Schubert: Klaviersonate B-Dur, D. 960

  • Schubert: Klaviersonate B-Dur, D. 960

    Schuberts letzte Klaviersonate entstand zusammen mit ihren Schwesterwerken in c-moll und A-Dur in seinem Todesjahr 1828, vermutlich zwischen Mai und September. Je nach Interpretation dauert sie unter 40 (z.B. Brendel) bis fast 60 (Afanassiev) Minuten und ist damit Schuberts umfangreichstes Klavierwerk, in dieser Hinsicht (und nur in dieser Hinsicht) nur noch vergleichbar mit Beethovens Hammerklaviersonate op. 106, mit der sie auch die Grundtonart gemeinsam hat.

    Erster Satz, Molto moderato
    Schon anhand der oben genannten Zeitunterschiede kann man erahnen, dass die B-Dur-Sonate in einem ungewöhnlich breiten Tempospektrum interpretiert wird. Das betrifft neben dem Finale vor allem den ersten Satz, dessen Tempovorschrift „Molto moderato“ sehr verschieden ausgelegt wird: Ist hier unausgesprochen „Allegro molto moderato“ gemeint? Oder gerade nicht „Allegro“? Svjatoslav Richter, der seinerzeit mit einer extrem langsamen Lesart (nicht nur) dieses Satzes schockierte, hat für mein Empfinden jedenfalls bei Schubert Ausdrucksbereiche entdeckt, die die Frage nach der Komponistenintention – wieder einmal – kleinlich und überflüssig erscheinen lassen, zumal sie nicht zu beantworten ist...
    Über das Anfangsthema des ersten Satzes behaupten manche Kommentatoren, es sei wenig plastisch, von geringer Individualität, man nähme „eher eine allgemeine B-Dur-Klanglichkeit wahr als bestimmte melodische, harmonische oder rhythmische Gestalten“ (Dieter Schnebel). Ich kann das nicht nachvollziehen: Das Thema schreitet – oder „tastet sich“ meinetwegen auch – zwar langsam und in kleinen Intervallschritten voran, ist aber dennoch von eindeutiger melodischer und harmonischer Gestalt. Seine ruhige, gleichmäßige Bewegung wird allerdings im achten Takt abrupt zum Stillstand gebracht durch den berühmten Bass-Triller auf „ges“, der hier zum ersten Mal wie aus weiter Ferne leise anklingt. Dieter Schnebel hört hier einen „störenden Fremdkörper“ während Alfred Brendel eher „die Öffnung einer dritten Dimension, in die wir ahnungsvoll hineinhorchen“ wahrnimmt. Die Verbindung vom ges-Triller zur Auflösung f wurde – allenfalls im Nachhinein hörbar - im vierten Takt des Themas durch den Vorhalt g-f vorbereitet, und mit diesen drei Tönen g-ges-f ist bereits ein ganz wesentlicher harmonischer Kern der gesamten Sonate angelegt.
    Das Thema setzt nach dem Triller ein zweites Mal an, schwingt harmonisch und melodisch weiter aus, wird über die genannte Bassfolge g-ges-f (Takt 15/16) wieder zurückgeführt und kommt erneut zum Stillstand. Der Bass-Triller erscheint wieder, diesmal auf dem Grundton b, von wo aus er chromatisch nach Ges-Dur moduliert. Wo Dieter Schnebel „endlich“ Entfaltung einer Melodie hört, nehme ich eine freie Fortspinnung des Themas wahr, die mit zunehmender Bewegung, aber in durchgehendem Pianissimo an Spannung zunimmt und sich schließlich in verdichtenden Triolen-Akkorden (Takt 34/35) zum kraftvollen Anfangsthema im Forte steigert. Bei diesem dritten Anlauf kommt das Thema diesmal zwar nicht zum Stillstand, wird aber durch eine vollkommen überraschende, quasi ziellose und scheinbar zufällige Modulation plötzlich nach fis-moll weitergeleitet. Anhand dieses Übergangs zum folgenden zweiten Thema kann man gut die grundsätzlichen Unterschiede zu vergleichbaren Vorgängen bei Beethoven beschreiben: Wo Beethoven die Bausteine Stück für Stück, absolut folgerichtig, nachvollziehbar und mit strenger innerer Logik zusammenfügt, scheint Schubert suchend, verstört und verstörend durch den harmonischen Raum zu irren, beginnt, stockt, setzt neu an, gelangt zu scheinbarer Stabilität, die sofort wieder ins Wanken gerät, und geht schließlich quasi resigniert zu einem zweiten Thema in einer ganz unerwarteten Tonart über. Dieter Schnebel schreibt dazu: „Das ist das Protokoll eines dissoziierenden Lebens, welches sich mehr tastend als zugreifend verhält; dem es nicht leicht mehr gelingt, Form zu finden; und dessen Mut zaghaft oder solcher von Verzweiflung“ („Auf der Suche nach der befreiten Zeit“ in Musik-Konzepte, Sonderband „Schubert“, edition text und kritik, S. 73).
    Trotz dieser scheinbaren Zufälligkeit hat das zweite Thema durch den Grundton fis – enharmonisch verwechselt also ges – eine innere Verbindung zum Basstriller. Dieses Thema, wie der Anfang in fast durchgehendem Pianissimo, erinnert im Satz an ein Streichquartett, wobei die „Viola“ die führende Stimme hat, gefolgt von „erster Violine“ und den beiden begleitenden anderen Stimmen. Die von dem vorhergehenden Forte-Höhepunkt noch nachschwingende Triolenbegleitung wird in der Fortsetzung zu Sechzehntel-Bewegung „verflüssigt“, gleichzeitig mäandert die Musik wieder scheinbar ziellos durch die Tonarten: A-Dur, Fis-Dur, d-moll, B-Dur werden kurz gestreift, bevor (Takt 74) endlich mit F-Dur sich die Tonart des dritten Themas – diesmal formal „richtig“ in der Dominante – ankündigt. Dieses auf auf- und absteigenden Dreiklängen beruhende Thema ist vor allem durch die Triolenbewegung mit den beiden ersten Themen verbunden, ist aber von deutlich heitererem, stabilerem Charakter. Seine tänzerische Leichtigkeit wirkt nach dem melancholischen Beginn allerdings irreal und verliert sich folgerichtig nach kurzer Zeit: Die Dreiklangsbrechungen verschwinden und es bleibt nur eine Art isolierte Walzerbegleitung übrig, die immer wieder zu Generalpausen erstarrt, in neuer Tonart neu anläuft, wieder stockt, usw.. In der endlich (in Takt 99) erreichten Schlussgruppe ist der Fluss der Musik endgültig zum Erliegen gekommen: Kurze Anklänge an das zweite Thema, isolierte Motive aus wenigen Akkorden werden von „nachdenklichen“ Generalpausen abgelöst.
    Zur folgenden Rückführung in die Expositions-Wiederholung ist auch hier schon viel geschrieben worden, deshalb nur so viel: Die Meinungen darüber, ob diese Wiederholung zwingend, möglich, überflüssig oder gar störend ist, gehen unter den Interpreten mit guten Gründen auseinander. Ich entscheide mich hier zu einem Weglassen, deshalb:
    Nachdem die Exposition mit drei F-Dur-Akkorden und einem einfachen aufsteigenden Terz-Motiv geendet hat, wird eben dieses Motiv plötzlich in cis-moll, pianissimo aber mit dichterem Akkordsatz und bei gleichzeitiger Umkehrung in der Bassstimme wiederholt. Diese Wendung ist eine der atemberaubendsten Stellen der ganzen Sonate. Die verträumte, wehmütige Melancholie der Schlussgruppe kippt mit einem Schlag zu einem Ausdruck von Schmerz, Verzweiflung und Resignation. Wie der Wanderer der Winterreise schleppt sich nach langer Fermate danach das erste Thema mühsam voran, von den dichten Akkorden des Anfangs ist nur noch ein zweistimmiger Satz übrig geblieben. Das zweite Thema klingt kurz an, bevor nach einer Trugschluss-Kadenz das dritte Thema in den Mittelpunkt rückt. Dessen tänzerische Energie reicht diesmal nach wellenförmiger Steigerung bis zu einem Fortissimo-Höhepunkt in Des –Dur (Takt 149). Über dem folgenden leise pulsierenden Bass entwickelt sich aus der Unterstimme des dritten Themas eine erneute Steigerung, die bis zu einem dramatischen d-moll-Höhepunkt (Takt 173) führt. Die Konsequenz, mit der Schubert die lange Entwicklung vom Durchführungsbeginn bis hierhin gestaltet, wirkt nach der „suchenden“, wie zufällig umherirrenden Exposition umso großartiger. Das „Unterstimmen-Motiv“ aus dem dritten Thema bleibt nach diesem Ausbruch über bzw. unter leise pulsierenden Dreiklängen übrig, bevor der Bass-Triller aus der Ferne die baldige Reprise ankündigt. Das erste Thema erklingt zunächst in d-moll, danach – in dreifachem Pianissimo! – in der Grundtonart B-Dur. Alfred Brendel schreibt zu dieser Stelle: Schubert „zitiert, pianississimo (…) das Hauptthema in der Grundtonart B-Dur – und doch erleben wir es, als der d-Moll-Sphäre angehörend, wie aus äußerster Distanz (…). Wenn das Anfangsthema wenige Zeilen später in seiner Grundgestalt wiederkehrt, haben wir unseren Standpunkt völlig verändert – das Thema ist uns in seiner hymnischen Zartheit nun in einer Weise nahe, daß man sagen könnte, wir spürten es in uns.“ (Schuberts letzte Sonaten, in: Musik beim Wort genommen, Piper, Schott 1995, S. 81). Diese Reprise, durch den zweimaligen Bass-Triller auf „ges“ und eine lange Generalpause vorbereitet, folgt in ihrem dreiteiligen Aufbau ganz der Exposition, mit wenigen, aber sehr wesentlichen harmonischen Veränderungen: Die Fortspinnung des Hauptthemas beginnt wieder in Ges-Dur, geht dann aber über fis-moll und A-Dur neue Wege, bevor sie doch zu dem Forte-Ausbruch in B-Dur führt. Das zweite Thema rückt, nicht weniger unvermittelt als in der Exposition, nach h-moll (wohlgemerkt: in einem B-Dur-Satz!), drittes Thema und Schlussgruppe folgen fast wörtlich transponiert in B-Dur. Ganz am Ende erklingt vor den leisen Schlussakkorden noch zweimal der variierte Themenkopf des Hauptthemas sowie ein letztes Mal der Bass-Triller.

