Brahms, Johannes: Klavierkonzerte Nr.1 und 2

  • Interessant finde ich, dass es in beiden Kopfsätzen keine Kadenz gibt - was ja vorher beim traditionellen mehrsätzigen Klavierkonzert m.W. Standard war. Da könnte man schon eine Annäherung an das sinfonische Prinzip erkennen. Wobei im B-dur-Konzert die Kadenz gewissermaßen an den Anfang des Satzes verlegt wird. Überhaupt ist der Kopfsatz des zweiten Konzertes formal origineller, hat m.E. auch einen vielgestaltigeren Klaviersatz. Aber, da gebe ich Philmus Recht: Die emotionale Wucht und die Originalität der Themen und ihrer Verarbeitung fegt beim d-moll-Werk locker über die blockartigen Formabschnitte hinweg. Grandios der Übergang zur Reprise, wenn der fast scherzoartig aufgelockerte Orchester- und Klaviersatz mit Akkordschlägen wie durch ein riesiges Portal in den neuen Abschnitt eintritt.

    Übrigens gibt es zum Kopfsatz des d-moll-Konzerts eine der ganz wenigen Metronomisierungen von Brahms (nur im Manuskript): diese ist mit punktierte Halbe = 58 extrem schnell und würde die Dauer des Satzes deutlich unter 20 Minuten drücken. Zum B-dur-Konzert sind die Metronomisierungen sogar in die Druckausgabe übernommen worden.


    Viele Grüße

    Bernd

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  • Übrigens gibt es zum Kopfsatz des d-moll-Konzerts eine der ganz wenigen Metronomisierungen von Brahms (nur im Manuskript): diese ist mit punktierte Halbe = 58 extrem schnell und würde die Dauer des Satzes deutlich unter 20 Minuten drücken.

    Das ist aber wirklich schnell... Da würde das von mir so geliebte Seitenthema schon leiden...
    Sollte ich doch noch zu den Befürwortern wechselnder tempi überlaufen???

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • George Szell ist dann auch der, der es wirklich versteht dem Klavierpart das spannenste Orchester an die Seite zu stellen und damit dem Klavierpart eine gleichwertige und höchst packende Orchesterbegleitung zu geben. :thumbup: Szell ist für mich der "Spiritus Rector" für die Brahms Konzerte - eine bessere packendere und angemesseneres Orchester habe ich bei keiner Aufnahme je gehört.


    Volle Zustimmung, Wullefjank! Diese Einschätzung läßt sich für mich auch auf Szells Cleveländische Sinfonien-Einspielung sinngemäß übertragen.

    Es gibt einfach keine packenderes Orchesterspiel für die Brahms-KK, als die beiden Szell-Aufnahmen mit Serkin und Fleisher !

    Doch: Die Szell-Aufnahme mit Curzon (für meine Ohren - nach ausgiebigem Vergleichshören).

    Gould/Bernstein ...

    Bei aller Verehrung für beide Musiker: Diese Aufnahme ziert mein Kuriositätenkabinett.

    und Curzon/LSO/Szell
    Beide sind herrlich rauh und ungebärdig!

    Curzon/Szell sind meine Favoriten beim op. 15. Zimerman/Rattle finde ich allerdings im Gegensatz zum stillen Don auch sehr gut :yes:

    Katchen hat op. 15 auch mit dem BBC Philharmonic unter Rudolf Kempe eingespielt - kennt jemand diese Aufnahme?

    Ich muss gestehen, dass ich das op. 15 dem op. 83 schon immer vorgezogen habe. Beim B-dur-Konzert werde ich mit Richter/Leinsdorf nicht rundum glücklich (wegen des Orchesterparts) und favorisiere momentan diese Aufnahme, die ich bei Weitem besser gelungen finde als die Wiener Aufnahme des Gespanns Pollini/Abbado, die 17 Jahre zuvor entstand:



    Atemberaubend ist jedoch auch die historische Aufnahme Artur Schnabels mit dem BBC Philharmonic unter Sir Adrian Boult von 1935 :juhu:

    Cheerio,

    Lavine :wink:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • Da dieser Beitrag auch hierher sehr gut passt, habe ich ihn noch einmal hierher kopiert, Caesar73


    Kennt das wer?

