Miles Davis - Ein Jazzleben im Spiegel seiner Aufnahmen
In einem früheren, versiegenden Forum diskutierten Teilnehmer über die Frage, wer denn die bedeutendste Persönlichkeit des Jazz gewesen sein mag. Mein Plädoyer führte ich seinerzeit für Miles Davis. Ich stelle es (leicht modifiziert) zur Kenntnis hier noch einmal ein:
Betrachten wir zunächst die Zeitspanne seines Wirkens: Die ersten relevanten Aufnahmen stammen aus der Mitte der 40er Jahre, die letzten entstanden Ende der 80er. Macht also einen Zeitraum von etwa 45 Jahren. Das kriegen zwar manch andere Jazzmusiker auch hin, so sie denn alt genug werden. Der wunderbare Sonny Rollins legte gerade mit seinen Deutschland-Konzerten Zeugnis davon ab. Miles Davis aber nutzte diese Zeit, um immer wieder zu neuen Ufern aufzubrechen.
Folgt man seinem grenzenlosen Ego, so hat er seit dem Bebop nahezu alle neuen Daseinsformen des Jazz erfunden. Folgt man seinen Kritikern, so hat er sich als Trittbrettfahrer auf jeden neuen Zug willentlich hinauf geschwungen. Ich finde, er hat (abgesehen vom Free Jazz) in allen Stilen des Jazz ab den 40er Jahren Maßstäbe gesetzt, auch wenn er nicht immer der erste an Bord eines neuen Zuges war.
Beim Bebop um Parker, Monk und Gillespie war er mittendrin. Lehrjahre sozusagen. Während die meisten Musiker jener Zeit in den Klischees und Patterns einfroren, die Blues-Schemata in immer schnellere und extremere Höhen führten, seilte sich Miles Davis ab. Dank Gil Evans und Gerry Mulligan entstand "Birth of the Cool", Meilenstein des Cool Jazz. Kaum dort etabliert, scharte er Bebopper der ersten und zweiten Generation um sich, um auch im Hard Bop der 50er wichtige Akzente zu setzen. Den Weg in die Freiheit ebnete er zunächst gemäßigt im modalen Jazz der "Kind of Blue"-Jahre, später dann mit seinem Quintett der 60er um Wayne Shorter und Herbie Hancock. Ende der 60er war schwarze Musik dann en vogue: Jimi Hendrix, Sly and the Family Stone u. a. war vorbehalten, was Davis immer wollte: Anerkennung. Er elektrifizierte seine Musik, schuf mit "Bitches Brew" und vielen folgenden Live-Aufnahmen Meilensteine des Rock-Jazz, trat auf der Isle of Wight auf und wurde endgültig zum Superstar. Dann die gesundheitliche Auszeit und ein Comeback Ende der 70er bis zu seinem Tod, das manch minder gelungenes Projekt hervor brachte, aber seine größte Stärke noch einmal offenbarte: Die Fähigkeit, mit seiner Vision des Musizierens Stars zu gebären! Für mich ist das ein entscheidendes Kriterium: Wann immer Davis auf dem Zenit seines Ruhmes stand, langweilte er sich musikalisch und suchte nach frischem Blut, das in ihm neue Lebensgeister wecken sollte. Doch egal, wen er sich suchte oder welche neue Richtung eingeschlagen wurde, in der Art des Musizierens blieb er sich treu.
Die Talente bei ihm hatten die größtmöglichen Freiheiten. Nur die, die sie nicht nutzen konnten, scheiterten. Nahezu alle wuchsen aber bei ihm, trotz seiner menschlich manchmal grenzwertigen Art. Mir sind eigentlich nur Bassist Dave Holland, Saxophonist Dave Liebman und Pianist Keith Jarrett bekannt, die in seinen Gruppen nicht zurecht kamen, weil sich ihre Vorstellungen nicht mit denen des Zeremonienmeisters deckten. Die anderen, die die Davis-Schule erfolgreich durchliefen, mag man kaum aufzählen: Es würde nicht enden.
Dabei war Davis doch zuallererst Trompeter. Und in diesem Bereich war die Konkurrenz groß. In den 40ern blies Dizzy Gillespie ihn durch die Wand, in den 50ern war Clifford Brown der instrumental bessere. Danach kamen junge Wilde wie Lee Morgan oder Freddie Hubbard und später in den 80ern musste man einem Wynton Marsalis ein stupendes instrumentales Können bescheinigen, an dem sich Davis nie hätte messen können. Aber auch nicht hätte müssen. Wofür andere ganze Tonkaskaden brauchten, das machte Davis mit ein oder zwei Tönen, manchmal gar einfach mit - einer Pause! Geschichten erzählen, sie wenden und neu aufnehmen, Stimmungen erzeugen und diese an- und abschwellen lassen - das war die große Magie von Miles Davis, der sich für diese Form des Spielens immer nur die besten Talente holte.
Zähle ich die Anzahl an großen Plattenaufnahmen verschiedenster Epochen, höre ich die nervöse Spannung von fast fünf Jahrzehnten Live-Konzerten am Rande des Abgrunds, ohne Netz und doppelten Boden, sehe und freue ich mich an der Legion geförderter und ins Rampenlicht katapultierter Musiker und ich spüre seine Wirkung als selbstbewusster schwarzer Musiker in einem Amerika, in dem das nicht selbstverständlich war, so komme ich zu dem Schluss, es mit Miles Davis mit einer besonderen, herausragenden Musikerpersönlichkeit zu tun zu haben.
Die Antworten darauf waren kontrovers und spiegelten oftmals eines wider: Die einen fanden eine bestimmte Schaffensphase großartig, kamen mit einer späteren nicht so klar. Andere wiederum mochten gerade diese und empfanden Davis in früheren Zeiten eher als Trittbrettfahrer.
Hier würde ich gern Diskussionswilligen Raum dafür geben, Miles Davis anhand seiner Aufnahmen zu würdigen oder aber auch zu kritisieren. Ich selbst werde mich bald bemühen, unbedingt empfehlenswerte CDs vorzustellen aber auch solche, die ich weniger gelungen finde. Bis dahin freue ich mich über die Einschätzungen anderer Jazzfreunde.
LG
C.