Hans Werner Henze - der Ästhet der Neuen Musik

  • Hans Werner Henze - der Ästhet der Neuen Musik

    Der Weg des deutschen Komponisten Hans Werner Henze vom Bürgerschreck zum Ästheten mit neuromantischen Neigungen und Altmeister-Allüren scheint weit und ist dennoch kürzer als vermutet. Denn Henze gehört zu jenen Komponisten, die zwar vielleicht, um beim Bild zu bleiben, mitunter Irrwege beschritten haben, sich dabei selbst jedoch erstaunlich treu geblieben sind.

    Biografisches
    Das Biografische, mühelos als Buch und online nachzulesen, sei der Vollständigkeit halber stichwortartig dargestellt:
    - Geboren am 1. Juli 1926 in Gütersloh.
    - 1946 Kompositionsstudien bei Wolfgang Fortner, der Henze die Zwölftontechnik NICHT beibringt, weshalb er sie sich im Selbststudium aneignet.
    - 1953 Übersiedelung nach Italien, zuerst Ischia, später Marino nahe Rom.
    - Enge Freundschaft mit der österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann bis zu deren Tod, den Henze lange für einen Mord hält und (ergebnislose) private Untersuchungen dazu finanziert.
    - Engagement für den Kommunismus, tritt der KPI bei.
    - Gründer mehrerer Festivals mit dem Ziel, Musik auch an weniger gebildete Bevölkerungsschichten heranzutragen.
    - Stirbt am 27. Oktober 2012 in Dresden, wo er sich anläßlich der Aufführung seiner Oper "We come to the river" aufgehalten hat.

    Die Musik
    Henze bewundert zwei Komponisten, die scheinbar denkbar weit voneinander entfernt sind: Den neoklassizistischen Strawinski und den zwölftönigen Schönberg. Im Gegensatz zur Nachkriegs-Webernmanie, versucht Henze die Synthese von Neoklassizismus und Zwölftontechnik. Und gilt, wie fast alle Komponisten seiner Generation, die etwas Neues versuchen, sehr bald als Bürgerschreck.
    Tatsächlich ist sein Schaffen bis tief in die 1950er Jahre hinein uneinheitlich. Neben Sprödem wie dem "Concertino" für Klavier und Blasorchester mit Schlagzeug (1947) und dem Fünf Madrigale (1947) stehen Werke von großer Eleganz und, man kann ruhig sagen, strahlender Schönheit, etwa die Dritte Sinfonie (1950).
    Der Umzug nach Italien bringt auch - kein Umdenken der Musik, aber eine Klärung zugunsten eines neu definierten schönen Klanges und einer neuen Sangbarkeit der melodischen Linien. Nun beginnt sich Henze auch Benjamin Britten zu begeistern, und man hört es seiner Musik an: "Kammermusik 1958" für Tenor, Gitarre und 8 Solo-Instrumente (von Brittens Lebensgefährten Peter Pears uraufgeführt), "Ariosi" für Sopran, Violine und Orchester (1963) sowie die drei Hauptwerke der 50er Jahre, die Opern "König Hirsch" (1953-56), "Elegy for Young Lovers" (1959-61) und das abendfüllende Ballett "Undine" (1956-57) zeugen davon.
    Doch nun sitzt Henze zwischen zwei Stühlen: Seine, gewiss mit allen Freiheiten, aber doch, zwölftönig legitimierte Musik verstört ein Publikum, dessen Obergrenze, was Moderne betrifft, über Werner Egk nicht hinauswill; den delikat instrumentierten Schönklang wiederum, in den sich bisweilen auch süffige Kantilenen mischen, halten die Parteigänger der Avantgarde für einen Verrat. Für Pierre Boulez etwa ist Henze nur noch ein "gelackter Friseur".
    Als sich dann 1964 mit der Oper "Der junge Lord" auch ein echter Breitenerfolg einstellt, geifert der avantgarde-hörige Musikjournalist Ulrich Dibelius von "Konventionalität unterm kompromißfördernden Mantel der Komischen Oper". Tatsächlich ist "Der junge Lord" ein erfrischender Gruß in Richtung Tonalität, und fast scheint es, als habe Henze die Partitur von Egks "Revisor" genau studiert, ehe er sich an die Arbeit am "Lord" machte.
    1966 erfolgt dann die Uraufführung von "Die Bassariden" bei den Salzburger Festspielen - und schon der Untertitel "Opera seria" deutet darauf hin, daß Henze dieses Werk fest in der Tradition verankern will. Die Idee, symphonische Satzstrukturen in die Oper zu übernehmen, dürfte er bei Brittens "Billy Budd" ausgeliehen haben, und auch die Führung der Singstimmen (Henze komponiert das englische Original des Auden/Kallman-Librettos) gemahnt an dieses Werk, während der orchestrale Glanz bisweilen gar an Richard Strauss gemahnt.