    Die gleiche Frage hierzu:

    Brahms' 1. Klavierkonzert mit Hardy Rittner auf einem Erard von 1854, dazu L'Arte del Mondo, Ltg.: Werner Ehrhardt (MDG, aufg. 2011). Rittner kenne und schätze ich als Schönberg- und Brahms-Interpret, die anderen Beteiligten sagen mir nichts.

    vor ein paar Tagen im Radio gehört und leider nicht aufgezeichnet, weil ich dem mir unbekannten Pianisten nicht soviel zugetraut hatte. Eine böse Täuschung! Die Aufnahme ist ziemlich klasse, auch der Flügel klingt super, das Orchester spielt knackig, alles passt gut zusammen.
    Ich muss allerdings gestehen, dass mich bei vielen Aufnahmen dieses Konzerts ein zu bombastisches Orchester gestört hat. Klar dass diese Gefahr hier nicht besteht.
    Bei anderen Hörern mag es genau andersherum sein.

    lg Khampan

  • Das 1. Klavierkonzert von Brahms habe ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, bislang gar nicht so oft gehört. Das ist eine von meinen groben Bildungslücken, die es irgendwann auszuwetzen gilt (momentan beschäftige ich mich recht intensiv mit Brahmsens Klavierquartetten, die ich nach wie vor weitgehend nicht verstehe und zu denen ich euch irgendwann noch diverse Fragen stellen möchte).

    Die ultimative Aufnahme des 2. Konzertes ist für mich die mit Fischer und Furtwängler, die in diversen Boxen vertreten, aber auch als Einzel-CD erhältlich ist:

    Fischer kloppt hier streckenweise grob daneben, aber angesichts der emotionalen Wucht dieser Interpretation spielen die falschen Töne überhaupt keine Rolle.

    Generell mag ich das 2. Konzert sehr gerne, wobei ich - um auf sehr hohem Niveau zu moppern - finde, dass Brahms hier (wie auch beim Violinkonzert) das ungeheure Versprechen, welches der Anfang gewährt, auf Dauer nicht ganz einlösen kann. Beim B-Dur-Konzert befindet sich der Kopfsatz allerdings sehr lange auf einer einsamen Höhe, während die Folgesätze für meine Ohren dann klar abfallen - beim Violinkozert verhält es sich anders: Der erste Satz beginnt grandios, um dann immer mehr zu erstarren, während beim Adagio zunächst wieder eine ganz besondere Ebene erreicht wird, in der sich der Komponist dann aber auch irgendwann wieder (akademisch? ?( ) verliert...

    Brahms ist generell ein Meister, um dessen Werke ich bei aller grundsätzlichen Liebe oft ringen muss!

    Beste Grüße

    Bernd

  • Ich wundere mich ja, dass die aus meiner Sicht ganz exzellenten Aufnahmen von Kristian Zimerman und Leonard Bernstein mit den Wiener Philharmonikern noch nicht aufgetaucht sind: das ist Brahms mit sehr viel Kraft und Saft. Sicher sind einige Tempi sehr gedehnt, aber auf musikantischer Ebene kann ich mir die beiden Stücke kaum erfüllter vorstellen.

    Von op. 15 habe ich noch Gould/Bernstein, die ich einfach lustig finde, weil man merkt, wie die beiden mit ihren sehr unterschiedlichen Temperamenten gegeneinander musizieren. Und Brendel/Abbado, die mir deutlich zu weich ist- allerdings ist der zweite Satz doch sehr großartig ausgesungen. Bei op. 83 habe ich eine Teldec-Aufnahme mit Cyprien Katsaris und Eliahu Inbal, die gegenüber Zimerman/Bernstein eigentlich an allen Positionen nicht so gut beraten ist.

    Zu der Rittner-Aufnahme kann ich noch beitragen, dass L'Arte del Mondo ein HIP-Orchester unter Leitung des ehemaligen Konzertmeisters von Concerto Köln, Werner Ehrhardt, ist. Der wagt wohl im Vergleich zu seinem alten Orchester einen Fortschritt in deutlich romatisches Programm. Ich kenne eine Aufnahme mit J.M.Kraus-Kantaten mit dem Orchester, die tadellos ist, aber natürlich über einen Brahmsklang erstmal nicht so furchtbar viel aussagt.

    LG Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)


  • Von op. 15 habe ich noch Gould/Bernstein, die ich einfach lustig finde, weil man merkt, wie die beiden mit ihren sehr unterschiedlichen Temperamenten gegeneinander musizieren.