    Zweiter Satz, Andante sostenuto
    Wie in der gleichzeitig entstandenen großen A-Dur-Sonate ist der zweite Satz in dreiteiliger ABA‘-Form aufgebaut. Ein einfaches Pianissimo-Thema in cis-Moll wird zunächst in Terzen, später in Dreiklängen geführt und dabei von einer Begleitfigur umrahmt, die seine punktierten Rhythmen komplementär ergänzt. Alfred Brendel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass man sich dieses Thema ohne weiteres von einem Streichquartett gespielt vorstellen könnte, dass es allerdings zugleich die klanglichen Möglichkeiten des Klaviers sehr geschickt nutzt, indem die – im Pedal gehaltenen – Begleittöne durch Resonanz zur Farbe der Melodietöne beitragen. Das Thema bewegt sich zunächst geradezu klassisch in vier- bzw. achttaktigen Phrasen, allerdings mit einer für Schubert typischen Ausnahme: Auf dem Höhepunkt in Takt 12 braucht es einen zusätzlichen Takt des Ausschwingens, bevor mit einer plötzlichen Rückung nach E-Dur der letzte Viertakter beginnt. Dieser harmonische Weg von cis-moll nach E-Dur wird bei der anschließenden Wiederholung des Themas umgekehrt. Die wiederum um einen Takt verlängerte Schlussgruppe mit ihren ausdrucksvollen Alterationen und Vorhalten erfordert vom Pianisten (und seinem Instrument) höchste Differenzierung im untersten Dynamik-Bereich. In den letzten Takten des A-Teils sind die bis dahin fast durchgehend vorhandenen punktierten Rhythmen zur Ruhe gekommen.
    Über pulsierenden Bass-Sechzehnteln entfaltet sich in A-Dur ein feierliches, choralartiges zweites Thema, motivisch verwandt mit den beiden ersten Themen des ersten Satzes. Bei der variierten Wiederholung seiner Formteile wird es jeweils von Triolen begleitet und dynamisch intensiviert. Eine plötzliche, viertaktige Ausweichung nach B-Dur wird beim ersten Mal zur Wiederholung des Choralthemas zurückgeführt und verebbt beim zweiten Mal nach und nach bis zur völligen Stille. Es folgt die variierte Wiederholung des A-Teils. Die punktierten Rhythmen der Begleitfigur sind hier durch einfache Achtel ersetzt, wodurch der Ausdruck von Müdigkeit und Mutlosigkeit noch gesteigert wird. Am Taktende erinnert ein immer wiederkehrendes Klopfmotiv im Bass entfernt an den Triller aus dem ersten Satz. Schier atemberaubend ist die plötzliche Rückung von Gis-Dur nach C-Dur (also im Quintenzirkel über acht Tonarten!) in Takt 103. Die Coda in Cis-Dur (also wieder sieben Tonarten entfernt) und dreifachem Pianissimo löst sich bis zur Grenze der Hörbarkeit auf. Ihre vier letzten Akkorde entsprechen dem Beginn der letzten Phrase von „Der Tod und das Mädchen“.

