Mahnkopfs Thesen zur Harmonik heute

  • Mahnkopfs Thesen zur Harmonik heute

    Die Texte von Claus-Steffen Mahnkopf geben stets viel Stoff zur Diskussion. Allein dieser Ausschnitt aus Thesen zur Harmonik heute

    Zitat

    Die Verwendung von nur zwölf Tönen heute wirkt sowenig atonale wie die tonalen Werke zur Zeit der Atonalität. Daher ist es, und das seit Jahrzehnten, die Stunde der Mikrotonalität. Ob Drittel-, Viertel-, Sechstel-, Achtel-, Zwölfteltöne oder irreguläre Skalen, etwas davon ist unverzichtbar. Das macht beispielsweise Klaviermusik heute fast unmöglich. Doch Mikrotonalität, will sie atonal sein, darf nicht in Retonalisierung zurückfallen. Das droht, wenn man die intervallischen Strukturen der Obertonreihe in einem feineren als zwölftönigen Intervallraster zu fassen sucht. Der Spektralismus wird oder bleibt dann atonal, wenn er die spektralen Informationen ins Dissonante - mit Verzerrung, Versetzung, Ajoutierung, mithin mit der historischen Atonalität vergleichbaren Mitteln - uminterpretiert. Eine Imitatio naturae widerspräche der Wahrheitsästhetik der modernen Welt.

    Da wird viel behauptet und v. a. stillschweigend vorausgesetzt, u.a.:

    a) Heutige Musik muss heutige Menschen in einem Ausmaß verstören, wie es die atonale Musik um kurz nach 1900 getan hat. -- Frage: Ist das so und v. a.: ist das überhaupt noch möglich?

    b) Klaviermusik kann heute nicht mehr geschrieben werden. -- Ist es an der Zeit für neue Klaviere? Hilft da die Elektronik? (Stockhausen betrachtete ja den Synthesizer als Nachfolger des Klaviers wie dieses als Weiterentwicklung des Cembalos)

    c) Die Beschränkung auf zwölf Töne hat in der heutigen atonalen Musik keine Berechtigung. -- Hatte sie es jemals? Mit welcher Berechtigung konnten sich Schönberg und Webern auf 12 Töne beschränken, nachdem sie die Tonalität verlassen hatten? (v. a. mit welcher Berechtigung, die genau in diesem Moment griff und heute nicht mehr gilt?)

    d) Es existiert eine moderne Wahrheitsästhetik, die tonale Musik für "unwahr" erklären muss. -- Widerspricht an den Intervallverhältnissen der Obertonreihe orientierte und diese (quasi) unverändert übernehmende Musik (welches tonale Musik mit einbegreift) der Wahrheitsästhetik der modernen Welt oder ist es bloß die Wahrheitsästhetik eines Claus-Steffen Mahnkopf?

    e) (Noch wichtig, dafür muss man ein bisschen weiter lesen:) Mikrotöne müssen unter dem Parameter der Harmonik, nicht als Farbwerte betrachtet werden. -- Der Begriff der Harmonik wäre im Zusammenhang mit atonaler Musik zu hinterfragen. Kann es überhaupt eine mikrotonale, nicht-tonale (für das Ohr verbindliche, also nicht bloß auf dem Papier konstruierte) Harmonik geben?

    Usw.

    Ich bin gespannt auf eure geistigen Ergüsse. :thumbup:

  • Ich finde ja Mikrotonalität nicht so sehr als Einführung völlig neuer Skalen interessant (ob das jetzt eine Achtundzwanstigstel- oder Neunundzwanzigsteltonskala ist, kann man mE eh mit dem Gehör nicht mehr erfassen) sondern als leichte (oder auch stärkere) Verstimmung von relativ einfachen Intervallen. Damit lassen sich nämlich sehr schöne Klangwirkungen erzielen - übrigens gerade auch mit Synthesizern, bei denen kann man nämlich den Verstimmungsgrad sehr genau justieren.

    Beispiel:

    http://u1.ipernity.com/9/92/34/320923…in%20Anfang.mp3

    :)

    Mahnkopf selber scheint mir eine Art später Nachfahre der Adorno-Generation zu sein, wo man sich ja mit großem Engagement bemühte, Musik auf tonaler bzw. konservativer Basis als illegitim zu brandmarken.

