Ars subtilior - Dämmerung des Mittelalters oder Morgenröte einer fernen kompositorischen Zukunft?
Um die wie immer viel zu kurzen Sommerferien noch ein wenig zu verlängern, haben wir bei der Rückfahrt aus unserem diesjährigen Frankreich-Urlaub nicht auf einige freiwillige Umwege verzichten wollen und landeten dabei einmal mehr in Chantilly, jener herrlich gelegenen Ortschaft nördlich von Paris, die in einer wunderbaren Parkanlage das Schloss Chantilly beherbergt - einen Bau, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts für den Herzog von Montmorency errichtet wurde und der mit dem Musée Condé eine einzigartige Sammlung mittelalterlicher Handschriften, Bücher und Kunstwerke enthält. Neben Schätzen wie dem Stundenbuch des Herzogs von Berry (Tès Riches Heures du Duc de Berry) befindet sich dort unter anderem auch eine hochbedeutende musikalische Quelle: der Codex Chantilly (Musée Condé MS 564), eine Handschrift, die vor allem für die Überlieferung zahlreicher Werke der sogenannten Ars subtilior berühmt geworden ist. Auch wenn sich unsere diesjährige Stippvisite auf ein Picknick im Schlosspark beschränken musste (der Codex Chantilly ist aber meines Wissens sowieso nicht frei zugänglich), hat mich der genius loci doch heftig genug gepackt, dass ich seit nunmehr zwei Wochen von der Idee verfolgt werde, einen Thread zur Ars subtilior ins Leben zu rufen. Heute nun setze ich diese Idee endlich in die Tat um. (Da ich hier im Forum ausgerechnet einen Ausschnitt aus dem auch graphisch hochinteressanten Manuskript von Baude Cordiers Zirkelkanon Tout par compas suy composés aus dem Codex Chantilly zum Avatar erkoren habe, war ein entsprechender Beitrag wohl sowieso über kurz oder lang fällig.)
Aber was ist das nun eigentlich - Ars subtilior?
Der Begriff der „subtileren“ oder „verfeinerten Kunst“ wurde seitens der Musikwissenschaft in den 1960er-Jahren in Anknüpfungen an Formulierungen aus Traktaten des 14. Jahrhunderts als Bezeichnung für jenen komplexeren Musikstil etabliert, der sich von den 1370er-Jahren bis in das zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts vor allen in Südfrankreich, Norditalien und – auf den ersten Blick vielleicht ein wenig überraschend – in Zypern entwickelte. Die Ars subtilior entstand in einer politisch und kulturell höchst unruhigen Zeit: Europa wurde von mehreren verheerenden Pestepidemien heimgesucht; und zwischen 1378 und 1417 führte das große Abendländische Schisma zu tiefgreifenden politischen Spannungen und Verwerfungen: Zwei und später gar drei Päpste beziehungsweise Gegenpäpste, die in Rom und Avignon residierten, stritten um das höchste kirchliche Führungsamt; Intrigen, Nepotismus und Verschwendungssucht führten zu einem raschen Verfall der kirchlicher Autorität; zugleich aber blühten in Avignon die Künste. Auch an den norditalienischen Fürstenhöfen im Umfeld der Visconti setzte man zur Durchsetzung politischer Interessen alle Mittel ein und schreckte dabei selbst vor Morden nicht zurück, betätigte sich aber zugleich als Förderer von Kunst und Musik. Und im Hintergrund schwelte in dieser Zeit stets jener Konflikt zwischen England und Frankreich weiter, der später als „Hundertjähriger Krieg“ bezeichnet werden sollte. Kurz gesagt – es war eine Zeit, in der äußere Prachtentfaltung und Bewusstsein der Todesverfallenheit, sittliche Verrohung und künstlerische Verfeinerung, kühle Berechnung und leichtsinniges Spiel mancherlei merkwürdige Allianzen eingingen.