    In der Folge stellt Henze seine Musik dann in den Dienst seines links-politischen Engagements - und es ist sein einziger Irrweg. Nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus ästhetischen: Henze vergewaltigt sein Talent und versucht, eine gezielt antibürgerliche Musik zu schreiben. Bühnenwerke wie„El Cimarrón“ (1969/70), "Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer" (1970/71), "La Cubana oder Ein Leben für die Kunst" (1972/73) und, freilich auf wesentlich höherem Niveau, "We Come to the River" (1974–1976) oder die auf Cuba uraufgeführte Sechste Sinfonie (1969) behaupten eine Demokratisierung der Musik, indem sie aleatorische Elemente miteinbeziehen, wodurch, so die Überlegung, der Musiker zum gleichberechtigten Mitgestalter neben dem Komponisten wird, oder sie kopieren Paul-Dessau-Songs.
    Am Beginn dieser Phase steht allerdings ein Meisterwerk: "Das Floß der Medusa" (1968). Doch leider hängt Henze an den humanistischen Appell ein Nachspiel an, in dem das Orchester Ho-Chi-Minh-Rufe skandiert, und irgendjemand (nicht Henze, aber mit seiner Billigung) bringt eine Rote Fahne über der Bühne an. Es beginnt eine Pressekampagne gegen das Werk, Musiker und Choristen fühlen sich zunehmend unwohl. Die Uraufführung geht im Skandal unter, muß abgebrochen werden und findet 1971 in Wien statt. 1990 revidiert Henze den Schluß zugunsten einer rein humanistischen Aussage.
    Ein Ausnahmewerk ist auch "Tristan" (1973), eine Art Klavierkonzert, in das auch Tonbandklangmontagen miteinbezogen werden: Henzes erste intensive Auseinandersetzung mit dem lange gehaßten Wagner resultiert in einem Werk voll intensiver Leidenschaft, eruptive Klanggewalt und letzte Zärtlichkeit prägen ein Ausnahmewerk von einzigartiger Schönheit, das aus dem Kanon der politisch motivierten Werke herausfällt (und nur verbal wieder hineinargumentiert wird).

    Mitte der 70er Jahre rückt Henze dann zwar nicht persönlich von seinem gesellschaftspolitischen Engagement ab, aber es scheint, daß er den öffentlichen Klassenkampf aufgibt und ihn als persönlichen Freiraum betrachtet. Einen bedingungslosen Frieden mit der Gesellschaft schließt er nicht, davon zeugen noch selbst späte Werke wie Sinfonia N. 9 (1995–1997), aber das absichtlich Rabaukenhafte fällt weg, die allzu heftig gestikulierende Anklage wird immer öfter zur Klage. Und es wird auch wieder eine Musik möglich, die keinen unmittelbaren politischen Kontext herbeizwingt, sondern sich wieder auf Henzes frühere Suche nach der klassischen Schönheit begibt, etwa in der grandiosen Siebenten Sinfonie (1983/84) und in der fast romantischen, an Shakespeares "Sommernachtstraum" angelehnten Achten Sinfonie (1992/93), die es wagt. sofern man diese Ausdrücke miteinander verbinden kann, ein bedeutendes Leichtgewicht zu sein, während "Requiem - neun geistliche Konzerte" für Klavier, Trompete und Kammerorchester (1992) für den an Aids verstorbenen Michael Vyner zu einer Musik werden, in der die Klage in auf eine Weise in Verklärung übergeht, daß man an dem von Henze dezidiert behaupteten nicht-religiösen Hintergrund zu zweifeln beginnt.

