn man alles eliminiert bzw. passend ändert, was dieser Deutung zuwiderläuft. (So werden in manchen Ländern auch Wahlen gewonnen... ) In den darstellenden Künsten kann das durchaus Kunst sein, im Sinne einer Performance, aber keine Interpretation mehr. Daß es dabei vielleicht "irgendwie" (immer) noch um das gleiche Thema geht, ist mir, ehrlich gesagt, zu schwammig.
ZitatAber warum der Tell jetzt in der Oper seine Tochter erwischt hat, obwohl der Papa das zuhause noch ganz anders erzählt hat, das interessiert die Kinder garantiert! (Und so soll das auch sein, wenn man nach meiner Meinung fragt).
Dann erklären wir, daß sich im Theater keiner an die Vorlage halten muß und alles nach seiner Vorstellung ändern darf. Da fällt mir unmittelbar die Geschichte vom kleinen Fritz ein, der Dichter werden wollte: Im Schulaufsatz hat die Lehrerin rote Tinte über das Papier gegossen - wg. der vielen Rechtschreibfehler (ja, ich weiß. Der Witz ist halt schon Jahrzehnte alt...) Daraufhin zur Rede gestellt, mit dem Hinweis darauf, daß er das doch besser wissen müsse, denn er wolle doch Dichter werden, meint er nur lakonisch: "Wieso Fehler? Das ist Dichterische Freiheit...!" ;+)