  • Schubert: Klaviersonate B-Dur, D. 960 (Fortsetzung)

    Dritter Satz, Scherzo. Allegro vivace con delicatezza
    Das Scherzo scheint auf den ersten Blick der heiterste und vielleicht auch konventionellste der vier Sätze zu sein. Wenn man allerdings bemerkt hat, dass sein Hauptthema eine freie Variation des melancholischen Anfangsthemas des ersten Satzes ist, wird man der scheinbaren Lebendigkeit und „delicatezza“ schon misstrauen. Und tatsächlich irritiert es, dass das Thema nach dem luftigen B-Dur-Beginn im fünften Takt zu einer Modulation in Richtung g-moll ansetzt, diese dann aber nicht durchführt und stattdessen elegant, aber nicht ganz natürlich nach B-Dur zurückkommt. Auch beim zweiten Anlauf wird dieselbe Modulation angedeutet, biegt dann aber plötzlich nach Es-Dur ab. Dadurch, dass diese harmonischen Überraschungen innerhalb der motorischen Achtelbewegung bei hohem Tempo und durchgehendem Pianissimo scheinbar mühelos und selbstverständlich stattfinden, wirken sie erst recht irreal und verstörend. Im zweiten Teil werden Es-Dur, As-Dur und Des-Dur kurz gestreift, bis dann eine Art Walzer einsetzt. Dessen Begleitung bleibt in den nächsten 34 Takten aktiv, während die Melodie nach jeweils viertaktigen Phrasen für jeweils ein oder zwei Takte stockt. Wieder irritiert der Kontrast: diesmal zwischen der unaufhörlichen Walzer-Begleitung und der immer wieder unterbrochenen und neu ansetzenden Melodie. Die Rückführung in die Reprise erfolgt wie nebenbei, mitten in einer Legato-Phrase, unvorbereitet und von der alles beherrschenden Bewegungsenergie überspielt.
    Wenn man diesen A-Teil wegen der Themenverwandtschaft, der komponierten Irritationen, der Stockungen und scheinbaren Zufälligkeiten als eine luftig bewegte Variante des ersten Satzes hören kann, so erinnert das Terzen- bzw. Akkord-Thema des Trios an den zweiten Satz. Wieder ergänzt die Unterstimme komplementär die führende Stimme, wieder werden harmonische Rückungen durch plötzliche Zurücknahme der Dynamik unterstrichen. Das Metrum neigt zu drei Halben, wird aber durch markante Bass-Akzente auf der Eins jedes zweiten Taktes immer wieder zu den notierten drei Vierteln gezwungen. Nach der wörtlichen Wiederholung des A-Teils verschwindet der Satz in einer simplen Coda aus absteigenden B-Dur-Dreiklängen.

