Mein Idol erweist sich als miese Figur - was nun?

  • Mein Idol erweist sich als miese Figur - was nun?

    In einem anderen Thread wurde eben über einen Musikwissenschafter diskutiert, der sich strafbar gemacht hat.
    Miese Sache, aber auszuhalten.

    Was aber, wenn man erkennen muß, daß ein Künstler, dessen Werk man über die Maßen schätzt, eine miese Figur, vielleicht sogar ein Verbrecher war?

    Kann man Person und Werk so trennen?

    Um wieviel schöner wäre es, wären unsere Idole allesamt gute Menschen gewesen. Nur das waren sie nicht. Und es gab ja wahrlich absonderliche Gestalten in der Welt der Kunst und Kultur. Ein paar Beispiele, und was daraus nach unserer Rechtssprechung geworden wäre (die Künstler mit Stern wurden tatsächlich verurteilt):
    - Carlo Gesualdo da Venosa, Komponist: Wegen Mordes (oder, bei geschickter Verteidigung) Totschlag im Gefängnis.
    - Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, Maler: Gefängnis, verurteil wegen Mordes, u.U. auch wegen Unzucht mit Minderjährigen.
    - Bartolomeo Tromboncino, Komponist: Gefängnis, verurteil wegen Mordes.
    - Johann Rosenmüller*, Komponist: Wegen Unzucht mit Minderjährigen im Gefängnis.
    - Richard Wagner, Komponist: Gefängnis, verteilt wegen Unterschlagung, Hinterziehung und Betrug.
    - Paul Verlaine, Dichter*: Gefängnis, verurteilt wegen versuchten Mordes.
    - Charles Lutwidge Dodgson, genannt Lewis Carroll, Schriftsteller: Wegen Unzucht mit Minderjährigen im Gefängnis.
    - Jean Genet, Schriftsteller*: Gefängnis, verurteilt wegen Diebstahl und Prostitution.
    - Percy Grainger, Komponist: Gefängnis, verurteilt wegen Pornographie und Inzest.
    - Benjamin Britten, Komponist: Gefängnis, verurteilt wegen Unzucht mit Minderjährigen in zumindest einem Fall.
    Die Liste läßt sich verlängern. Leider.

    Nimmt dieses Wissen um die Schattenseite und Abgründe Einfluß auf unsere Wertschätzung? Der deutsche Schriftsteller Hanns Henny Jahnn ging soweit, daß er jeglicher Kunst und Kultur ihren Rang absprach, die mit Menschenleben erkauft wurde. Er ließ etwa die Pyramiden nicht als Meisterwerke antiker Architektur gelten, weil (nach damaliger Auffassung) bei ihrem Bau Sklaven ums Leben gekommen waren. Ist Jahnns Postulat überhaupt realistisch?
    Dem italienischen Diktator Mussolini wird das Bonmot zugeschrieben: "Italien, das bedeutet die Borgia, Blut, Mord, aber auch da Vinci und Michelangelo. In der Schweiz nichts als Frieden. Und was haben sie hervorgebracht? Käse mit Löchern."

    Und wo sind unsere eigenen Grenzen? Wenn sich herausstellte, daß Walter Sickert wirklich Jack the Ripper war... Oder ist auch das nur historisch zu betrachten?
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Interessant, gell, es gibt so viele Charakterschweine in der Kulturgeschichte...
    Aber wenn man einen völlig unbedeutenden Komponisten (also wahrlich kein Idol von irgendjemandem) mit der Nazikeule traktieren kann, dann haben wir einen Monsterthread mit 587 Beiträgen.

    :wink:

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Das moralische Dilemma ist wohl so alt wie die Künste selbst und keineswegs auf schwere Verbrechen begrenzt. Eher im Gegenteil: schäbiges Verhalten im Kleinen sollte eigentlich auch auf das Werk abfärben, tut es aber nicht immer, und man kann lange darüber streiten, ob das ein Glück ist oder nicht.