    Lustig ist vor allem, dass Bernstein Goulds Sicht damals viel zu langsam gewesen sei. später mit Zimerman ist es aber Bernsteion, der noch langsamer geworden ist als damals in New York. Der Booklettext besagt, dass sich die beiden folgendermaßen geeignigt haben: An einem Abend wird das Konzert nach Goulds Auffassung recht langsam gespielt und am anderen Tag sollte sich Gould der Auffassung Bernsteins annähern. Ich habe nicht mehr in Erinnerung, welcher Mitschnitt der zwei bis drei Konzerte hier vorliegt. Goulds Brahms gefällt mir ausgezeichnet, da ist nichts, was sich zum musikalischen Skandal aufbauschen liesse. Im Vergleich zu dem gestern ertragenen willkürlich-subjektiven Beethoven mit Pletnev liegt hier eine geradezu mustergültige, klassische Interpretation vor. Goulds Part gefällt mir besser als das etwas diffus klingende Orchester. Und das Publikum ist auch recht präsent mitgeschnitten worden (huuust).

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • J. Brahms 2. Klavierkonzert

    Hallo,

    Gilels - Jochum: 2. Klavierkonzert (18:14, 9:24, 14:02, 9:43):
    Technisch ist E. Gilels sehr gut. Die „Pranke“ hat den Zugriff für die dramatischen und technisch z. T. sehr schwierigen Passagen. Aber mein Eindruck beim gestrigen Hören lässt Nachholbedarf bei den leisen lyrischen Passagen konstatieren. Hier sind z. B. C. Arrau und A. Rubinstein besser, wobei letzterer die nahezu perfekte Verbindung aus Dramatik und Lyrik/Innigkeit gelingt. Die Aufnahme E. Gilels - E. Jochum ist gut, aber mir zu abgehackt, langsam und damit zu breit.

    Horowitz - Toscanini: 2. Klavierkonzert (16:15, 8:06, 11:05, 8:25); die damit noch schneller sind als Rubinstein-Krips (16:55, 9:05, 12:39, 9:01):
    Der Klang ist nicht gut; teilweise dumpf. Im 3. Satz hat meine Aufnahme aus der RCA-Toscanini-Edition unangenehme Nebengeräusche: Rauschen und: Die Aufnahme - 3. Satz - eiert. Gerade im ruhigen Satz stört dieses sehr. Schade, weil ich A. Toscanini für einen der besten Brahms-Dirigenten halte.

  • Ich habe die Brahms Rubinstein Box, bis jetzt allerdings nur die Solowerke angehört (deshalb habe ich sie auch gekauft). Ich denke, die Aufnahme mit Reiner müsste auch drauf sein, die muss ich mir dann direkt im Vergleich zu Gilels anhören. Besten Dank für Deinen Vergleich.

    Herzliche Grüsse

    Gerhard

  • vor ein paar Tagen im Radio gehört und leider nicht aufgezeichnet, weil ich dem mir unbekannten Pianisten nicht soviel zugetraut hatte. Eine böse Täuschung! Die Aufnahme ist ziemlich klasse, auch der Flügel klingt super, das Orchester spielt knackig, alles passt gut zusammen.
    Ich muss allerdings gestehen, dass mich bei vielen Aufnahmen dieses Konzerts ein zu bombastisches Orchester gestört hat. Klar dass diese Gefahr hier nicht besteht.
    Bei anderen Hörern mag es genau andersherum sein.

    lg Khampan

    Da mir eine HIP-Aufnahme von Brahms´ erstem Konzert noch fehlt, und ich Hardy Ritters Brahms Aufnahmen für Soloklavier sehr schätze, habe ich mir die oben erwähnte Aufnahme gerade bestellt ;+)

    Grundsätzlich höre ich beide Konzerte gerne - die Gattungsfrage ist dabei für mich völlig nebensächlich: ob Klavierkonzert oder Symphonie mit obligatem Klavier? Das ist nun wirklich keine Frage von Belang. Sehr schätze ich den ersten Satz des d-moll-Konzerts.

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Das ist aber wirklich schnell... Da würde das von mir so geliebte Seitenthema schon leiden...
    Sollte ich doch noch zu den Befürwortern wechselnder tempi überlaufen???

    Das wäre zumindest in diesem Fall kein Fehler: für das Seitenthema hat Brahms ja Poco più moderato vorgeschrieben. Meist treten die Pianisten hier ziemlich stark auf die Bremse. Oft wird ja schon beim ersten Einsatz des Klaviers das Tempo runtergefahren.