    Interessant wäre weiterhin, was er unter "atonal" versteht, wenn er schreibt: "Die Verwendung von nur zwölf Tönen heute wirkt sowenig atonal wie die tonalen Werke zur Zeit der Atonalität." Versteht man Atonalität als das Fehlen eines klar heraushörbaren Grundtones, so kann man diese natürlich stets auch mit dem gleichschwebend temperierten Zwölftonsystem erreichen - schon beim Tritonus oder beim übermäßige Dreiklang ist es unmöglich einen Akkord-Grundton zu bestimmen. Für Mahnkopf scheint aber der Begriff "tonal" synonym für "rückwärtsgewandt", "unmodern" oder eben "nicht an moderner Wahrheitsästhetik orientiert" zu stehen. "Atonal" stünde für das Gegenteil. Für ihn sind die Begriffe "tonal" und "atonal" also nicht bloß ästhetische, sondern eindeutig wertende Begriffe.

    Gruß,

    Normann

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Interessantes Thema!

    c) Die Beschränkung auf zwölf Töne hat in der heutigen atonalen Musik keine Berechtigung. -- Hatte sie es jemals? Mit welcher Berechtigung konnten sich Schönberg und Webern auf 12 Töne beschränken, nachdem sie die Tonalität verlassen hatten? (v. a. mit welcher Berechtigung, die genau in diesem Moment griff und heute nicht mehr gilt?)

    Versuch einer Antwort: Ob ein Beschränkung auf 12 Töne heute "berechtigt" ("sinnvoll" gefällt mir besser, weil weniger moralisch) ist, hängt vermutlich davon ab, was der Komponist will. Will er alle möglichen Klangmöglichkeiten erkunden - warum sollte er sich dann die Skala nicht weiter unterteilen (Viertel-, Dritteltöne usw.)?

    Bei Schönberg war es, glaube ich etwas anderes: 1. ging er von der Tradition aus, und die gab eine chromatische Unterteilung wie beim Klavier vor. 2. ging es ihm darum, nach der Loslösung von der traditionellen Harmonik mit den funktionalen Beziehungen eine neue Logik zu finden, um den "musikalischen Gedanken" (ein Begriff, der ihm zeitlebens wichtig war und um den er rang, ohne zu einem definitiven Ergebnis zu kommen) darzustellen. Da ihm klangliche Effekte um ihrer selbst fremd waren - warum sollte er die Skala der 12 Töne erweitern?

    Ich lese gerade das Buch von Mathias Hansen über Arnold Schönberg ("Ein Konzept der Moderne"). Was ich über den "musikalischen Gedanken" oben schreibe, bezieht sich auf die Lektüre dieses spannenden Buchs.

    Mahnkopfs Thesen kenne ich noch nicht, werde dem Link aber folgen und das noch lesen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Da ihm klangliche Effekte um ihrer selbst fremd waren - warum sollte er die Skala der 12 Töne erweitern?

    Na weil die zwölftönige Skala aus der Tonalität erwachsen ist und nur durch diese zu erklären ist, warum man sich auf genau diese zwölf Töne beschränken sollte. In der Tonalität haben genau diese zwölf Töne (inkl. des enharmonischen Zurechthörens durch das Ohr, wodurch es nicht die zwölf gleichstufigen Töne bleiben) ihre "Richtigkeit" und jeder weitere Ton wäre "falsch".
    Wenn man aber den Boden der Tonalität verlässt, sehe ich momentan kein Argument außer Konvention/Bequemlichkeit, sich auf zwölf Töne zu beschränken.

  • Wenn man aber den Boden der Tonalität verlässt, sehe ich momentan kein Argument außer Konvention/Bequemlichkeit, sich auf zwölf Töne zu beschränken.

