Elgar: Sea Pictures
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Entstehung
Im Oktober 1898 fragten die Verantwortlichen des renommierten Norwich-Festivals bei dem aufstrebenden Oratorienkomponisten Edward Elgar aus Worcester an, ob er für das im Folgejahr erneut stattfindende Festival ein „kurzes Chorwerk“ komponieren könne.
Elgar sagte zu, war allerdings zu beschäftigt, um sich sofort an die Arbeit zu machen. Die Fertigstellung seines ersten großen Orchesterwerkes, den „Variations on an Original Theme“ (besser bekannt als „Enigma-Variations“) nahm seine gesamte Konzentration in Anspruch. Es stellte insofern keinerlei Problem dar, dass man seitens des Norwich-Festivals gleich in den ersten Januartagen des Jahres 1899 eine Veränderung wünschte. Schließlich gab es noch nicht einmal ein Konzept für das gewünschte Chorwerk. Die Leiter des Festivals teilten Elgar nun mit, dass man die 27 Jahre alte Mezzosopranistin Clara Butt engagiert habe und nun eine von Elgar komponierte „Scena“ für sie wünschte. Wie diese „Scena“ aussehen sollte, wurde nicht genauer spezifiziert. Elgar seinerseits suchte am 9. Januar 1899 die junge Diva in London auf, um das Projekt mit ihr durchzusprechen. Allerdings sah sie sich außerstande ihn zu empfangen und ließ ihn abweisen, da sie angeblich gerade dabei war ein Bad zu nehmen. Elgar war erzürnt und beschwerte sich bei ihrem Agenten, der ein neuerliches Treffen fünf Tage später arrangierte, bei dem man die Skizzen zu dem besprach, was später einmal die „Sea Pictures“ werden sollten.
Doch zunächst gingen der endgültige Abschluss der „Enigma-Variations“ und die Organisation der erstmaligen Aufführung derselben vor. Erst nach der triumphalen Uraufführung der „Variations“ am 19. Juni 1899, die Elgar über Nacht zu einem berühmten, ja zu dem lebenden Komponisten Englands machte, hatte er wieder Zeit, sich der Arbeit an den „Sea Pictures“ zuzuwenden. Im Juli orchestrierte er die Lieder nach einem Besuch bei Granville Bantock und dessen Gattin, am 11. August ging er sie mit Clara Butt in London durch und am 5. Oktober 1899 dirigierte er sie (trotz einer schweren Erkältung) beim Norwich-Festival. Auch diese Uraufführung war ein großer Erfolg, auch wenn man den Umstand, dass Clara Butt ein Meerjungfrauen-Kostüm trug, als „victorian folly“ hinnehmen muss. Immerhin: Elgar konnte seinem Freund August Jaeger vermelden: „Clara Butt sang die ‚Sea Pictures' gut.“ Zwei Tage später sang sie vier der Lieder mit Elgar am Klavier in der Londoner St. James’s Hall und vierzehn Tage darauf präsentierten beide zwei der Lieder Königin Victoria im schottischen Balmoral Castle.
Hintergrund
Es ist eine gern und viel zitierte Tatsache, dass kein Ort in England mehr als einhundert Kilometer von der See entfernt liegt. Und so ist es weder eine sonderliche Überraschung, dass der Ozean im englischen Leben und Denken eine einigermaßen prominente Rolle spielt noch überdurchschnittlich schwer, Werke englischer Komponisten zu nennen, die das Meer thematisch aufgreifen: Vaughan Williams’ „Sea Symphony“ drängt sich hier ebenso schnell auf wie Bantocks „Hebridean Symphony“, Frank Bridges „The Sea“ und natürlich Brittens „Peter Grimes“.
Tatsächlich sind es aber Elgars „Sea Pictures“, die ganz am Ende des alten Jahrhunderts diesen Reigen eröffnen. Wie Elgar indes auf die Idee verfiel, als Thema der für Clara Butt zu komponierenden „Scena“ das Meer zu wählen, bleibt unklar und eröffnet so Raum für allerhand Spekulationen.