    Vierter Satz, Allegro ma non troppo
    Ich kenne keinen Satz, über dessen Charakter unter den Interpreten eine größere Uneinigkeit herrschte als das Finale der B-Dur-Sonate. Wo Dieter Schnebel „ahnende Darstellung des bevorstehenden Todes“ hört, nimmt Alfred Brendel „graziöse Entschlossenheit, spielerische Kraft. Ironisches Augenzwinkern; große(n) kantable(n) Fluß; obstinate Streitlust“ wahr. Claudio Arrau wiederum empfindet am deutlichsten „ die Ambivalenz des Themas. Erst kommt, erstaunlicherweise, das G, sforzato, wie ein Trompetenstoß. Dann vier Takte c-Moll, von wachsender Angst erfüllt. Und dann unvermittelt dieses Gefühl der Resignation und die Rückkehr zu B-Dur – dieses Todesnähe, als sei alles sinnlos geworden. Und das wiederholt sich immer und immer wieder. Die Modulationen erzeugen unerhörte Spannung innerhalb des Themas.“ (Claudio Arrau. Leben mit der Musik, Aufgezeichnet von Joseph Horowitz, Scherz Verlag 1984). Betrachten wir einmal die Fakten: Das Thema setzt immer wieder mit einer g-Oktav im fortepiano an, aus der sich dann ein Tanz in c-moll herausschält, der nach wenigen Takten über die oben genannte Basslinie g-ges-f nach B-Dur absinkt. Diesem A-Teil stehen ein B-Teil mit langen, von luftigen Sechzehnteln und aktiven Bassynkopen begleiteten Kantilenen sowie ein dramatischer C-Teil mit einem heftigen Forte-Ausbruch punktierter Akkorde entgegen. Schubert hat ja, entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil, durchaus heitere Musik komponiert, etwa im Forellenquintett, im Finale der G-Dur-Sonate von 1826, in der sechsten Symphonie usw. Von diesen Werken unterscheidet sich der Schlusssatz der B-Dur-Sonate offensichtlich. Aber ist er deshalb gleich ganz und gar von Todesangst und Resignation erfüllt? Das Problem an Dieter Schnebels Interpretation scheint mir in deren Einseitigkeit zu liegen: Ich kann ihm folgen, wenn er im Anfangsthema einen „missglückten Versuch in Munterkeit“ hört, aber das gilt ja kaum für den ganzen Satz. Spätestens wenn Schnebel ein „verborgenes Diminuendo“ über das „ganze Stück“ zu hören glaubt, ist er für mein Empfinden der Versuchung erlegen, das Werk seiner Analyse anzupassen statt umgekehrt. Alfred Brendels Argumentation wiederum scheint mir vor allem von – nachvollziehbarer und wohltuender – Skepsis gegenüber solchen Einseitigkeiten geprägt zu sein, ist allerdings dadurch ihrerseits einseitig: Ihm kann doch nicht entgangen sein, dass die immer wiederkehrenden Sforzato-Stopps in der „falschen Tonart“ mindestens verstörend und beängstigend wirken können, dass die „graziöse Entschlossenheit, spielerische Kraft“ hier keineswegs ungebrochen sind. Die merkwürdig „schiefen“ Harmonien, mit denen sich das Thema am Schluss (Takt 496f.) ein letztes Mal nach B-Dur herabsenkt, erklärt Brendel kurzerhand zur Ironie, während Schnebel meint, „die einst lustigen Melodien“ klängen hier „kläglich“. Die kurze Presto-Coda ist für Brendel Ausdruck der Freude, während Schnebel sie – weil sie nicht in seine Theorie des Satzes passt? – nicht weiter erwähnt. Die Frage, wer Recht hat, ist nicht zu beantworten, oder sagen wir so: Jeder hat Recht, der dieses Werk so spielt, dass sich die Frage nicht stellt. Das haben Brendel, Richter, Afanassiev, Lupu, Sokolov und viele andere auf ganz unterschiedliche Weise getan. Die Diskussion über diese und andere Einspielungen überlasse ich gern anderen.


    ChKöhn

  • Das ist, lieber Christian, eine sehr schöne Einführung in D.960! Abwechselnd in die Noten und in Deinen Text schauend habe ich die Sonate wieder einmal gehört (S. Richter 1972 live in Prag - ganz wunderbar), und füge unsystematisch ein paar kurze Kommentare zunächst mal zum Kopfsatz dazu:

    Ist hier unausgesprochen „Allegro molto moderato“ gemeint? Oder gerade nicht „Allegro“?

    Ich kann beides sehr gut hören (Brendel vs. Richter, Afanassiev, auch Mittelwege wie bei Uchida) - nur wenn, wie neulich bei Buchbinder, eine schnelle Lesart auch noch sehr robust gespielt wird, steige ich aus.


    Seine ruhige, gleichmäßige Bewegung wird allerdings im achten Takt abrupt zum Stillstand gebracht durch den berühmten Bass-Triller auf „ges“

    Über den Triller und seine Ausführung hatten wir hier schon eine kleine Diskussion.


    Dieter Schnebel schreibt dazu: „Das ist das Protokoll eines dissoziierenden Lebens, welches sich mehr tastend als zugreifend verhält; dem es nicht leicht mehr gelingt, Form zu finden; und dessen Mut zaghaft oder solcher von Verzweiflung“ („Auf der Suche nach der befreiten Zeit“ in Musik-Konzepte, Sonderband „Schubert“, edition text und kritik, S. 73).

    In der endlich (in Takt 99) erreichten Schlussgruppe ist der Fluss der Musik endgültig zum Erliegen gekommen: Kurze Anklänge an das zweite Thema, isolierte Motive aus wenigen Akkorden werden von „nachdenklichen“ Generalpausen abgelöst.

    Das (und die Parallelstelle in der Reprise) ist m.E. die am stärksten dissoziierende Passage des ganzen Kopfsatzes, ich habe mich mit dieser stockenden, tastenden, ziellosen Musik lange schwergetan. Die Formulierung "Protokoll eines dissoziierenden Lebens" hat natürlich einen problematischen, stark biographistischen Akzent, ist aber nichtsdestotrotz suggestiv. Solche tastenden Passagen hat Schubert ja in anderen Werken an Zusammenbrüche und Katastrophen angeschlossen (zweite Sätze der großen C-dur-Sinfonie und des Streichquintetts) - hier wirkt das ganz anders.