    Leuchtet mir ein. Heute könnte man ein solches Festhalten als konventionell und bequem ansehen. Aber ob man das rückwirkend auch auf Schönberg in den 1920ern sagen kann? Für ihn bedeutete es viel, aus den Wurzeln der Tradition zu schaffen (seitder Durchsetzung der gleichschwebenden Stimmung um 1700 ist viel große Musik geschaffen worden, die auch in der Tradition der Aufklärung gesehen werden kann). Gerade das haben ihm Eisler, Stuckenschmidt und Boulez dann ja zum Vorwurf gemacht. (Klasse, daß ich meine ganz frischen Leseeindrücke hier so schnell verwerten kann! :D )

    Welche Gründe führen denn Komponisten heute dafür an, daß sie über die 12-Tonskala hinausgehen? Da kenne ich mich überhaupt nicht aus.

    Wahrscheinlich hinkt der Vergleich zu arg, aber ich probier's trotzdem: Die Beschränkung auf 12 Töne ist ebensowenig von der Natur vorgegeben wie die Beschränkung des Alphabets auf 26 Buchstaben. Aber brauchen wir deshalb für neue literarische Kunstwerke neue Buchstaben? Immerhin: Die Diskussion über Tonhöhenmessung hat ja bereits ergeben, daß in der Realtität auch Intonation relativ ist - und sicher auch immer war, auch als niemand daran dachte, die 12-Tonskala erweitern zu wollen.

    Und: Kann man Töne (wie Buchstaben) auch als Zeichen begreifen?

    Doch ich sehe schon, ich muß mich in diese Fragen erst noch näher einlesen, bevor ich Qualifiziertes dazu sagen kann...

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
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    Helmut Lachenmann

  • Die Beschränkung auf 12 Töne ist ebensowenig von der Natur vorgegeben wie die Beschränkung des Alphabets auf 26 Buchstaben. Aber brauchen wir deshalb für neue literarische Kunstwerke neue Buchstaben?

    Der Vergleich ist gut! Denn: die 26 Buchstaben brauchen wir, weil sie für die Laute stehen, aus denen sich die deutsche Sprache zusammensetzt. Wenn man aber nicht mehr in dieser Sprache sprechen wollte, wäre zu hinterfragen, warum man weiterhin genau diese 26 Buchstaben benutzen sollte. Material und Zweck bildeten keine Einheit mehr und außerdem würde das Ergebnis der deutschen Sprache zu sehr ähneln, dafür, dass man eigentlich davon weg kommen wollte.

    Man könnte auch feststellen, dass die Buchstaben nur Chiffren für komplexere Laute sind, die sich aber nur aus dem Kontext (der deutschen Sprache) ergeben. Abstrahiert man nun die Buchstaben von der deutschen Sprache, weist man ihnen je einen abstrakten Laut zu, der sie um ihre phonetische Vielfalt beraubt.

    Man kann das jetzt alles in Analogie zur Musik sehen, wobei die 26 Buchstaben für die 12 Töne stehen und die deutsche Sprache für die Tonalität (die phonetische Vielfalt eines einzelnen Buchstabens je nach Kontext entspricht der eines einzelnen der zwölf Töne innerhalb der Tonalität, je nach harmonischer Funktion).

  • Sorry, das Beispiel hinkt mächtig. Die Buchstaben stehen zwar in Relation zur deutschen Sprache, aber es gibt Laute, die im Deutschen anders graphisch beschrieben werden, wie x=/ks/ (etwa Luchs im Gegensatz zu lat. "lux". Mit dem Repertoire der im deutschen Sprachraum benutzten Buchstaben lassen sich ganz unterschiedliche Sprachen graphisch darstellen. Die Erfindung neuer Buchstaben würde die sprachliche Botschaft unverstehbar machen. Dagegen kann die Einführung von Vierteltönen eine klangliche Botschaft erweitern.