    Gestern habe ich mir Rubinstein/Reiner angehört: Zweifellos eine sehr gute Aufnahme mit straffen Tempi, viel Dramatik und nuanciertenm Klavierspiel, trotzdem will bei mir der Funke nicht recht überspringen. Was mich, zumindest mit Kopfhörern, stört: der frühe Stereoklang. beachtlich für 1954, sehr breit gefächert, aber auch sehr flach - die Holzbläser klingen so, als säßen sie ganz vorne. Dadurch hört man sie im Tutti gut, allerdings ist der Klang doch reichlich artifiziell. Eine gute Mono-Aufnahme wäre mir lieber.

    Den Breitwand-Sound von Gilels/Jochum mochte ich nie, insbesondere das Orchester agiert behäbig.

    Fleisher/Szell sind meine Favoriten, vor allem für das d-moll-Werk, für die ersten beiden Sätze des B-dur-Konzerts auch Zimerman/Bernstein. Curzon/Szell kenne ich leider nicht.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Für die schwierige Frage des Tempos im Kopfsatz von op. 15 muss man m. E. ein paar Dinge bedenken. Da ist erstens der 6/4-Takt: Schwingt der in Vierteln, in halben Takten oder in ungleichen Vieren? Je nach Antwort auf diese Frage kommt man natürlich zu einem ganz anderem Grundtempo. Dann die Vorschrift "maestoso": Ist hier selbstverständlich "Allegro maestoso" gemeint oder gerade nicht "Allegro" sondern eben nur "maestoso"? Dann das Verhältnis der verschiedenen Teile zueinander: Wenn das Seitenthema wirklich nur Poco più moderato sein soll, hat das Auswirkungen auf das Anfangstempo usw.. Man kann also gerade bei diesem Satz mit guten Gründen zu sehr verschiedenen Ergebnissen kommen, und ich empfehle doch, eine "gute" Aufnahme nicht automatisch mit "straffen Tempi" gleichzusetzen, ohne sich ausführlich mit der Partitur beschäftigt zu haben... Ich persönlich finde z.B. nach all diesen Überlegungen das Gouldsche Tempo alles andere als absurd.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Ja, hat sich denn Brahms mit seiner Metronomangabe einfach vertan? ich bin weit davon entfernt, Metronomisierungen als absolut verbindlich aufzufassen (zumal wenn sie nicht in die Druckfassung übernommen worden sind und der Komponist eh misstrauisch gegenüber diesem Instrument ist). Aber auch wenn für das Tempo andere Parameter zu beachten sind und punktierte Halbe = 58 nur ein ungefähres (!) Grundtempo angeben soll, das im Bedarfsfall nach der langsameren Seite modifiziert werden kann: etwa 40 punktierte Halbe pro Minute wie bei Gould/Bernstein (Orchesterexposition) ist fast ein Drittel langsamer und somit ein völlig anderes Tempo.

    Tja, wie ist Maestoso ohne Tempozusatz zu deuten? Gibt's das bei Brahms sonst überhaupt? Inwiefern ist das überhaupt in erster Linie eine Tempoangabe und nicht auch/eher eine Charakterbezeichnung? Bezieht sich das Poco più moderato auf das Anfangstempo oder nicht doch auf ein in den 30 vorhergehenden Takten schon allmählich ausgebremstes Grundtempo? U.a. Gardiner hat ja versucht, anhand zeitgenössischen Quellen eine sehr flexible Handhabung der Tempi bei Brahms zu postulieren.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ja, hat sich denn Brahms mit seiner Metronomangabe einfach vertan? ich bin weit davon entfernt, Metronomisierungen als absolut verbindlich aufzufassen (zumal wenn sie nicht in die Druckfassung übernommen worden sind und der Komponist eh misstrauisch gegenüber diesem Instrument ist). Aber auch wenn für das Tempo andere Parameter zu beachten sind und punktierte Halbe = 58 nur ein ungefähres (!) Grundtempo angeben soll, das im Bedarfsfall nach der langsameren Seite modifiziert werden kann: etwa 40 punktierte Halbe pro Minute wie bei Gould/Bernstein (Orchesterexposition) ist fast ein Drittel langsamer und somit ein völlig anderes Tempo.