    Zur folgenden Rückführung in die Expositions-Wiederholung ist auch hier schon viel geschrieben worden, deshalb nur so viel: Die Meinungen darüber, ob diese Wiederholung zwingend, möglich, überflüssig oder gar störend ist, gehen unter den Interpreten mit guten Gründen auseinander. Ich entscheide mich hier zu einem Weglassen

    Das ist natürlich ein starkes Stück ;+), aber manchmal fixieren sich die Forendiskussionen über D.960 vielleicht zu sehr auf dieses Problem. Ich verlinke mal eine ältere Diskussion.

    Nachdem die Exposition mit drei F-Dur-Akkorden und einem einfachen aufsteigenden Terz-Motiv geendet hat, wird eben dieses Motiv plötzlich in cis-moll, pianissimo aber mit dichterem Akkordsatz und bei gleichzeitiger Umkehrung in der Bassstimme wiederholt. Diese Wendung ist eine der atemberaubendsten Stellen der ganzen Sonate.

    Ja! Ich liebe sie auch sehr. Von Richter, aber auch von Brendel wunderbar weich und "abgedunkelt" gespielt.


    Die verträumte, wehmütige Melancholie der Schlussgruppe kippt mit einem Schlag zu einem Ausdruck von Schmerz, Verzweiflung und Resignation. Wie der Wanderer der Winterreise schleppt sich nach langer Fermate danach das erste Thema mühsam voran, von den dichten Akkorden des Anfangs ist nur noch ein zweistimmiger Satz übrig geblieben.

    "Schmerz, Verzweiflung und Resignation": Das empfinde ich hier nicht ganz so stark. Um mal eine Metapher anzuwenden: In dieser Passage schiebt sich eine dunkle Wolke über die Landschaft, aber damit bricht noch nicht der Winter ein. Melancholie, die sich (beim d-moll-Höhepunkt) zum Pathos steigert: das schon.


    Die Konsequenz, mit der Schubert die lange Entwicklung vom Durchführungsbeginn bis hierhin gestaltet, wirkt nach der „suchenden“, wie zufällig umherirrenden Exposition umso großartiger.

    :yes: Besonders bemerkenswert: "Konsequenz" erzielt Schubert in der dunkelsten Passage des Satzes, während er am Ende der Exposition im "hellen" Dur besonders "orientierungslos" komponiert.


    Das zweite Thema rückt, nicht weniger unvermittelt als in der Exposition, nach h-moll (wohlgemerkt: in einem B-Dur-Satz!)

    Vielleicht, vielleicht hat Schubert hier an Beethovens Hammerklaviersonate gedacht, die den Gegensatz B-dur und h-moll ja besonders stark exponiert (ansonsten sind die beiden Werke eher wie Feuer und Wasser).


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Vladimir Sofronitzky spielt die B-Dur Sonate.

    "http://www.br.de/radio/br-klass…dung353080.html"


    Möglicherweise die Aufnahme aus dieser Box:

    Es könnte aber sein, daß es die 1960er Aufnahme aus Moskau ist. Die ist schwieriger zu finden und vielleicht noch ein Stück ergreifender als die frühere Aufnahme in der Brilliant-Box. Und im Unterschied zu dieser enthält sie die Wiederholung der Exposition im ersten Satz. Vom Timing her würde es gehen. Aufnahmegerät bereit halten ! (nein, kein Hinweis in eigener Sache, die Aufnahme habe ich schon).

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Ohne Expositions-Wiederholung. Aber der Übergang zur Durchführung ist hier "ein Moment für die Ewigkeit". SO ETWAS nenne ich geniale Interpretation.
    Nehme seit einiger Zeit jede mögliche Radioausstrahlung der B-Dur Sonate auf. Bevorzuge an sich Aufnahmen (und selbst spielen) MIT Wiederholung.
    Vor allem den zweiten Satz zu spielen ist etwas ganz Besonderes, wie Schweben, da hebt man wirklich ab, das ist ganz eigen, das ist wie ein unbezahlbares Geschenk für den Klavierspieler, da löst sich das Spiel vom Spieler und ist doch so "all-ein" wie sonst nichts.
    Sofronitzky ist einer der ganz Großen, der lebt das Werk aber sowas von beseelt. Dieser Pianist "ist ganz drin".
    Merke mir die CD Box vor. Und die andere Aufnahme auch. Danke, Philbert!

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Zitat von »ChKöhn«
    Zur folgenden Rückführung in die Expositions-Wiederholung ist auch hier schon viel geschrieben worden, deshalb nur so viel: Die Meinungen darüber, ob diese Wiederholung zwingend, möglich, überflüssig oder gar störend ist, gehen unter den Interpreten mit guten Gründen auseinander. Ich entscheide mich hier zu einem Weglassen


    Das ist natürlich ein starkes Stück ;+), aber manchmal fixieren sich die Forendiskussionen über D.960 vielleicht zu sehr auf dieses Problem. Ich verlinke mal eine ältere Diskussion.

    Für mich ist das Weglassen der Expositionswiederholung im ersten Satz fast ein K.O.-Kriterium. Brendel, der sie auch weglässt, scheint mir bei Beethoven & Haydn für meinen Geschmack eh zu gepflegt (wenngleich natürlich nicht schlecht) zu spielen. Bei einem direkten Vergleich bei Schuberts letzter Sonate gefielen mir Cyprien Katsaris und Dieter Zechlin besser als Brendel.