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Interessante Fragen stellst du da, lieber Ralph. Ich fange erst einmal bei der einfachsten an:

    Zitat

    Klaviermusik kann heute nicht mehr geschrieben werden. -- Ist es an der Zeit für neue Klaviere? Hilft da die Elektronik? (Stockhausen betrachtete ja den Synthesizer als Nachfolger des Klaviers wie dieses als Weiterentwicklung des Cembalos)

    Mikrotonale Klaviere gibt es doch. Die wurden schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts für mikrotonal arbeitende Komponisten gebaut, wie Julian Carrillo in Mexiko, Alois Haba in Tschechien (der zeitweilig mit Schönberg verbunden war und viele Schüler hatte, die auch bei Schönberg studiert hatten) und Ivan Wyschnegradsky in Rußland, bzw dann der SU. Das waren 4tel-tönige, 8tel-tönige, 16tel-tönige, bis zu 32tel-tönige. Mit heutiger Elektronik lassen sich aber bereits normale Klaviere so modifizieren, dass man auch mikrotonal spielen kann, sogar auch mit unregelmäßigen Intervallen, relativ leicht mit herkömmlichen E-Pianos + Midi-Computern mit entsprechenden Programmen. Das ist bis in die türkische und chinesische Popmusik auch gar nicht so unüblich. Man braucht also gar keine Synthesizer mehr und hat so auch weniger steril klingende Sounds zur Verfügung.

    Solche so modifizierten E-Pianos konnte ich kürzlich Live erleben und mir anschauen, als ich die konsequent mikrotonal spielende neue Band des Jazz-E-Gitarristen David Fiuczinsky gehört habe (mit Fretless-E-Gitarre, Fretless-E-Bass, Schlagzeug und Utar Artun aus Ankara an mikrotonalen Keyboards). Unter anderem haben sie ein Streichquartett von Julian Carillo in sehr groovigen Elektro-Jazz umgesetzt, aber viel auch einfach nur in chinesischen und türkischen Skalen gespielt. Die neuste, rein mikrotonal gespielte CD von David Fiuczinsky wollte ich sowieso demnächst im Jazz-Forum vorstellen.

    Das bringt mich aber zu weiteren Fragen: Inwieweit sind türkische und chinesische mikrotonale Skalen zwar in etwas anderer Harmonik, als der westeuropäischen, aber wohl im Sinne Mahnkopfs durchaus nur erweiterte Formen relativ traditioneller Harmonik? Inwieweit gilt das sogar noch für 4tel-tönige, 8tel-tönige, 16tel-tönige, usw. Skalen mit regelmäßigen Intervallen? Damit läßt sich ja dann auch wieder recht traditionell komponieren und wenn man sich erst einmal eingehört hat, scheinen mir solche Kompositionen etwa der genannten Komponisten leichter zu hören, wenn sie auch erst einmal fremd klingen, als vieles Zwölftönige.

    Aber Mahnkopf zielt wohl einerseits auf eine Kritik vieler spektralen Werke, in denen dann zwar auch unregelmäßige Intervalle und "irreguläre Skalen" vorkommen, es aber trotzdem irgendwie sehr 'natürlich' klingend erscheint, weniger verstörend, als auch die meisten Werke von Schönberg immer noch für die meisten Hörer, andererseits auf eine Radikalisierung über die Schönberg-Schule im weiteren Sinne hinaus. Habe ich das richtig verstanden?

    :wink: Matthias

  • Ich habe zu wenig bewusste Hörerfahrung mit Mikrotonalität. Aber historisch ist es doch so, dass diese Idee, am prominentesten von Hába, aber auch anderen, etwa gleichzeitig mit Atonalität und 12-Tontechnik aufgekommen ist. Nur hat sich in den 1920ern bis 1940ern keine dominante "Schule" der Mikrotonalität gebildet. Aber sicher nicht, weil es "zu modern" gewesen wäre oder für das "normale" Publikum schräger geklungen hätte als Schönberg.

    Wenn man orientalische Musik mit Mikro-Intervallen hört, klingt das ja nicht unbedingt wie expressive oder gar schneidende Dissonanzen, sondern erstmal ein wenig "schief", wie verstimmte Instrumentente und dann gewöhnt man sich irgendwie dran.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Hi Matthias,

    Mikrotonale Klaviere gibt es doch.

    Klar, aber man muss sie ja irgendwie stimmen, d.h. ohne Elektronik entsteht wieder eine bestimmtes Stimmungssystem, was aber keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, da es ja keine verbindliche Sprache mehr gibt. Man müsste also vor jedem Stück umstimmen.