    Beispiele gefällig? Ein Sokrates hat es immerhin noch geschafft, seine Frau Xanthippe als die Schuldige in dem, sicher durch sein kontinuierliches Desinteresse an den notwendigen Dingen des Alltags von ihm nicht weniger als von ihr provozierten, dauernden Ehestreit darzustellen. Kaiser Nero hingegen hatte das Pech, dass seine Kunst, wie groß oder gering sie auch immer gewesen sein mag, nur durch den Filter der posthumen Verurteiler seines Lebenslaufes verzeichnet wurde. Beethoven und Goethe scheinen recht arrogante Kotzbrocken gewesen zu sein, und Puccini bewegte sich in seinem realen Leben, ganz im Gegensatz zu seinen Werken, nicht nur am Rande der Frauenverachtung. Die Beispiele sind Legion. Darf man Mendelssohn, Schumann oder Mahler nicht mehr hören, weil sie den Frauen, die ihnen nahe standen, die Selbstverwirklichung des eigenen Komponierens verboten? Immerhin haben sie Menschen verachtet, die sie angeblich besonders liebten.


    Noch der Kritiker Brooks Atkinson hat in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts angesichts des, von Richard Rodgers komponierten, anrüchigen Stoffes über den Gigolo PAL JOEY das generelle Verdikt zu verhängen versucht, aus einer faulen Quelle könne kein klares Wasser sprudeln. Es half nichts, denn das Wasser dieses genialen Musicals erwies sich doch als eminent genießbar.

    Wo also wird die Kontamination eines Werkes durch eine Biographie unerträglich? Wohl vor allem dort, wo das Werk selbst zweitrangig ist. Thomas Bernhard legt da den Finger tatsächlich in eine klaffende Wunde.

    Oder würde jemand, gesetzt den unsinnigen Fall, dass Shaffers These vom Kindskopf AMADEUS stimmte, diesem angesichts seines Werkes nicht noch viel mehr verzeihen?

    Hier hilft, denke ich, nur die individuelle Sicht auf den Einzelfall und keine Generalisierung.
    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Was aber, wenn man erkennen muß, daß ein Künstler, dessen Werk man über die Maßen schätzt, eine miese Figur, vielleicht sogar ein Verbrecher war?

    In etwas allgemeinerer Form hatten wir dieses Thema ja schon einmal: Musik verstehen: Ist biographisches Wissen wichtig oder entbehrlich?.

    Wenn ich die dort gestellte Frage mit "Letzteres" beantworte - und ich neige dazu, denn für mich zählt das Werk, nicht der, der es schuf -, ist meine Antwort auf die hier gestellte Themenfrage: "Nichts weiter - für mich ändert sich nichts." Würden heute beispielsweise Dokumente auftauchen, die eindeutig bewiesen, daß Claude Debussy ein Doppelmörder war (zwei von ihm verlassene Frauen haben immerhin versucht, sich daraufhin zu erschießen ;+) ) - ja und?

    Wer dagegen Werk und Verfasser in einem unauflöslichen Zusammenhang begreift, hat ein möglicherweise ein Problem mit dem Werk, wenn er erkennen muß, daß der betreffende Komponist/Dichter/Maler usw. ein mieser Mensch war.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Aber wenn man einen völlig unbedeutenden Komponisten (also wahrlich kein Idol von irgendjemandem) mit der Nazikeule traktieren kann, dann haben wir einen Monsterthread mit 587 Beiträgen.

    Wobei ein strammer Nazi samt eindeutig antisemitischer Neigung natürlich auch nicht als Beispiel für tadelloses Verhalten dienen kann, nicht wahr?
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Zitat von Gurnemanz

    ...In etwas allgemeinerer Form hatten wir dieses Thema ja schon einmal: 'https://www.capriccio-kulturforum.de/musiktheorie-m…er-entbehrlich/' Musik verstehen: Ist biographisches Wissen wichtig oder entbehrlich? Musik verstehen: Ist biographisches Wissen wichtig oder entbehrlich?