    Über das Anfangsthema des ersten Satzes behaupten manche Kommentatoren, es sei wenig plastisch, von geringer Individualität, man nähme „eher eine allgemeine B-Dur-Klanglichkeit wahr als bestimmte melodische, harmonische oder rhythmische Gestalten“ (Dieter Schnebel). Ich kann das nicht nachvollziehen: Das Thema schreitet – oder „tastet sich“ meinetwegen auch – zwar langsam und in kleinen Intervallschritten voran, ist aber dennoch von eindeutiger melodischer und harmonischer Gestalt. Seine ruhige, gleichmäßige Bewegung wird allerdings im achten Takt abrupt zum Stillstand gebracht durch den berühmten Bass-Triller auf „ges“, der hier zum ersten Mal wie aus weiter Ferne leise anklingt. Dieter Schnebel hört hier einen „störenden Fremdkörper“ während Alfred Brendel eher „die Öffnung einer dritten Dimension, in die wir ahnungsvoll hineinhorchen“ wahrnimmt.

    Wie auch immer man diesen Triller versteht ist es mir nicht nachvollziehbar, dass einige die Expositionswiederholung weglassen und damit dessen variierte Wiederaufnahme am Ende der prima volta. Aber vielleicht tue ich Brendel und den anderen, die sie weglassen auch Unrecht.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Ich habe mir Christians Beitrag nicht ausgedruckt, sondern ohne ihn einfach so Schuberts letzte Klaviersonate gehört, und zwar in dieser Aufnahme:

    Man hat ja seine Vorlieben, das ist klar, beim gestrigen Hören habe ich aber zum wiederholten Mal gerade bei dieser Sonate festgestellt, dass mir die Sätze 1 und 2 viel mehr geben als die Sätze 3 und 4. So habe ich mich gestern erneut gefragt, woran das liegt: nachlassende Höraufmerksamkeit, unzureichende geistige Durchdringung des musikalischen Geschehens? Ist alles möglich, trotzdem interessiert mich speziell bei dieser Sonate: Geht es jemandem von euch wie mir? Pointiert gesprochen also: Sätze 1 und 2: allerwundervollste Musik, Sätze 3 und 4: Der Vorsprung wird ins Ziel gebracht?

  • I
    Man hat ja seine Vorlieben, das ist klar, beim gestrigen Hören habe ich aber zum wiederholten Mal gerade bei dieser Sonate festgestellt, dass mir die Sätze 1 und 2 viel mehr geben als die Sätze 3 und 4. So habe ich mich gestern erneut gefragt, woran das liegt: nachlassende Höraufmerksamkeit, Unzureichende geistige Durchdringung des musikalischen Geschehens? Ist alles möglich, trotzdem interessiert mich speziell bei dieser Sonate: Geht es jemanden von euch wie mir?

    Das ist eigentlich schon beinahe ein Klischee, ziemlich sicher geht es Dir nicht alleine so. (Ich meine das wäre irgendwo auch schon einmal angesprochen worden). In mancher Hinsicht ist es ein feature, der dritte und vierte Satz sind in der Klassik fast immer (erheblich) weniger gewichtig als die ersten beiden. Für manche Hörer wird das dann in Werken, die selbst am üblichen außergewöhnlich gewichtige Kopf- und/oder langsame Sätze haben, zum "bug". Diese (und andere) Schubertsonate(n) sind solche Fälle, aber vielleicht auch schon Beethovens Eroica. Später ist Beethoven da oft etwas trickreicher, durch Vertauschen der Binnensätze oder Aufwertung des Finales oder insgesamt knappere Sätze usw.
    Schubert hat zwar in einigen Werken (Wandererfantasie, Violinfantasie) eine ausgeglichenere Balance gefunden, aber bei dieser Sonate spitzt sich das zu, da Scherzo und Rondo erst einmal ziemlich traditionell daherkommen und in manchen Interpretationen der Kopfsatz so lange dauert wie der gesamte Rest. Grundsätzlich unterschiedlich ist die Balance (oder deren Mangel) aber in den anderen späten Schubert-Sonaten auch nicht.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Man hat ja seine Vorlieben, das ist klar, beim gestrigen Hören habe ich aber zum wiederholten Mal gerade bei dieser Sonate festgestellt, dass mir die Sätze 1 und 2 viel mehr geben als die Sätze 3 und 4. So habe ich mich gestern erneut gefragt, woran das liegt: nachlassende Höraufmerksamkeit, unzureichende geistige Durchdringung des musikalischen Geschehens? Ist alles möglich, trotzdem interessiert mich speziell bei dieser Sonate: Geht es jemandem von euch wie mir? Pointiert gesprochen also: Sätze 1 und 2: allerwundervollste Musik, Sätze 3 und 4: Der Vorsprung wird ins Ziel gebracht?

    Es ist wie oft: hat sich ein Klischee durchgesetzt, dann wird er immer wieder bestätigt.

    Viele Interpreten scheinen auch nicht gelesen zu haben, daß der vierte Satz Allegro ma non troppo überschrieben ist.

    Christian hat in seiner Einführung schon überzeugend dargestellt, daß die letzten zwei Sätze in Verbindung mit den ersten zwei sind. Dazu findet man im Finale auch Nachklänge der c-moll Sonate D958. Schubert wollte offensichtlich nicht nur die Sonate sondern die Trilogie damit abschließen.
    Ich erdreiste mich, ihn auch in bezug auf diese Frage zu zitieren:


    Jeder hat Recht, der dieses Werk so spielt, dass sich die Frage nicht stellt.