    Mit heutiger Elektronik lassen sich aber bereits normale Klaviere so modifizieren, dass man auch mikrotonal spielen kann

    Deswegen: Ist neue Klaviermusik ohne Elektronik heutzutage so etwas wie Romantik auf Cembalo?

    Habe ich das richtig verstanden?

    Ich denke ja! Meine Frage wäre, ob das überhaupt möglich ist. Nur dann kann es nämlich ein noch aktuelles kompositorisches Ziel sein. Radikalität ist ja heutzutage immer vom Zuhörer abhängig. Während Schönbergs atonale Werke damals auf einen "kulturellen Stand", eine Generation wirkte, die diese in etwa einheitlich rezipierte, d.h. deren Radikalität geschlossen wahrnahm, kann sich eine "radikale" Wirkung auf die meisten Konzertgänger Neuer-Musik-Konzerte gar nicht mehr einstellen, da diese Menschen bereits mit allem rechnen. Der letzte Skandal war vielleicht Rihm in den 70ern, als schon 40 Jahre her...? Andererseits kann man vielen professionellen Musikern (welche sich mehr im klassisch-romantischen Repertoire beheimatet fühlen) eine Zwölftonstilkopie vorspielen und sie empfinden es als radikal. Na gut, Zwölftonstilkopie ist vielleicht übertrieben, aber jedenfalls jede Menge Musik, die Mahnkopf und andere als ultra-konservativ empfinden würden.

    Da also keine Musik mehr auf eine größere Hörerschaft gleichermaßen radikal wirken kann und die Hörerwartungen so weit auseinander triften, stellt sich mir die Frage: Kann überhaupt Musik heute noch radikal sein und wie müsste solche Musik klingen?

    Wer will, kann ja mal (YouTube hilft...) etwa "Medusa" von Mahnkopf mit "Dis-Kontur" von Rihm vergleichen und für sich selbst überlegen, wie (unterschiedlich) radikal beide Stücke auf ihn wirken.

  • Wer will, kann ja mal (YouTube hilft...) etwa "Medusa" von Mahnkopf mit "Dis-Kontur" von Rihm vergleichen und für sich selbst überlegen, wie (unterschiedlich) radikal beide Stücke auf ihn wirken.

    Habe ich gerade mal gemacht.

    Mahnkopf Medusa.Concert für Oboe und Orchester; "

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    Rihm Dis-Kontur: "

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    "

    Mit Mahnkopfs Oboenkonzert habe ich ein sehr tolles Werk neu kennengelernt, aber so 'radikaler' klingt es für mich auch nicht, nur sehr anders, als die eher in fremder Archaik klingende Rihm Komposition, die ich durchaus auch sehr schätze. Mahnkopf klingt demgegenüber für mich neo-expressionistisch, trotz Mikrotonalität doch eher in der Schönberg-Nachfolge. Die sehr beeindruckende Solo-Oboenstimme könnte über weite Strecken auch eine europäische Free-Jazz-Improvisation sein, etwa der Free Jazz-Oboistin Maud Sauer. Nun hat der europäische Free Jazz auch immerhin bereits über 40 Jahre auf dem Buckel. Gefällt mir sehr gut, aber 'radikaler'?

    Zitat

    Da also keine Musik mehr auf eine größere Hörerschaft gleichermaßen radikal wirken kann und die Hörerwartungen so weit auseinander triften, stellt sich mir die Frage: Kann überhaupt Musik heute noch radikal sein und wie müsste solche Musik klingen?

    Keine Ahnung, vielleicht wie manches von Dror Feiler, der an Serialismus, Spektralismus und Free Jazz anknüpft? Aber auch dessen Anknüpfungen sind deutlich zu hören.

    Insofern fällt uns heute vielleicht wirklich gerade nichts mehr grundstürzend neutönerisch Klingendes mehr ein. Vielleicht ändert sich das wieder. Aber es macht ja auch nichts. Innerhalb oder in kleineren Erweiterungen unserer musikalischen Wahrnehmungsweisen läßt sich ja auch überzeugend Allgemeines, Besonderes und Einzelnes/Singuläres zeitgenössisch und fruchtbar in einem Werk verbinden.