Eine der gängigen Hypothesen fokussiert Elgars „Beziehung“ zu Lady Mary Lygon, einer Mäzänin, der die eben fertiggestellten „Enigma-Variations“ nicht nur gewidmet waren, sondern die auch in den Variationen auftauchen soll, und zwar als jene mysteriöse „Romanza (***)“-Variation, die höchst innigen, ja zärtlichen Charakter hat. Elgar soll sich zu ihr hingezogen gefühlt und dementsprechend darunter gelitten haben, dass sie im April 1899 ihrem Bruder, dem Earl of Beauchamp, über das Meer (sic!) ins australische New South Wales gefolgt war, da dieser zum Gouverneur dieser Provinz ernannt worden war.
Ich empfinde diese Hypothese als ähnlich wackelig wie den bemühten Erklärungsversuch des berühmten Elgar-Forschers Jerrold Northrop Moore:
„Nun stellte sich Elgar seinen Gefühlen dem Meer gegenüber. Er würde eine einsame Stimme – es war der mächtige Alt von Clara Butt – mit einem großen Orchester samt Orgel in einem Zyklus von fünf Liedern konfrontieren: ‚Sea Pictures’.“ (Moore, Jerrold Northrop: Elgar. Child of Dreams. 2004, S. 34. Übers. der Verf.)
Diese an sich natürlich richtige Beobachtung deutet Moore im Sinne seiner älteren Studie („Elgar. A Creative Life“, 1994) so, dass es Elgar mittels sich der sich durch die Metapher des Meeres eröffnenden Bildlichkeit möglich war, seine als quälend empfundene Isolation innerhalb der englischen Gesellschaft (er war katholischer Künstler im anglikanisch-militaristischen England) und des englischen Musiklandschaft (er war Autodidakt in einem akademisch geprägten Musikbetrieb) zu thematisieren.
Dieser in der (älteren) britischen Elgar-Forschung wohl gepflegte Topos vom durch „die Gesellschaft“ in die Außenseiterposition gedrängte Elgar kann leicht durch allerhand Selbstäußerungen des Komponisten belegt werden. Allerdings sind in jüngster Zeit gerade hier Zweifel angemeldet worden. Es ist deutlich auf die Eindimensionalität dieses schon fast sakrosankten Ansatzes hingewiesen worden, und zwar mit dem berechtigten Hinweis darauf, dass Elgar nicht nur Verrätselungen liebte, sondern dass er auch und ganz besonders ein Meister der Selbstinszenierung war, dessen Selbstdarstellungen oft inszenatorischen Charakter haben (vgl. Cannadine, Davis: Orchestrating his own life: Sir Edward Elgar as a historical personality. In: Elgar. An Anniversary Portrait. London 2007).
Beide gängigen Hypothesen wählen also die Biographie Elgars als Ausgangspunkt für das Verständnis der „Sea Pictures“, ohne dabei zur Kenntnis zu nehmen, dass sie auch vor einem breiteren Horizont verstanden werden können. So weist die amerikanische Dirigentin Kim Diehnelt auf den kaum thematisierten Umstand hin, dass gerade die Textauswahl Elgars dafür spricht, dass wir es mit den „Sea Pictures“ nicht mit einem vorwiegend biographisch motivierten Opus zu tun haben:
„Die Dichtung jener Ära reflektierte nicht zwangsläufig die persönlichen Erfahrungen des Autors. Tatsächlich war es eine stilistische Vorgabe für den Autor, sich als fremd und abgesondert darzustellen. Macht man sich dies bewusst, so kann ich nur von der gängigen Lesart abraten, innerhalb des Liederzyklus spezifische Details aus Elgars Leben erkennen zu wollen. Dass Elgar Texte wählte, die introvertiert und reflektiver Stimmung sind, die oft um das Thema Verlust kreisen, ist ein Zeichen des in der Lyrik jener Epoche zu Tage tretenden Zeitgeistes.“ (Diehnelt, Übers. der Verf.)
Bei fast allen der von Elgar gewählten Texte handelt es sich um sogenannte „dramatic monologues“, eine Textform, die in der viktorianischen Lyrik gern genutzt wurde. Lediglich die (musikalische) Keimzelle der „Sea Pictures“, der bereits zwei Jahre zuvor komponierte „Lute Song“ (hier dann: „In Haven“) auf einen Text von Elgars Frau Alice, entspricht dieser Form nicht:
„In einem dramatischen Monolog wird zunächst eine Szene beschrieben. Der Sprecher beschreibt beispielsweise wie sich ein Ort verändert hat, er beschwört Erinnerungen, Gefühle, Gedanken usw. herauf. So wird ein Dialog zwischen einem äußeren Ort und einer individuellen Meditation eröffnet, in dessen Folge sich eine Veränderung einstelt: es wird etwas gelöst, entdeckt oder entschieden.“ (Diehnelt, Übers. der Verf.)