    Doch nun stellt sich ein neues Problem ein: Hatte Henze schon immer schnell und viel komponiert, wird er nun nahezu zum Skribomanen. Kein anderer Komponist hat ein zahlenmäßig dermaßen reiches Alterswerk. Bei Henze scheint es, als seien alle Schleusen geöffnet. Er, mittlerweile längst nicht mehr hinterfragter Altmeister der deutschen Musik, schreibt Werk um Werk - und keineswegs alles in hoher Qualität. Die Handwerklichkeit übertrifft längst die Inspiration, und so herrlich eine Oper wie "L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe" (2000–2003) auch klingen mag: Verglichen mit früheren Werken wie "König Hirsch" oder "Die Bassariden" ist es nun nur noch die bewundernswerte Routine eines herausragend begabten Komponisten, der jetzt einen dichten Satz an die Stelle der früheren Klarheit treten läßt, dies (instinktiv) vielleicht auch, um den bisweilen deutlichen Mangel an Substanz durch ein Gestrüpp wuchernder Nebenstimmen zu verbergen.

    Der Mensch
    Im Grunde war Hans Werner Henze immer ein Ästhet, der Bildung und Schönheit über die Maßen schätzte. Trotz seines linken Engagements steht seine Lebensführung und wohl auch sein Auftreten dem Klischee englischer Aristokraten näher als jenem fanatischer Kommunisten. Dementsprechend brachten ihm sein schloßähnliches Anwesen, seine Bevorzugung von teuren Autos, Rassehunden und -katzen auch immer wieder Fragen ein, wie er seine Lebensführung mit seinem politischen Engagement in Übereinstimmung bringen könne. "Ein Kommunist im Rolls Royce ist besser als ein Faschist im Panzer", war eine von Henzes Antworten. Wobei seine durch ihn selbst öffentlichgemachte Homosexualität zweifellos einen großen Einfluß auf sein Engagement hatte. Immerhin meinte sein Vater, ein fanatischer Nationalsozialist, "sowas" wie sein Sohn gehöre in die Gaskammer. Henze fühlte sich also, seit ihm seine Veranlagung bewußt wurde, als Außenseiter, und versuchte, vielleicht zeitweise allzu aggressiv, sich seinen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Er machte das nicht nur durch seine musikalischen Werke, sondern auch durch bemerkenswert gut geschriebene Essays. Seine Autobiographie "Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen" (1926–1995/1991) wird allerdings zur larmoyanten Selbstvergötzung. Wesentlich interessanter lesen sich da schon die Werk-Tagebücher, mit denen er zentrale Werke seines Schaffens begleitete, etwa "Wie 'Die Englische Katze' entstand" (1997) oder "L’Upupa. Nachtstücke aus dem Morgenland. Autobiographische Mitteilungen" (Berlin 2003).
    Die vielleicht bitterste Erfahrung in Henzes Leben war im April 2007 der Tod seines Lebensgefährten Fausto Moroni, mit dem er seit 1964 ohne jeglichen öffentlichen Skandal zusammenlebte. Henze selbst hatte zuvor einen Schwächeanfall erlitten; er soll Moronis Tod als eine Art Opfer für sein eigenes Leben gewertet haben. Was letzten Endes bedeuten würde, daß der menschlich immer ästhetisch auftretende, aber auch glatt und unverbindlich wirkende Hans Werner Henze alle Attitüde nur benützte, um sein fragiles Innenleben zu schützen.

    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Vielen Dank für diese interessante Darstellung zu Henzes Leben und Werk. :juhu:

    Aber man sollte nicht vergessen, dass nicht nur konservatives Publikum sondern wohl auch zeitgenössische Kollegen Probleme mit Henzes Werk hatten. In einer Henze Würdigung - ich meine in 3Sat - wurde erwähnt, dass - ich glaube Stockhausen u.a. - eine seiner Uraufführungen demonstrativ verlassen haben sollen. Vielleicht weiss hierzu ja jemand näheres und schreibt etwas dazu. Es soll gewesen sein, weil sie Henzes Werk für zu schön hielten. Wenn das stimmt, ist dann Hässlichkeit en wesentliches Kriterium moderner Kunst? :hide:

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum (Nietzsche)
    In der Tat spuckte ... der teuflische Blechtrichter nun alsbald jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten von Radios übereingekommen sind Musik zu nennen (H Hesse)
    ----------------------------
    Im übrigen bin ich der Meinung, dass immer Sommerzeit sein sollte (gerade im Winter)

  • Vielen Dank zunächst an Edwin für die fulminante Threaeröffnung!