    Das wären auch eher meine Kriterien für überzeugende Werke, wohingegen ich von "Wahrheit" in der Ästhetik zu sprechen für keine gute Idee halte. Philosophische Thesen sind generell me.E. genauso wenig wahrheitsfähig, wie politische 'Linien'. Man kann darüber diskutieren, ob sie 'richtig', 'fruchtbar', in sich kohärent und plausibel argumentiert und nicht nur 'ausgedacht', sondern auch operierbar sind, aber immer bleiben sie abhängig von letztlich politischen, bzw theoriepolitischen Entscheidungen, hier also von der Dezision für möglichst radikal Neu-Klingendes.
    Demgegenüber ist es etwa keine Frage der Dezision, festzustellen, dass z.B. die effektiven Reallöhne der unteren Bevölkerungshälfte in den letzten 20 Jahren in Deutschland deutlich gefallen sind. Das ist objektiv, unabhängig vom Betrachter, belegbar, soweit dieser mit ähnlichen wissenschaftlichen Methoden und Definitionen arbeitet. Wer dies mit Rechentricks und Umdefinitionen bestreitet, betreibt keine Wissenschaft, sondern Ideologie.

    Diese für Adorno und seine Anhänger sicherlich "positivistischen" Unterscheidungen würde ich äußerst ungerne aufgeben - und zwar aus einer anti-herrschaftlichen Position. Man landet sonst bei ziemlich autoritären Haltungen, spätestens dann, wenn die eigenen "wahren" Thesen oder Linien zur herrschenden Meinung eines herrschenden Machtblocks georden sind. Wenn man etwa behauptet, eine politische Linie selbst sei wissenschaftlich, so, wie vielleicht einige belegte Annahmen, auf die sie sich vielleicht durchaus stützen kann, dann legt das nahe, es gebe einen One-Best-Way, unabhängig von allen Wert- , oder m.E. besser, Zielentscheidungen, alles andere müsse verhängnisvoll und falsch im Sinne von unwahr und irrational oder höchstens nur partiell raional sein, das beschränkt dann aber nicht nur autoritär und unnötig die Suchrichtungen, sonder der dialektische Witz ist dann, das es selbst in Ideologie und Wissenschaftsferne umschlägt, weil die Annahme eeines One-best-Way sogar schon längst in der Arbeitswissenschaft, aus der sie stammt widerlegt ist und weil Wissenschaft gerade ohne Methodenzwang sich entwickelt. "Wissenschaftlicher Sozialismus" und "sozialistischer Realismus" mit ihrer behaupteten Einheit von wahrer Wissenschaft, Philosophie und Politik haben das gut belegt, dabei warnt Marx vor so etwas in der Vorrede zur französischen Ausgabe des Kapitals ganz explizit. Klar, Adornos Dialektik bleibt negativ: "Das Ganze ist das Unwahre", aber damit wird das Wahre in der Ästhetik zum Vorschein einer negativen Theologie der Versöhnung, "wahr", wenn es die heutige Unversöhntheit repräsentiert, aber gedacht in der Perspektive universaler, d.h. theologischer Versöhnung. Meine Zielperspektiven und sogar meine sozialistische Utopie sind da dann doch wesentlich bescheidener :D. Einen autoritären Bias trotz gegensätzlicher Absichten wird Adornos Haltung dann auch nicht ganz los, in dem es eben die gibt, die näher an der "Wahrheit" sind, obwohl dies letztlich nur auf Dezision beruht.

    :wink: Matthias

  • Fast alle mikrotonalen Stücke die ich kenne teilen zwei grundsätzliche und fatale Schwächen:

    1. Das geschulte Ohr hört in tonaler Musik mehr als nur zwölf unterschiedliche Töne. Auch auf dem gleichschwebend temperierten Klavier wirken Kommata. So klingen verminderte Oktaven anders als große Septimen. Auf Bläsern und Streichern erst recht, weil sie zusätzlich real erklingen. Deshalb gibt es schon in tonaler Musik Mikrointervalle, auch wenn sie nicht als solche notiert wurden. Ich kenne keinen einzigen Komponisten Neuer, mikrotonaler Musik, dem dies bewusst ist! Kurz: Man hört nicht das, was in Wirklichkeit klingt!