Das Meer, das in den „Sea Pictures“ die gemeinsame Szene darstellt, wird so zu einem Auslöser für eine epochentypische Introspektion nach inhaltlichen und atmosphärischen Regeln. Der Spiegel des Meeres, mit seinen (Un)Tiefen, Geheimnissen, Stürmen, Wellen, Wogen, Weiten, schier unendlichen Räumen, mit seinen Momenten der Ruhe und der Leere und dem Gefühl der Unbegrenzheit, der Freiheit wird in den Dichtungen, die Elgar wählt, zum Spiegel der menschlichen Seele. Die Darstellungen dieser Gemütszustände (auch wenn sie stilistisch vorgegeben waren, s.o.) reizt Elgar – und viele andere Komponisten jener Epoche neben und nach ihm – wohl nicht zufällig.
Vergessen wir nicht: Das Ende das Jahrhunderts hat ein stetig steigendes Interesse an der Seele und ihren Regungen mit sich gebracht. Im Jahr der Komposition und Uraufführung der „Sea Pictures“ erscheint Sigmund Freuds „Traumdeutung“. Bald wird die Landschaft der Seele vermessen werden. Das, was vormals natürlich bekannt, aber nicht karographiert war, hatte nun bald Landstriche, die das Ich, das Über-Ich, das Es, das Bewusste, das Unbewusste hießen. Der Blick unter die Oberfläche des Meeres in das Land „where corals lie“, wird zum Blick ins Unbewusste, in die Tiefen der Seele – wenn man das denn so will.
Dass sich Elgar für die Landschaft der Seele interessierte, mag auch damit zu tun haben, dass er Jahre zuvor allwöchentlich sehen und erleben konnte, welche Abgründe sie hat und wie man sich in ihren Weiten verirren kann.
Als Elgar Anfang 20 war, übernahm er einen durchaus ungewöhnlichen Posten. Er wurde Musikdirektor der Irrenanstalt von Powick (Powick Lunatic Asylum):
„Die Direktoren der Anstalt glaubten an den therapeutischen Effekt der Musik, formten aus Teilen der Angestellten ein Musikensemble und stellten einen Dirigenten an, der sowohl die Ensemblemitglieder musikalisch anleiten als auch für die freitags stattfindenden Tanzabende in der Anstalt Musikstücke komponieren sollte. Der Posten wurde 1878 vakant und Elgar bewarb sich mit einem Menuett [...]. Er wurde zum 1. Januar 1879 als Musikdirektor angestellt, erhielt ein Gehalt von 30 Pfund pro Jahr und 5 Shilling für jede Quadrille oder Polka, die er komponieren würde.“ [Kennedy 2004, S. 22. Übers. der Verf.]
Diesen Posten bekleidete Elgar fünf Jahre lang. Und obwohl es typisch für Elgars Kompositionsweise ist, auf zum Teil sehr lang zurückliegende Ideen und/oder Kompositionen zurückzugreifen, empfinde ich es als durchaus nicht zufällig, dass sich Elgar in gerade jenem Moment, da er sich mit dem Meer und der Seele beschäftigt, auf Kompositionen aus den Powick-Jahren zurückgreift und sie in die „Sea Pictures“ einfließen lässt. So ist beispielsweise der Beginn des „Sabbath Morning“ von der Polka „Helica“ inspiriert und gerade das mit der Idee des Unbewussten spielende Lied „Where corals lie“ lässt sich auf eine Quadrille aus dieser Zeit zurückführen.
Noch 1917 zeigt sich in einem Brief Elgars an seinen Freund Ernest Newman, wie tiefe Spuren seine Erfahrungen in Powick bei ihm hinterlassen hatten.
„Eine Irrenanstalt ist, wenn man den ersten Schock hinter sich hat, kein durch und durch trauriger Ort. So wenige Patienten sind sich der Eigenartigkeit ihrer Situation bewusst. Die meisten von ihnen sind heiter und in einem völlig verrückten Zustand der Ruhe. Aber das Grauen des gefallenen Intellekts – das Wissen, was einst da war und das Wissen darum , was daraus geworden ist – kann in seiner Schrecklichkeit nicht mit Worten ausgedrückt werde.“ [zit. n. Kennedy 2004, S. 23]