    Lieber Gurnemanz,

    ja, ähnliche Themenstellung, aber - jedenfalls meiner Ansicht nach - nicht gleich.

    Meinung:
    Ich hatte versucht darzustellen, dass "biographische Dinge" im direkten Zusammenhang mit der Werkproduktion stehen können und somit diese und das Werk "aufhellen" können.

    Grundsätzlich versuche ich Biographie und "Werk" zu trennen, ansonsten dürfte ich keine Musik von z. B. R. Wagner hören oder müsste Aufnahmen (Interpretationen) von z. B. K. Böhm und H. v. Karajan verdammen und verbannen.

    Der "Fall" J. Weismann mit seiner Neuschöpfung "Sommernachtstraum" ist m. E. ein Sonderfall, da dieses Werk ein anderes Kunstwerk negieren sollte; somit die ästhetische Ebene direkt betrifft.

    Bis dann.

  • Wobei ein strammer Nazi samt eindeutig antisemitischer Neigung natürlich auch nicht als Beispiel für tadelloses Verhalten dienen kann, nicht wahr?
    :wink:

    Da sind wir uns alle einig.

    :wink:

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Kaiser Nero hingegen hatte das Pech, dass seine Kunst, wie groß oder gering sie auch immer gewesen sein mag, nur durch den Filter der posthumen Verurteiler seines Lebenslaufes verzeichnet wurde.


    Der hatte wirklich Pech: Zuerst macht ihn sein politischer Gegner Tacitus biografisch fertig, danach nimmt die christliche Geschichtsschreibung Rache... Sueton sagt irgendwo, die Gedichte Neros sollen wirklich gut gewesen sein ("Brüllt, meine Löwen, brüllt, die Christen schmecken so sehr, was zu lang in der Arena lag, schmeckt freilich nimmer mehr"?)

    Worum es mir geht, ist der Umgang mit biografischen Fakten, die eben keine Kleinigkeiten mehr sind - Kleinigkeiten nämlich wie Eifersüchteleien und Brotneid und Bosheitsakte kommen unentwegt in Künstlerkreisen vor; das macht die Sache nicht besser, aber es bleiben nun einmal berufsbildspezifische Lappalien. Aber was, wenn Patricia Cornwell recht hat und Walter Sickert wirklich Jack the Ripper war?

    Doch man braucht ja nicht einmal bis zu dieser Annahme zu gehen: Gesualdo hat immerhin zwei Menschen beseitigt, Verlaine hat glücklicherweise danebengeschossen. Was tun mit Lewis Carroll und Britten, bei denen die Pädophilie zur Triebfeder des Schaffens wird? Kann man da noch mit der nötigen Distanz lesen oder zuhören? Wie weit muß man sich verbiegen, um diese Komponisten noch mögen zu können? Rechtfertigt der Rang eines Kunstwerks am Ende gar ein Vergehen oder ein Verbrechen? Oder muß man, wenn man kann, hier wirklich zwischen Person und Werk trennen? (Wie löst man "Turn of the Screw" von Brittens Pädophilie...?)
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Lieber Edwin,

    Zitat von Edwin

    ...Rechtfertigt der Rang eines Kunstwerks am Ende gar ein Vergehen oder ein Verbrechen?...

    Nein!

    Zitat von Edwin

    ...Oder muß man, wenn man kann, hier wirklich zwischen Person und Werk trennen?...

    Ja!

    Du schreibst von "Idol = Abgott". Wenn man (nicht Du) "Kunstwerk" und Person nicht zu trennen vermag und die Künstlerpersönlichkeit 'gar als persönliches Idol aufbaut, ist die Gefahr groß, dass der individuelle Olymp zusammenbricht.

    Hört sich einfach an, ist es aber nicht: Wie soll man z. B. "gute Propagandamusik" (?) beurteilen, wenn man die Ziele nicht teilt bzw. die Ziele im Gegensatz zu Ethik, Moral und Gesetz damals und/oder heute stehen (s. a. Musik vs. Wort)? Wie beurteilt man sog. Funktionsmusik, wenn sie 'funktioniert', aber die Botschaft abstoßend ist?