    2. Ausgehend von 1: Mikrointervalle als strukturgebende Elemente (und nicht als bloß schräg klingende) sind praktisch nicht präzise genug zu treffen. Mit Ausnahme von elektronischer Klangerzeugung und einigen Flageolettönen gehen die Töne meistens so weit in die Hose, dass man nicht mehr zwischen "soll so klingen" und "muss man sich etwas zurechthören" unterscheiden kann. Wie man ernsthaft von 12tel-Tönen im typischen Neue Musik-Kontext sprechen kann, ist mir schleierhaft.


    Auf den ganzen Rest möchte ich gar nicht weiter eingehen, außer dass Mahnkopf öfter mal Unsinn schreibt.

  • Blöde Frage:

    Wenn man das Tonsystem X ablehnt, kann man mit anderen Argumenten auch das Tonsystem Y ablehnen. Also: Wozu überhaupt ein Tonsystem?

    Folge: Der Komponist setzt die Töne einfach so, wie er es für richtig hält. So wie der Maler die Farben setzt. Der Maler hat ja auch kein System. Oder er hat eins, aber er kommuniziert das nicht. Für den Rezipienten ist das ja irrelevant. Ich sehe mir ja kein Kunstwerk an und überprüfe dabei, ob sich der Maler an irgendein "Farbensystem" gehalten hat.

    Die entsprechenden "systemlosen" (Musik-)Kompositionen werden anschließend elektronisch realisiert. Das hat auch den Vorteil, dass man sich nicht mehr mit irgendwelchen "Interpretationen" befassen muss. Der Komonist legt einfach fest, wie es zu klingen hat.

    Als Hörer würde mich solche "systemlose" Musik wahrscheinlich nicht interessieren. Aber das kann dem Komponisten ja egal sein. Jedenfalls denke ich, dass es ab einem gewissen Abstraktionsgrad keinen Sinn mehr hat, über die Vor- und Nachteile diverser Tonsysteme zu diskutieren, weil der Hörer das eh nicht erkennt. Dann ist es besser, der Komponist verhält sich wie ein Maler: Nicht reden, einfach machen.


    Thomas

  • 1. Das geschulte Ohr hört in tonaler Musik mehr als nur zwölf unterschiedliche Töne. Auch auf dem gleichschwebend temperierten Klavier wirken Kommata. So klingen verminderte Oktaven anders als große Septimen

    Das verstehe ich nicht - warum soll die Septime C-H auf dem (gleichschwebend gestimmten) Klavier anders klingen als die verminderte Oktave C-cb ? Für beide Töne benutzt man es schließlich dieselbe Taste und Saite...

    Gruß,

    Normann

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Das verstehe ich nicht - warum soll die Septime C-H auf dem (gleichschwebend gestimmten) Klavier anders klingen als die verminderte Oktave C-cb?

    Die große Stärke der Tonalität ist doch: Ein Ton klingt nicht als absoluter Tonpunkt im luftleeren Raum, sondern immer im Verhältnis zum ihn Umgebenden. Den Ton "gis" gibt es also streng genommen nicht: Es ist nur eine Konvention der Notation, welche mehrere Tonqualitäten vereinfachend unter einem Begriff zusammenfasst. In Wahrheit gibt es aber nur Tonkomplexe, und erst durch das Zusammen- bzw. Nacheinanderklingen vieler Töne erhält der Einzelton seine spezifische Qualität: Das "gis" also als Durterz in Bezug auf "e" bzw. als 7. Stufe in Bezug auf die Tonleiter über "a"; oder etwa als erniedrigte 6. Stufe in Bezug auf "c" und damit orthographisch korrekt als "as" notiert. Aber auch das "as" 4. Stufe in "es" ist natürlich ein anderes.
    Natürlich klingen alle diese Töne auf dem Klavier gleich: Der Ton entsteht aber nicht als Ton am Klavier und gelangt als Objekt in unser Ohr, sondern er ist ja erst Produkt unseres Wahrnehmungsmechanismus. Und unser Ohr hört ihn sich dann eben zurecht. Deswegen verstehen wir die Töne in tonaler Musik auch, wenn sie falsch intoniert werden (etwa in Amateurorchestern) – etwas, was in mikrotonaler Musik niemals möglich wäre.