    Ob er sich vertan hat, sei mal dahingestellt, auf jeden Fall hat er sich korrigiert: zu keiner Metronomzahl. Er hat sich bei zahlreichen Gelegenheiten gegen Metronomzahlen ausgesprochen. Die wenigen Ausnahmen seien ihm "von guten Freunden aufgeschwätzt" worden. Seinem Freund Alwin von Beckerath bot er ironisch „ein Abonnement auf Metronom-Angaben“ an, denn „länger […] wie eine Woche können sie nicht gelten bei normalen Menschen!“ Nun könnte man zwar argumentieren, dass auch eine gestrichene Metronomzahl immerhin vom Komponisten stammt, also doch "ungefähr" verbindlich sei, nur: Siegfried Ochs hat berichtet, dass Brahms von ihm im fünften Satz des Deutschen Requiems verlangte, die Stelle "wie einen eine Mutter tröstet" im Tempo Achtel=72 zu nehmen. Die Metronomzahl für den Satz ist Achtel= 104... Historische Brahms-Aufnahmen aus seinem unmittelbaren Umfeld sind gerade in der Tempofrage extrem unterschiedlich. Ilona Eibenschütz spielt z.B. den berühmten A-Dur-Walzer aus op. 39 ungefähr Viertel=156, Alfred Grünfeld hingegen Viertel= 106. Brahms hat auch solche vollkommen verschiedenen Tempi (und sogar direkte Verstöße gegen den Notentext) gut geheißen, wenn "schön" gespielt bzw. gesungen wurde. Der Pianistin Fanny Davies antwortete er auf detaillierte Fragen, wie dieses und wie jenes zu machen sei, mit den Worten: "Machen Sie es wie sie wollen, machen Sie es nur schön!".


    Viele Grüße,

    Christian

  • "Machen Sie es wie sie wollen, machen Sie es nur schön!".

    Es gibt ja auch weitere Beispiele, dass Komponisten gegen ihre eigenen, detaillierten Vortrags-, Tempo- usw. -bezeichnungen und sogar gegen den eigenen Notentext verstoßen bzw. solche Verstöße gutheißen (das war hier schon einmal Thema). Daraus kann man halt sehr unterschiedliche Schlüsse ziehen: treu den Gesetzen der Philologie folgen und sekundäre Äußerungen, Interpretationen etc. des Komponisten als nachrangig einordnen. Oder den Notentext als sekundär einschätzen und die Aufführung eines Werks nicht als dessen Realisation auffassen. Oder aufführungshistorische Kontexte stärker berücksichtigen. Oder irgendwas dazwischen. Es ist schon ein Kreuz mit der Intention...

    Jedenfalls bleiben wenig Gewissheiten und ebenso wie das langsame Tempo von Gould/Bernstein kann man mit dem "machen Sie es wie Sie wollen" auch heftige Temporückungen, beispielsweise ein molto più moderato statt eines poco più moderato beim Seitenthema rechtfertigen. "Schön" ist das allemal. Es ist aber m.E. problematisch, beim einen Punkt auf konkrete Tempo-/Vortragsbezeichnungen zu pochen, beim anderen Punkt solche Bezeichnungen aber mit Verweis auf die schwankende Komponistenintention zu verwerfen.

    Zumindest wollte ich das von mir bevorzugte "straffe Tempo" für den Kopfsatz nicht absolut setzen, sondern als eine mögliche Variante ins Spiel bringen. Man könnte eine Interpretation mit der hingeschriebenen und wieder verworfenen Metronomziffer (die ihm, da sie nur im Autograph steht, wahrscheinlich nicht "von guten Freunden aufgeschwätzt" worden ist) mindestens einmal versuchen. Sollen ja nicht alle so machen.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • RE: Pollini/Berliner PH/Abbado (DG)

    Ich muss gestehen, dass ich das op. 15 dem op. 83 schon immer vorgezogen habe. Beim B-dur-Konzert werde ich mit Richter/Leinsdorf nicht rundum glücklich (wegen des Orchesterparts) und favorisiere momentan diese Aufnahme, die ich bei Weitem besser gelungen finde als die Wiener Aufnahme des Gespanns Pollini/Abbado, die 17 Jahre zuvor entstand:


    Hallo Lavine,

    ich hatte diese neuere LIVE-Aufnahme von Pollini/Abbado (DG) ja schon in Beitrag 1 erwähnt.

    Mein Eindruck ist genau das Gegenteil: Ich finde die älteren Aufnahmen mit den Wiener Ph beide ungleeich besser - das KK Nr.1 mit Pollini/Böhm geradezu umwerfend und dass KK Nr.2 Pollini/Abbado viel spannender und im Orchesterpart ebenfalls angemessener interpretiert, als die von Dir goutierten LIVE-Aufnahmen mit den Berliner PH, die ich als zu harmlos und kraftlos empfinde. Eben so, das ich von "Romatikgedudel" schrieb... Ich habe diese DG-Doppel-CD bereits vor Jahren verhökert; ;+) zum Vergleich aber als CD-R zurückbehalten.