    Bis dann.

  • Ich denke viele grosse Künstler waren nicht gerade sympathische Menschen.
    Beethoven z.B. sehr cholerisch und gegenüber Personal nicht gerade sozial eingestellt, eigentlich nicht unbedingt ein Demakrat, mehr ein elitär eingestellter Mensch.

    Ich versuche deshalb weitgehend Mensch und Werk zu trennen.
    Mich findet man deshalb nur bei denen die bei der Musik ausflippen, Backstage beim vorübergehen der Stars gehöre ich nicht zu den wild kreischenden Teenies
    (zugegeben, zu den Teenies schon lange nicht mehr).

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum (Nietzsche)
    In der Tat spuckte ... der teuflische Blechtrichter nun alsbald jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten von Radios übereingekommen sind Musik zu nennen (H Hesse)
    ----------------------------
    Im übrigen bin ich der Meinung, dass immer Sommerzeit sein sollte (gerade im Winter)

  • Zitat

    - Bartolomeo Tromboncino, Komponist: Gefängnis, verurteil wegen Mordes. [...]
    - Richard Wagner, Komponist: Gefängnis, verteilt wegen Unterschlagung, Hinterziehung und Betrug.
    - Paul Verlaine, Dichter*: Gefängnis, verurteilt wegen versuchten Mordes.
    [...]


    Seid ihr empfindlich! Habe mal die Unzucht- und Pädophilenfälle herausgenommen, und schon ist es wenigstens pc oder zumindest nicht mehr pi :wink:

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

  • Ach, und


    Zitat

    weitgehend Mensch und Werk zu trennen.


    das glaube ich gegenwärtig keinem.

    Aber für eine Analyse o. dgl. WÄRE es OK.

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

  • Kann man Person und Werk so trennen?


    lieber edwin,

    mein lebensmotto war, ist und bleibt "nicht was einer ist, sondern wie einer ist, ist wichtig". danach versuch ich zu leben.

    das bedeutet, daß einer ein mörder sein kann. wenn er aber ein schönes schauspiel geschrieben hat, will ich es doch sehen.
    auch wenn er mich vllt sehr enttäuscht hat. er ist ja ein mörder, hat aber die gabe des schreibens bekommen. :yes:

    lg, paul

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Ich will mit verbrecherischen Typen und Typinnen grundsätzlich nix zu tun haben, weder im Leben noch in der Kunst,
    Allenfalls als Patienten, wenn ein gewisser Grad der Einsicht erreicht ist. Menschen, die genug Menschen sind, ihre Untaten als solche zu empfinden, zu bereuen und versuchen, sich mehr oder weniger erfolgreich zu bessern, sind natürlich ausgenommen. Ich hab ansonsten genug mit den Folgen diverser Verbrechen für die Opfer zu tun, als mich da nciht solidarisch zu fühlen. Und mir ist Jahnns Postulat, so unrealistisch es auch dünken mag, serh sympathisch.
    Auch wenn ich das nciht konsequent umsetze- leider. :fee:

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • die meisten bedeutenden Komponisten waren und sind wahrscheinlich äußerst unsympathische Personen z.B. Antisemiten, Rassisten, karrieregeil, frauenfeindlich (Bruckner), autoritär (z.B. Schönberg), opportunistisch, ideologisch verstrickt im Machtapperat der Politik und im extremsten Fall eben Verbrecher; im weniger extremen Fall rücksichtslose Egomanen z.B. Gustav Mahler.

    Es gibt keinen Grund das unter dem Teppich zu kehren, also z.B. im Falle Wagners, Pfitzners oder E.H. Meyers (während seiner DDR-Karriere); und andererseits ebensowenig Grund aus bedeutenden Tonkünstlern irgendwelche Illusionen oder Leitbilder bzw. Idole sich zusammen zu nageln.