  • Es erklingen dieselben Frequenzen, das ist richtig.

    Ich glaube, der Klassiker für den von Derjayger gemeinten Effekt ist die neapolitanische Kadenz T - sN - D - T. Nehmen wir sie in C-Dur, also C-Dur - Des-Dur (als Sextakkord) - G-Dur - C-Dur.

    Beginnt im vierstimmigen Satz der Sopran mit c'', so kann die zweite Note etwa ein des'' sein und die dritte ein h'. (Die vierte wäre dann bspw. wieder c'').

    Das Ohr hört den Übergang von der zweiten zur dritten Note nie und nimmer als Sekund, sondern als "seltsame" Terz. Trotzdem sind es natürlich nur zwei Halbtonschritte, also ein Ganzton ...

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Das verstehe ich nicht - warum soll die Septime C-H auf dem (gleichschwebend gestimmten) Klavier anders klingen als die verminderte Oktave C-cb ? Für beide Töne benutzt man es schließlich dieselbe Taste und Saite...


    ... dieselbe Taste und Saite vielleicht - aber nicht denselben Fingeraufsatz auf bundlosen Saiteninstrumenten. ;+)
    Wie EinTon schrieb, ist das menschliche Ohr nicht auf die (künstliche) temperierte Stimmung, die Einteilung der Oktave in 12 gleichstufige Halbtöne, geeicht. Denn die akustische Reinheit - wie sie sich stets in den Obertönen manifestiert - führt dazu, dass manche Intervalle musikalisch unbrauchbar sind, da sie um einen kleinen Teil, das sog. "pyhthagoreische Komma", höher sind als andere. So sind gis und as unterschiedlich in ihren Frequenzen: unmöglich für eine Klaviatur. (Im Mittelalter gab es Orgeln, die tatsächlich 2 Tasten für diese Töne aufwiesen!)
    Wenn man einem Spieler eines bundlosen Streichinstruments zuhört, so wird dieser - ganz automatisch - gis und as unterschiedlich greifen, und man kann es hören, wenn man sich darauf konzentriert. Wir hören so, weil die Obertöne, aus denen sich jeder Ton zusammensetzt, immer natürlich sind und bleiben: sie folgen nicht künstlich gebildeten Stimmungen.

    Wenn der Klavierstimmer von unten nach oben die Klaviersaiten stimmt, muss er von Anfang an die Temperierung beachten - sonst hat er oben schräge Töne. :thumbup:
    Beim Kantelenstimmen - es sind immerhin 38 Saiten - ist das nicht anders. Daher verlasse ich mich auf mein Stimmgerät. :whistling:

    BG
    eloisasti

    Klemperer: "Wo ist die vierte Oboe?" 2. Oboist: "Er ist leider krank geworden." Klemperer: "Der Arme."

  • So sind gis und as unterschiedlich in ihren Frequenzen: unmöglich für eine Klaviatur.

    ...und unter Umständen auch d und d (obwohl nominell derselbe Ton), vorausgesetzt, alle Dur- und Mollakkorde sollen rein klingen:

    "http://de.wikipedia.org/wiki/Reine_Sti…r_zweiten_Stufe"


    Ich bezog mich aber mit meiner Frage ausschließlich auf die Stimmung bei Tasteninstrumenten (und natürlich auch anderen Instrumenten mit fester Stimmung).

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Das ganze macht ja u.a. Streichquartettproben so ungemein nerv..... äh spannend........

    Da hilft nur viel Erfahrung und Geduld im aufeinander zugehen.
    Wer nur Recht haben möchte, ist fehl am Platze.

    Im Quartett muß ich als Cellist z.B. als erstes meine C-Saite auf die E-Saite der Violine einstimmen, da muß ich dann oft Kompromisse eingehen, was die Stimmung meines Instrumentes angeht.

    Und Akkorde aushalten, den gemeinsamen Kompromiss finden, der den Akkord dann sauber erscheinen läßt, das ist schwer.
    Es gibt dann Musiker, welche rein theoretisch Recht haben wollen, solche Musiker meide ich.

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