    Manchen Pianisten scheint nach dem zweiten Satz die Luft - oder die Lust - aus zu sein. Das könnte man auch in gewisser Hinsicht von Richter sagen. Andere können aber überzeugen, daß der dritte Satz mit seiner harmonischen und rhythmischen Unbefestigkeit die Trance des zweiten in eine Art Traumvision umdeutet und daß der vierte genug Gewicht hat, um das ganze abzuschließen - man kann ihn auch als eine, diesmal aber extrem bewegte, Traumvision interpretieren, wo Seligkeit und Terror sich abwechseln. Philippe Cassard in seinem Buch über Schubert:

    Zitat

    [Schubert kann] echte Szenen von Krieg, Vernichtung, Gemetzel von unerhörter Wildheit und Gewalt darstellen. Man denke [...] ans Finale allegro man non troppo der Sonate D960: die Stürme von verwirrten parallelen Tonleitern, die wütenden herausgeschrienen aufsteigenden Akkorde, die knalligen Oktaven versinnblidlichen, umrahmt vom Pfeifen eines kleinen unbesorgten Ritornells, den Soldaten mit der Blume im Gewehr, der von einem Takt zum andern buchstäblich in die Schlachterei gedrängt wird, den Kanonenlärm, die letzte, vielleicht selbstmörderische Etappe unseres geliebten Wanderers.

    Solche bildhafte Deutungen sind mir immer etwas fremdartig, da ich beim Zuhören Gefühle empfinde, für welche jeder Zuhörer sich unterschiedliche Bilder vorstellen kann - oder nicht. Hier zeigt es wenigstens, daß der vierte Satz von D960 weit von substanzlos ist.

    Schubert hat (nicht nur) in seinen großen Sonaten - wenigstens ab D845 - die viersätzige Architektur im Kopf. Sei es im Es-Dur Trio, in der D-Dur Sonate D850, selbstvertständlich in der A-Dur Sonate D959 oder in der G-Dur Sonate D894, das Finale ist, in mannigfachiger Art, der Satz wohin die ersten streben oder wo sie sich begegnen.

    Hat man eine Interpretation von D960 gehört, die es deutlich macht, so ist man davon auch für diese Sonate überzeugt.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • trotzdem interessiert mich speziell bei dieser Sonate: Geht es jemandem von euch wie mir? Pointiert gesprochen also: Sätze 1 und 2: allerwundervollste Musik, Sätze 3 und 4: Der Vorsprung wird ins Ziel gebracht?

    Mir geht es überhaupt nicht so, aber trotzdem kann ich Dich (glaube ich) verstehen, weil ich beim Einstudieren der Sonate dieselben Probleme mit den beiden hinteren Sätzen hatte. Wie oben angedeutet höre ich den dritten Satz inzwischen vor allem in Bezug zum ersten (das Motiv b-a-b, woraus man auch den Triller ableiten kann, ist in beiden zentral, auch die Begleitfiguren der linken Hand zu Beginn beider Sätze sind eng verwandt), dessen melancholischer Abgeschiedenheit er eine Art lebendigen Aufbruchs entgegenstellt. Dieser Aufbruch führt allerdings - für Schubert typisch - nicht zu einem Ziel in Form einer "Lösung" sondern zur Ambivalenz des vierten Satzes und zu einer - das höre ich anders als Alfred Brendel - angestrengten, keineswegs ungebrochenen Fröhlichkeit am Ende.


    Christian

  • Zitat

    der dritte und vierte Satz sind in der Klassik fast immer (erheblich) weniger gewichtig als die ersten beiden


    Aber nicht bei Beethoven !
    (sorry für das offtopic, bin schon weg)
    Heike

    „Wahrscheinlich werden künftige Generationen sich erinnern, dass dieses Jahrhundert das ,Century of Recordings’ war, in dem die Menschen auf die seltsame Idee verfielen, man könne Musik in kleine Plastikteile einfrieren. Mich erinnert das an die Idee der Ägypter vom Leben nach dem Tod. Eine ungesunde Idee. Studiomusik ist eine Verirrung des 20. Jahrhunderts. Das wird verschwinden.“ (F. Rzewski, Komponist, in der FAZ vom 21.4.2012)

  • Der Quälgeist hat sich mal wieder was Neues vorgenommen :D
    Man sage nur ein, zwei neugierig machende Sätze über ein Stück zu mir und schwupps ich werde mich daran machen ;+)

    Als bisherige Nichtkennerin der letzten Schubert Klaviersonate will ich mich in den nächsten Tagen daran machen, ein paar Einspielungen davon anzuhören, weniger vergleichend (aber das kommt wohl automatisch), mehr um das Werk gleich von verschiedenen Seiten kennenzulernen und eventuell dem Teufelchen Erstaufnahme-Prägung entgegen zu wirken.
    Allein schon interessant finde ich die schiere Spieldauer, der von mir ausgewählten Versionen :

    Maurizio Pollini (1987) - 40 :22 min.
    Lili Kraus - 41 : 07 min.
    Sviatoslav Richter (Prag, 1972) - 47 : 04 min.
    Christoph Eschenbach - 43 : 21 min.
    Maria João Pires - 41 : 49 min.
    Lang Lang - 43 : 08 min.

    Die meisten sind dicht beieinander, aber die Unterschiede von zwei, drei Minuten fallen schon auf, und Richter schließlich braucht ganze sieben Minuten länger als Pollini. Ich bin gespannt wie sich das bemerkbar macht (das es so sein wird, bin ich sicher). Wie ich natürlich überhaupt gespannt auf das ganze Werk bin. Die Eingangsanalyse in diesem Faden wird mir auf jeden Fall sehr bei der Erschließung helfen.

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

  • Zu den im vorherigen Post erwähnten Aufnahmen hat sich bei mir noch eine dazugesellt (das Werk selbst ist so wunderschön, dass ich gar nicht genug kriegen kann :love: )
    Zählt mit der Richter-Aufnahme zu den längsten bzw. langsamsten Versionen :

    Valery Afanassiev :juhu:

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

  • Zu den im vorherigen Post erwähnten Aufnahmen hat sich bei mir noch eine dazugesellt


    Dir hat die Aufnahme gefallen? Das entnehme ich dem Smiley ;+)

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Dir hat die Aufnahme gefallen? Das entnehme ich dem Smiley


    Ich finde die Afanassiev-Aufnahme geradezu traumwandlerisch-zauberhaft! :love:
    Diese Version fließt so leicht und trotzdem tiefgründig dahin, dass ich da richtig abschweifen kann, sie ist weich und trotzdem durchdringend. Grandios!