    Letztlich interessiert mich das Werk und kaum bzw. überhaupt nicht die Person von z.B. Pfitzner oder E.H. Meyer (beide haben großartige Musik geschrieben) ...
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Vielleicht sollte ich mal provokant einwerfen:

    Normale Menschen sind langweilig

    Mal sehen, was daraus wird.

    Also: Wer sich einmal in China die Terrakotta Armee live angesehen hat, oder auf der Mauer stand, oder in Ägypten oder auch Mexiko die Pyramiden (kenne ich beide noch nicht) betrachtet, kann der "vergessen", daß zur Schaffung all dieser Kunstwerke mindestens zwei Dinge notwendig waren? Größenwahn und jede Menge toter Menschen?

    Was ich damit sagen will: Ich denke, große Kunst kann nur von "kranken" (im Sinne unserer "gutbürgerlichen" Empfindung) Menschen geschaffen werden. Und daher halte ich es für absolut notwendig, zwischen Werk und Künstler zu trennen. Ja, man muß auch wissen, wie der Künstler war, denn "alles" darf man im Sinne der Kunst nicht durchgehen lassen!

    So, mal sehen, wie provokant das hier aufgefasst werden wird.

    Matthias

    "Bei Bachs Musik ist uns zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf." (Friedrich Nietzsche)
    "Heutzutage gilt es schon als Musik, wenn jemand über einem Rhythmus hustet." (Wynton Marsalis)
    "Kennen Sie lustige Musik? Ich nicht." (Franz Schubert)
    "Eine Theateraufführung sollte so intensiv und aufregend sein wie ein Stierkampf." (Calixto Bieito)

  • und Puccini bewegte sich in seinem realen Leben, ganz im Gegensatz zu seinen Werken, nicht nur am Rande der Frauenverachtung.

    Mit ein Grund, wieso ich viele Opern nicht mag, ist oft auch, dass Frauen eher als dumm dargestellt werden, als Wesen, die den Männern gefallen müssen. Ich denke z.B. an die Senta aus "Der fliegende Holländer"... ich meine, da verkauft ihr Vater seine Tochter einfach so an den Holländer ... aber nicht, dass sie sich aufregen würde, nein! Rein zufällig sitzt die zu Hause und träumt davon, für diesen unbekannten Menschen zu sterben. Vielleicht hat man sich zu der Zeit die ideale Frau vorgestellt? Den Männern treu ergeben und fügsam, wenn sie an andere verkauft werden?

    Die Agathe im Freischütz ist ja genauso, die tut eigentlich nichts anderes als die ganze Oper über herumzuheulen, zu schwärmen und ans Heiraten zu denken. Dass sie dabei eigentlich als Preis für ein Probeschießen dient, scheint ihr relativ egal zu sein.

    Auch viele anderen Frauendarstellungen aus Opern stoßen mir eher sauer auf, als dass sie mich unterhalten, und ich frage mich, wieso vertont ein Komponist sowas auch noch?


    Zum Thema Künstler und Werk trennen:

    Als ich die Oper "Hänsel und Gretel" schon eine ganze Zeit kannte, sah ich den Komponisten und dieses Werk als eine Art Gesamtkunstwerk, wo alles gepasst hat. Die Oper, die Musik, sein Aussehen, die alten Fotos auf denen er so gebildet wirkt und alles ... und dann erfahre ich, dass er nach einer Spanienreise mit einer luetischen Infektion, ausgelöst durch Syphillis, todkrank nach Hause kam! Was hat der Mann dort bitte gemacht??
    Diese Information hat eine ganze Zeit meine Sicht auf die Oper verändert, das passte gar nicht in mein Bild, das ich vorher hatte. Beim Hören musste ich immer dran denken, aber mit der Zeit ging es eigentlich weil mir das Werk so gut gefällt, dass ich über solche Dinge hinweggesehen habe.