    Meine erste Begegnung mit Henzes Werk war das von Edwin angesprochene Meisterwerk "Das Floß der Medusa" live in Hamburg unter Ingo Metzmacher. Das dürfte so ca. gute 10 Jahre her sein und war auch eine Art Wiedergutmachung für den Eklat anläßlich der Uraufführung des Werks.

    Zu Henzes Verhältnis zu den avantgardistischeren Vertretern der Neuen Musik gibt das berühmte Spiegel-Interview mit Pierre Boulez von 1967 gut Auskunft:

    "http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46353389.html"

    Kleine Kostprobe:

    Zitat

    SPIEGEL: Aber unter den einigen hundert Opern, die seit Bergs "Lulu" komponiert wurden, müssen doch ein paar sein, über die sich reden läßt. Der weltweite Erfolg, den zum Beispiel Hans Werner Henze mit seinen Opern hat, kann kaum ein Zufall sein.

    BOULEZ: Henzes Produkte sind wahrhaftig keine modernen Opern. Ich denke da immer an einen lackierten Friseur, der einem ganz oberflächlichen Modernismus huldigt. Henzes "Prinz von Homburg" zum Beispiel ist ein unglücklicher Aufguß von Verdis "Don Carlos" -- von seinen andern Opern ganz zu schweigen. Henze ist wie de Gaulle, er kann jeden Mist machen, er glaubt, daß er immer König ist.


    Und passend zu unserer Regietheater-Debatte im Forum dann noch diese Stelle:


    Zitat

    SPIEGEL: Können Sie sich auch eine Zusammenarbeit mit dem Italiener Zeffirelli vorstellen?

    BOULEZ: Zeffirelli ist der Henze unter den Regisseuren. Man muß allerdings einräumen, daß bei dem augenblicklichen Opernbetrieb es ja auch ausgeschlossen ist, daß irgend jemand mal eine abenteuerliche Regieleistung vollbringt. Ich habe den Eindruck, daß den Opernintendanten ein spießiger Regisseur schon zu abenteuerlich ist.


    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • In einer Henze Würdigung - ich meine in 3Sat - wurde erwähnt, dass - ich glaube Stockhausen u.a. - eine seiner Uraufführungen demonstrativ verlassen haben sollen. Vielleicht weiss hierzu ja jemand näheres und schreibt etwas dazu.

    Es gab mal einen heftigen Briefwechsel zwischen Henze und Lachenmann,
    nachdem Lachenmann (der im Publikum saß) ihn wegen seiner Ästhetik
    kritisiert hatte und Henze dies wiederum in seinem
    "Englische-Katze-Tagebuch" mißbilligend (und mit Polemik gewürzt)
    erwähnt hatte - nachzulesen u. a. im Lachenmann-Buch "Musik als
    existenzielle Erfahrung".

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Danke an Symbol für die ersten Hinweise hierzu.

    Gibt es ernstzunehmende Argumente dafür, die eine Diskussion über das Wesen moderner Musik begründen können oder ist das ganze mehr unter Kollegen-Neid abzuhaken?

    Ich kann dazu leider nichts beitragen, da ich mich ausser Stande sehe ein Qualitätsurteil über moderne Musik abzugeben. Entweder sie interessiert, ist spannen etc oder nicht.
    Ich habe mich bisher auch nur sporadisch mit moderner Musik beschäftigt und will da etwas nachholen.

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum (Nietzsche)
    In der Tat spuckte ... der teuflische Blechtrichter nun alsbald jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten von Radios übereingekommen sind Musik zu nennen (H Hesse)
    ----------------------------
    Im übrigen bin ich der Meinung, dass immer Sommerzeit sein sollte (gerade im Winter)

  • Lieber Erzherzog, falls es Dir nicht um Hans Werner Henze speziell, sondern um zeitgenössische Musik generell geht: Da gibt es bereits mehrere Threads, z. B.: Sag mir, wo die Blumen sind - Wohlklang in zeitgenössischer Musik. Vgl. auch hier: Musiktheorie & Musikgeschichte: Von der Aufklärung bis in die Gegenwart.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • In einer Henze Würdigung - ich meine in 3Sat - wurde erwähnt, dass - ich glaube Stockhausen u.a. - eine seiner Uraufführungen demonstrativ verlassen haben sollen.