    Bisher habe ich außerdem die ersten drei Aufnahmen aus meiner Liste gehört :

    Maurizio Pollini
    die kürzeste bzw. zügigste Version in der Liste und dementsprechend ist das Tempo recht flott. Sie wirkt auf mich sehr hart und streng gespielt, fast etwas heftig-ruppig. In den dramatischen Passagen macht das Eindruck, aber gerade in den sanfteren Passagen der ersten beiden Sätze ist es mir persönlich doch etwas zu hart gespielt. Dafür im dritten udn vierten Satz sehr mitreißend.

    Lili Kraus
    sie spielt weicher und gemächlicher als Pollini, der ganze Klang kommt mir voller und runder vor, der erste und zweite Satz gefallen mir besser, gleichzeitig empfinde ich die ganze Interpretation aber auch als ein wenig fad.

    Sviatoslav Richter
    obwohl durch die reineen Zeitangaben vorbereitet (und Afanassiev noch nicht gehört), war ich erstmal etwas irritiert vom Tempo, ganz das Gegenteil von Pollini, getragen, verinnerlicht kommt die Melancholie hier wirklich zu ihrem Recht, bei Richter hatte ich bei ersten Hören geradezu das Gefühl mitzuleiden, die Verzweiflung zu spüren, die fast energisch rüberkommt, dass ich regelrecht Gänsehaut bekam. Alles wirkt so tiefgründig. Allerdings finde ich, dass er im dritten und vierten Satz leicht nachlässt. Und beim zweiten und dritten Hören hat sich meine erste große Ergriffenheit auch etwas abgenutzt.

    Gerade, was diese Melancholie angeht, wenn ich Richter und Afanassiev vergleiche, deren Grundton ähnlich ist, ist Richters Interpretation doch noch weitaus dunkler und tiefsitzender, während Afanassiev trotz allem getragener (im vollen Sinne des Wortes) und seufzender wirkt.

    Wenn ich hier wieder einmal mit außermusikalischen Kategorien hausieren gehen musste (es gibt ja mittlerweile einen Thread dazu), so verzeihe man mir, dass ich mich größtenteils nur in solchen Ebenen ausdrücken kann.
    Als jemand der davon keine Ahnung hat, würde es interessieren, wie es sich beim Klavierspiel auswirkt auf was für einem Flügel man spielt? Hat das bei der Interpretation Einfluss?

    Die anderen drei Versionen folgen demnächst.

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

  • Und beim zweiten und dritten Hören hat sich meine erste große Ergriffenheit auch etwas abgenutzt.

    Wow, dreimal Richter, dazu Pollini, Afanassiev und Kraus, das alles in drei Tagen: Du willst es wirklich wissen!

    Als jemand der davon keine Ahnung hat, würde es interessieren, wie es sich beim Klavierspiel auswirkt auf was für einem Flügel man spielt? Hat das bei der Interpretation Einfluss?

    Sicherlich hat es Einfluss, aber die Art des Einflusses ist schwer zu verallgemeinern. Grundsätzlich wird ein Pianist natürlich durch einen Flügel, der ihm keine Probleme bereitet, besser in der Lage sein, sich ganz der Gestaltung hinzugeben. In den besten Momenten fühlt sich das fast so an, als hätte man gar kein "Instrument" zwischen sich und der Musik. Das setzt aber voraus, dass der Flügel vom Bass bis zum Diskant auf alle Anschlagsnuancen wirklich zuverlässig und vorhersehbar reagiert, keine plötzlichen "Brüche" hat, außerdem über eine perfekt funktionierende Dämpfung usw. verfügt. In den anderen Fällen muss man ständig ausgleichen, kann den untersten Dynamik-Bereich unter Umständen gar nicht verwenden, ist in seinem Klangfarbenspektrum eingeschränkt usw.. Bei (meist kleineren) Flügeln, die vor allem im Diskantbereich keine ausreichende klangliche Länge mehr produzieren, muss man bei langsamen Sätzen unter Umständen ein rascheres Tempo oder auch einfach lauter spielen, um die Töne noch zu Kantilenen zu verbinden (was meiner Meinung nach eine mögliche Erklärung für manche schnellen Metronomzahlen z.B. bei Schumann ist). Der "Grundklang" des Instrumentes spielt meiner Meinung nach (oder beser gesagt: bei mir) eine vergleichsweise geringere Rolle. Ich spiele prinzipiell auf einem Bösendorfer nicht anders als auf einem Steinway oder einem Fazioli. Was aber immer gilt: Je besser das Instrument, desto glücklicher bin ich, und desto größer ist die Chance, dass ich etwas brauchbares zu Stande bringe ;+) .

    Christian

  • Wow, dreimal Richter, dazu Pollini, Afanassiev und Kraus, das alles in drei Tagen: Du willst es wirklich wissen!


    Definitiv! :D Zu Gute kommt mir, dass ich das Werk an sich sofort lieb gewonnen habe und das ich auch gerade wirklich Zeit für so eine Aktion habe. Zum Wochenende hin folgen dann die 3 anderen "Kandidaten".
    Danke auch für deine Ausführung zum (Nicht)Einfluss des Flügels...ich habe bei der Frage auch immer daran gedacht, dass oft gesagt wird, man schwöre auf den oder den Flügel (Steinway or what ever). Demnach kann ich also davon ausgehen, dass der von mir manchmal verschieden wahrgenommene "Grundklang" einer Interpretation wirklich vom Pianisten ausgeht?

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

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