  • Aber was, wenn Patricia Cornwell recht hat und Walter Sickert wirklich Jack the Ripper war?

    Das wird man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr klären können.

    Was tun mit Lewis Carroll und Britten, bei denen die Pädophilie zur Triebfeder des Schaffens wird?

    Kann man das bei Carroll in dieser Bestimmtheit sagen? Meines Wissens wird bis heute hin- und hergeforscht, wie Carrols Fotografien von (auch) nackten Kindern (kultur-)historisch einzuordnen sind. Ich dachte immer, dass es in der viktorianischen Zeit eine breitere Strömung gab, "Schönheit" und "Unschuld" mittels nackter Kinderkörper darzustellen (was ja wiederum kunsthistorisch auch nicht aus dem "Nichts" kam...). Über Vorwürfe, dass Carroll gegenüber den Kindern übergriffig wurde, weiß ich nichts. Gab es da was in dieser Richtung? Und wie stünde es in diesem Zusammenhang mit Egon Schiele?

    Ich musste eben übrigens an Miles Davis und an James Brown denken. Beide sind auffällig durch Gewalt an ihren Ehefrauen geworden. Ihre Musik möchte ich keinesfalls missen, besonders die des Erstgenannten kann ich gar nicht aufgeben, weil sie mir seit fast Zweidritteln meines Lebens so viel bedeutet.

    Ich fürchte, es ist halt so wie normalen Leben: Der Mensch ist ein Verdrängungswesen. Er weiß, dass Unterhaltungselektronik unter perversen Umständen in China zusammengezimmert wird. Er weiß, dass Kleidung in Südostasien unter erbärmlichsten Umständen produziert wird. Er ist im Prinzip angewidert von der Massentierhaltung. Trotzdem bestellt er per iPhone online aus dem H&M-Katalog. Und kauft sich anschließend ein Wiesenhof-Hähnchen...

    Vielleicht spielt auch der zeitliche Abstand eine Rolle? Der Schauspieler Mel Gibson hat es derzeit schwer, noch einen Fuß auf den Boden der Hollywood-Industrie zu bekommen nach seinen Alkohol-Eskapaden, antisemitischen Tiraden und Ausbrüchen häuslicher Gewalt. Das alles passiert aber hier und jetzt und ist dank der Massenmedien und des Internets allseits bekannt. Gesualdos Musik hat Jahrhunderte überdauert, über seine Vergehen wissen wahrscheinlich die wenigsten Bescheid. Und falls doch, mag man vielleicht denken: Meine Güte, das Ganze liegt mehr als 400 Jahre zurück, der ("schlechte") Mensch ist längst gegangen, sein von den "schlechten" Taten unabhängiges Werk ist aber immer noch da und hat sich gelöst und emanzipiert.

    Wahrscheinlich ist so eine Bewertung immer eine ganz individuelle Frage der Abwägung. Und selbst bei jedem Einzelnen wird diese noch voller Inkonsequenzen stecken.

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Nähme man Jahnns Forderung ernst, dürfte man vermutlich keinen einzigen Dom besuchen, denn da sind im Laufe der Zeit aufgrund akuter Mängel in der Arbeitsicherheit (Schuld ausbeuterischer Bischöfe oder Dombaumeisterund leider schwache Gewerkschaften damals) einige Leute umgekommen, auch wenn es keine Sklaven waren. Berufsrisiko und es können sich auch heute nicht alle Menschen aussuchen, ob sie ein solches eingehen wollen.

    Menschenleben galten in anderen Zeiten nicht viel (und außerhalb von Westeuropa ist das an vielen Orten heute auch nicht anders). Man kann es m.E. dem Künstler kaum zum Vorwurf machen, wenn der Fürst oder Kaufherr, der ihn bezahlt hatte, seinen Reichtum durch Sklavenhandel, Ausbeutung oder Verkauf von Bauernburschen als Söldner erworben hatte. Nur weil sich das Großartige, zu dem Menschen fähig sind, nicht immer säuberlich vom Abscheulichen trennen lässt, auf das Großartige zu verzichten, wäre ziemlich bitter.