    "Traumatisch auch die Erfahrungen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Noch schlimmer, als 1957 in Donaueschingen seine Nachtstücke und Arien uraufgeführt wurden: »Nach den ersten Takten schon haben sich Pierre (Boulez), Gigi (Nono) und Karlheinz (Stockhausen) gemeinsam erhoben und sind rausgegangen«, klagte Henze 2004 in der ZEIT, als sei’s gestern gewesen. Diese Wunde hat sich nie ganz geschlossen, wobei Henze aus dem romantischen Selbstverständnis, in das er flüchtete, Kapital zu schlagen wusste: »Der Kummer über zerfetzte Gefühle«, pflegte er festzustellen, »produziert ja sehr brauchbare Noten.« Worauf Helmut Lachenmann einmal geantwortet haben soll: »Es ist nicht gesagt, dass einer in der Tradition wurzelt, bloß weil er darin wurstelt.«"

    Quelle: ZEIT 45/2012 S. 54

  • Ach, was für ein Gegackere von Boulez, Stockhausen und Lachenmann........

    Habe Henze selber letztes Jahr noch erlebt, als er bei uns war.
    Wir haben die "englische Katze" sowie seine achte Sinfonie mehrfach aufgeführt.

    Das sind beides enorm ausgetüftelte Werke von hohem Wert, wie ich finde.

    Wir haben die achte Sinfonie vier mal aufgeführt, und-endlich- beim vierten male hat sich diese sauschwere Sinfonie auch mir in etwa erschlossen.
    Das ist ein tolles Werk, aber es brauchte seine Zeit für mich.........
    Und dann habe ich das mit Genuß gespielt, so was macht für mich auch ein Meisterwerk aus.
    Übrigens ging es meinen Kollegen ziemlich genau so.

    Auf einmal sagten fast alle, daß diese achte Sinfonie ein ganz tolles Werk sei.
    Vorher haben alle geschimpft, weil diese Sinfonie sehr, sehr schwer ist.

    Aber wie das bei uns Orchestermusikern halt so ist:
    Sobald man erkannt hat, daß es sich wirklich um ein Meisterwerk handelt, dann gibt man alles, wirklich alles.

    Allerdings war Henzes Hörgerät wohl defekt, denn er hat uns einen längeren Brief geschrieben, in dem zu lesen war, daß er seine achte Sinfonie noch niemals so gut gespielt hörte.....

    Nun ja..... ;+)

    Ja, die Zeit vergeht, bei Henzes 60.Geburtstag habe ich auch gespielt.
    Damals war er Professor in Köln, und seinen sehr warmen Händedruck nach diesem Konzert werde ich nie vergessen.
    Bin stolz drauf.


    Ach ja, was Boulez angeht: Was hat er wichtiges komponiert in den letzten Jahren?

    Henze hat bis zum Schluß komponiert, und ich bin mal gespannt, was bleiben wird.
    Bei seiner Qualität denke ich doch, daß es einiges sein wird.

    Gruß,
    Michael

    P.S.

    Zitat

    Gibt es ernstzunehmende Argumente dafür, die eine Diskussion über das
    Wesen moderner Musik begründen können oder ist das ganze mehr unter
    Kollegen-Neid abzuhaken?

    Ja.

    Zitat

    Ich kann dazu leider nichts beitragen, da ich mich ausser Stande sehe
    ein Qualitätsurteil über moderne Musik abzugeben. Entweder sie
    interessiert, ist spannen etc oder nicht.

    Das ist ganz subjektiv, es gibt ja auch Leute, welche "moderne" Musik von Lena spannend finden.

  • Danke für die Antworten, In die Richtung vermutete ich schon.

    Hässlichkeit als wesentliches Kriterium für moderne Musik, wäre wohl doch ziemlich absurd.

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum (Nietzsche)
    In der Tat spuckte ... der teuflische Blechtrichter nun alsbald jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten von Radios übereingekommen sind Musik zu nennen (H Hesse)
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    Im übrigen bin ich der Meinung, dass immer Sommerzeit sein sollte (gerade im Winter)

  • Danke für die Antworten, In die Richtung vermutete ich schon.

    Hässlichkeit als wesentliches Kriterium für moderne Musik, wäre wohl doch ziemlich absurd.