    Bei Richter/Leinsdorf (RCA) bin ich allerdings den Orchesterpart betreffend bei Dir - Richter selber ist allerdings phänomenal, sodass diese CD meinen Bestand bereichert hat (auch wegen der Beethoven: Appassionata auf der CD !) !


    Hallo Christian,

    mit den Tempofragen, die Du zur Überlegung stellt, kann ich mich gar nicht identifizieren. :!: Für mich ist das Hörergebnis entscheidend. Und wenn der 1.Satz des KK Nr.1 op.15 eine Spieldauer von 21Minuten wesentlich uberschreitet, dann sind das erfahrungsgemäß genau die Aufnahmen, die mir gar nicht liegen. ;+) :P :D Von daher habe ich erst gar nicht den Versuch mit Gould/Bernstein gemacht - denn da weis ich ungehört - der würde (diesesmal trotz Bernstein, der nicht dafür konnte !!!) scheiteren ....

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Daraus kann man halt sehr unterschiedliche Schlüsse ziehen: treu den Gesetzen der Philologie folgen und sekundäre Äußerungen, Interpretationen etc. des Komponisten als nachrangig einordnen. Oder den Notentext als sekundär einschätzen und die Aufführung eines Werks nicht als dessen Realisation auffassen. Oder aufführungshistorische Kontexte stärker berücksichtigen. Oder irgendwas dazwischen.

    Genau, deshalb schrieb ich ja auch, dass man "mit guten Gründen zu ganz verschiedenen Ergebnissen" kommen kann.

    Es ist aber m.E. problematisch, beim einen Punkt auf konkrete Tempo-/Vortragsbezeichnungen zu pochen, beim anderen Punkt solche Bezeichnungen aber mit Verweis auf die schwankende Komponistenintention zu verwerfen.

    Ich finde das durchaus berechtigt, wenn der eine Punkt Bestandteil der Komposition ist und der andere nicht. Brahms hat ausdrücklich gefordert, dass Tempomodifikationen, die er während der Einstudierung von Werken in die Partituren eingetragen oder mündlich vorgegeben hat, nicht in den Druck kommen. Er hat konsequent alle Skizzen, Vorstudien usw. zu seinen Werken vernichtet, hat also insgesamt den Einfluss von Hintergrund- und Nebeninformationen möglichst vollständig zu unterbinden gesucht. Er wäre mit einer Veröffentlichung seiner privaten Metronomzahl deshalb niemals einverstanden gewesen. Das ist so ziemlich das Einzige, das wir mit absoluter Sicherheit von der "Komponistenintention" wissen. Auf der anderen Seite hat er in teilweise mehrstufigen Prozessen immer wieder an seinen Tempobezeichnungen gearbeitet, diese verworfen, ergänzt oder korrigiert. Das "maestoso" im Kopfsatz von op. 15 ist ihm also mit Sicherheit nicht einfach so passiert. Noch einmal: Ich sage nicht, dass man deshalb nur zu einem Gouldschen Tempo kommen kann, aber eine plausible, aus der Partitur gerechtfertigte Möglichkeit ist das absolut.

    Zumindest wollte ich das von mir bevorzugte "straffe Tempo" für den Kopfsatz nicht absolut setzen, sondern als eine mögliche Variante ins Spiel bringen. Man könnte eine Interpretation mit der hingeschriebenen und wieder verworfenen Metronomziffer (die ihm, da sie nur im Autograph steht, wahrscheinlich nicht "von guten Freunden aufgeschwätzt" worden ist) mindestens einmal versuchen. Sollen ja nicht alle so machen.

    Eine mögliche Variante ist das ohne Zweifel. Mir ging nur die Tendenz dieses Threads gegen den Strich, ohne irgendetwas Substanzielles zu den Werken selbst zu schreiben, eine bestimmte Interpretationshaltung zu bevorzugen. Wie will man Interpretationen bewerten, wenn man das zu Interpretierende gar nicht zur Kenntnis nimmt?

    Viele Grüße,

    Christian

  • Dazu passt, das Brahms einmal gesagt haben soll, er wäre doch ein Narr, wenn er seine Musik immer gleich spielen würde. Welches Tempo z.B. angemessen ist, hängt ja nicht zuletzt von der Akustik des Saales ab, um nur ein Beispiel zu nennen.

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