    Das Zitat von Edwin meine ich in etwas anderer Formulierung aus dem Film "Der dritte Mann" zu kennen. Harry Lime auf dem Riesenrad zu seinem Kumpel. Und was brachten 500 Jahre Frieden in der Schweiz hervor;: die Kuckucksuhr!
    (Raskolnikov argumentierte ähnlich... man könnte doch so vielen Armen mit dem Geld helfen, wenn man die alte Hexe erschlüge...)

    Mich wundert allerdings etwas, dass hier manche anscheinend kaum zwischen Mörder, Knabenschänder usw. einerseits und "cholerisch und schwierig im Umgang", "hat seiner Frau verboten zu komponieren", "Schürzenjäger" andererseits unterscheiden mögen. Es mag ja fair sein, nicht vorschnell zu urteilen, aber ich sehe hier schon erhebliche Unterschiede. Selbst wenn vielleicht in den entsprechenden Epochen andere Sitten geherrscht haben mögen, oder nicht mehr rekonstruierbar ist, ob es sich um Mißbrauch oder einvernehmliche sexuelle Handlungen mit einem 16jährigen oder so gehandelt haben mag.

    Ich befasse mich eher selten näher mit Biographien, insofern meine ich schon, Werk und Mensch trennen zu können (und sei es aus bloßer Ignoranz gegneüber dem Menschen). Ob man geschockt ist, hängt ja nicht nur davon ab, ob man das Oeuvre schätzt, sondern auch, ob man ein Bild der historischen Person hat. Ich habe zB kein besonders klares Bild von Händel, obwohl ich seine Musik sehr schätze und kein "emotionales" Verhältnis zu der Person. Wenn nun herauskäme, dass der sich an Kindern vergriffen hätte (man weiß praktisch nichts über seine sexuelle Orientierung, was heutzutage ausreicht, ihn als höchstwahrscheinlich schwul einzuordnen, non sequitur, aber egal, er hätte ebensogut auch pädophil sein könne, sofern das damals überhaupt unterschieden wurde), würde mich das zwar schockieren, aber doch nur sehr theoretisch, weil ich eh kein rechtes Verhältnis zu der Person habe. Bei Beethoven wäre das etwas völlig anderes. Sicher würde ich nicht weniger Beethoven hören, aber das wäre ein gewisser emotionaler Schock, weil ich hier ein deutlicheres Bild von der Person zu haben meine und diese, zumindest als ich jünger war, sehr bewundert habe.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)


  • Ich fürchte, es ist halt so wie normalen Leben: Der Mensch ist ein Verdrängungswesen. Er weiß, dass Unterhaltungselektronik unter perversen Umständen in China zusammengezimmert wird. Er weiß, dass Kleidung in Südostasien unter erbärmlichsten Umständen produziert wird. Er ist im Prinzip angewidert von der Massentierhaltung. Trotzdem bestellt er per iPhone online aus dem H&M-Katalog. Und kauft sich anschließend ein Wiesenhof-Hähnchen...

    Ein zentraler Unterschied ist aber, dass ich in diesen Fällen entsprechen handeln und evtl. auf Verbesserung dieses Zustandes hin wirken könnte. Ich kann möglichst selten neue und insgesamt wenig Elektronik kaufen (oder in manchen Fällen auch solche, die nicht made in China ist), kann gar kein Fleisch essen, oder Bio kaufen usw.
    Aber ich kann nichts mehr daran ändern, dass Puccini ein Schürzenjäger war und XY seine Frau geprügelt hat und ich finde es ziemlich absurd, jemandem zu unterstellen, er würde Gewalt gegen Frauen nicht angemessen verurteilen, weil er weiterhin Miles Davis hört und diesen Künstler hochschätzt... Es hilft auch keiner geprügelten Frau (und bessert keinen Frauenprügler), wenn ich aufhöre, Miles Davis zu hören..

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

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