Die Musik der Ars subtilior nun, wie sie anscheinend vor allem am päpstlichen Hof von Avignon, am Hof des Grafen von Foix Gaston III., genannt „Fébus“, am Königshof von Aragón, bei den Visconti in Mailand sowie am Königshof der Lusignan in Zypern gepflegt wurde, baut zwar auf den notationstechnischen und kompositorischen Rahmenbedingungen der Ars nova auf, gewinnt aber aufgrund eines erheblichen Komplexitätszuwachses auf verschiedenen Ebenen eigentümliche neue Qualitäten. Insbesondere auf rhythmischem Gebiet gelangen die Komponisten durch die Einführung kleinerer Notenwerte, eine Vorliebe für Synkopenketten und die Einführung neuer rhythmischer Proportionen, die mithilfe von Kolorierungen der Noten oder Sonderzeichen dargestellt werden, zu komplizierten, oftmals polymetrischen Texturen, deren nur noch wenige gemeinsame Schwerpunkte aufweisen und so ein Gewebe von merkwürdiger metrischer Instabilität erzeugen, das beim Hörer zumal in extremen Werken wie der Ballade Sumite karissimi des Magister Zacharias trotz rigoroser rhythmischer Kontrolle den Eindruck beinahe improvisatorischer Freiheit erweckt. Aber auch in harmonischer Hinsicht gelangten die Komponisten der Ars subtilior zu frappierenden neuen Klangwirkungen – am ohrenfälligsten vielleicht in Solages höchst merkwürdigem Rondeau Fumeux Fume par fumee, dessen befremdliche chromatischer Alterationen möglicherweise als musikalischer Ausdruck des halluzinogenen Charakters jener Rau(s)chmittel zu verstehen sind, auf die die Formulierung des Titels anspielt… Die Texte der betreffenden Kompositionen tendieren oftmals zu Verrätselungen und Wortspielen oder sie enthalten gelehrte Anspielungen an antike Philosophen, Götter oder Mythen. Darüber hinaus spielen die Komponisten der Ars subtilior gerne mit textlichen und musikalischen Anspielungen auf andere Kompositionen – so etwa Johannes Ciconia, wenn er in seinem Virelai Sus un’ fontayne beinahe collage-artig drei Text- beziehungsweise Musik-Ausschnitte aus Werken des Magister Filipoctus de Caserta einflicht, die ihrerseits in zwei Fällen Musik- beziehungsweise Textpartien einer Komposition von Guillaume de Machaut zitieren, so dass hier ein regelrechtes Geflecht intertextueller Verweise entsteht. Bemerkenswert ist auch die Neigung der Komponisten, den Notentext ihrer Werke graphisch ungewöhnlich zu gestalten; eindrucksvolle Beispiele hierfür sind neben dem bereits erwähnten Zirkelkanon Tout par compas suy composés, dessen kompositorische Struktur Cordier durch die kreisförmig in sich selbst zurücklaufende Form der Kanonstimme veranschaulicht, auch das herzförmig niedergeschriebene Manuskript von Cordiers Rondeau Belle, bonne, sage sowie der Notentext von Jacob Senleches’ Rondeau La harpe de melodie, in dem die Notenlinien zugleich die Saiten der umrahmenden Harfe darstellen.
Lange stand die Musik der Ars subtilior in einem eher zweifelhaften Ruf. Dazu dürfte einerseits der bereits skizzierte kulturgeschichtliche Kontext beigetragen haben, der es nahelegte, die Ars subtilior nach der Hoch-Zeit der Ars nova als eine Epoche des Niedergangs, der künstlerischen Dekadenz aufzufassen. Aber auch die berüchtigte notationstechnische Kompliziertheit dieser Musik gereichte ihr nicht zum Segen: Noch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnete der (überaus verdienstvolle) Musikwissenschaftler Willi Apel, der viele Werke der Ars subtilior in moderne Notation übertragen hat, die Tonsprache jener Zeit mit pejorativem Unterton als „manieristischen Stil“, der vorwiegend aus notationtechnischer Hinsicht interessant sei; darüber hinaus seien einige Werke aufgrund ihrer rhythmischen Komplikationen „für heutige Musiker unausführbar“. Spätestens seit den 1980er-Jahren haben sich aber immer wieder großartige Musiker – so die Ensemble Project Ars Nova (PAN), Mala Punica, das Huelgas Ensemble und das Ferrara Ensemble – diesem Repertoire gewidmet und dabei bewiesen, dass es sich mitnichten um reine Gehirnakrobatik (ein Vorwurf, der lange Zeit auch Werken wie Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge und seinem Musikalischen Opfer gemacht worden war), sondern um höchst expressive Musik handelt. Wahrscheinlich ist es hörend viel unmittelbarer als durch bloße Lektüre des Notentextes zu erschließen, dass die Komplexität dieser Werke auch der rhythmisch und melodisch höchst differenzierten und insofern eben „subtilen“ Artikulation von Ausdruckswerten gilt. Vielleicht ist dieser Musik ja auch gewissermaßen der Gestus ihrer Interpretation – all die Vortragsnuancen, die die besten Musiker der damaligen in ihre musikalischen Ausführungen einfließen ließen – einkomponiert worden; in diesem Sinne nennt jedenfalls der zeitgenössische Tractatus Figurarum als Grund für die Entstehung der neuartigen Notationsformen das Bedürfnis, die Musik so notieren zu können, wie sie ausgeführt wurde. Doch wie dem auch sei: Mich fasziniert diese Musik schon seit ungefähr zwanzig Jahren. Und ich scheine nicht der einzige zu sein: Wohl kaum zufällig haben gerade einige Repräsentanten der Neuen Musik (ich denke etwa an Brian Ferneyhough oder Mark Andre) ein besonderes Interesse an der Musik der Ars subtilior bekundet. Und so war der Herbst des Mittelalters vielleicht zugleich die Morgenröte einer noch fernen Neuen Musik?
Statt nun aber weiter derart erbaulich zu spekulieren, möchte ich abschließend nur noch sagen, dass ich in diesem Thread beabsichtige, in loser Folge Komponisten und Werke sowie Einspielungen mit Musik der Ars subtilior vorzustellen und dabei auf tat-, wort- und bildkräftige Unterstützung der anderen Forenmitglieder hoffe. Ich freue mich auf Eure Beiträge!
Herzliche Grüße
Aladdin