    Das ist offensichtlich auch nicht der Inhalt der Kritik des noch vergleichsweise jungen und zornigen Boulez' an Henze. "Oberflächlicher Modernismus" bedeutet zwar wohl "falsche/keine Avantgarde", aber es bedeutet nicht hübsch statt hässlich.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Henze erinnert mich manchmal allein schon aufgrund des Umfangs seines Gesamtwerkes sowie dessen Breite an einen Komponisten aus früherer Jahrhunderten. Er beherrschte die unterschiedlichsten Formen und Sprachen in der Musik und hatte, was mich stets sehr beeindruckt hat, den Mut sein Leben lang einen eigenen Weg zu gehen - auch den Mut bei aller Modernität, Traditionen nicht zu verleugnen.

    Ich habe sicherlich keinen Überblick über sein Gesamtwerk, schätze aber sehr seine 8. und 9. Sinfonie.
    Außerdem durfte ich vor vielen Jahren "Das Floß der Medusa" bei der Kölner-Musik-Trienale live erleben. Ein sehr einprägsames Ereignis. Musik, die einen verändert zurücklässt.

  • Gedenkkonzert in Köln

    "Am 11. November um 20 Uhr widmen Musiker, die über viele Jahre hin das Werk des Komponisten gepflegt haben, seinem Andenken ein Konzert in der Kölner Philharmonie. Unter der Leitung von Markus Stenz spielen das Ensemble Modern, der Pianist Ueli Wiget und der Trompeter Håkan Hardenberger Henzes „Requiem“. Dieses Werk, das der Komponist beeinflusst durch den Tod des 1989 verstorbenen langjährigen Leiters der London Sinfonietta, Michael Vyner, geschrieben hatte, wurde am 24. Februar 1993 in seiner Gesamtfassung in der Kölner Philharmonie uraufgeführt.

    Mit seinem „Requiem“ wollte Henze nicht nur dem langjährigen Freund gedenken, dessen Verlust, wie Henze sagte, „hier auch für den Verlust der vielen anderen steht, die ebenfalls in dieser Zeit tragisch und leidvoll aus unserer Welt gegangen sind.“ Es spreche auch „von den Ängsten und Nöten der Menschen dieser Zeit, von Krankheit und Tod, von der Liebe und von der Einsamkeit.“

    Diese Veranstaltung ist das offizielle Gedenkkonzert des Landes Nordrhein-Westfalen und der Kunststiftung NRW, veranstaltet von der KölnMusik. Das Bedürfnis der Veranstalter ist es, dieses Gedenkkonzert möglichst kurz nach dem traurigen Ereignis von Hans Werner Henzes Tod stattfinden zu lassen. Trotz karnevalistischen Treibens in der Stadt ist die Würde des Anlasses in keinem Moment infrage gestellt.

    Der Eintritt zu diesem Konzert ist frei."

    (Quelle: http://www.koelner-philharmonie.de/news/142/)

  • Da, das momentan eines der Werke ist, die mich stark beschäftigen : Wer kennt Henzes Nachgestaltung zu Monteverdis Odysseus?

    Lohnt sich diese Aufnahme? Wie geht Henze an die Sache heran?

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

  • Lohnt sich diese Aufnahme?


    Aber ja! Ich hatte 1985 die im Radio live übertragene Uraufführung der Henze-Bearbeitung durch Jeffrey Tate bei den Salzburger Festspielen auf Tonband mitgeschnitten und das Anhören dieses Tonbands in den folgenden Jahren gab mir den Kick, mich (erstmals) mit Monteverdi zu beschäftigen. Als Orfeo den von Dir abgebildeten Live-Mitschnitt endlich "offiziell" veröffentlichte, konnte ich mich in noch besserer Tonqualität an dieser Salzburger Produktion - mit exzellenten Sängern, allen voran Kathleen Kuhlmann - erfreuen. Eine überaus lohnende Anschaffung, diese Orfeo-Box.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Lohnt sich diese Aufnahme? Wie geht Henze an die Sache heran?

    Die Aufnahme lohnt sich unbedingt. Henze geht so an die Sache heran, daß er alle Noten, die von Monteverdi überliefert sind, beläßt, also durchgehend Singstimme und Baß sowie die mehrstimmigen Ritornelle. Er füllt allerdings die Harmonien mit eigenem Material auf, das sich überraschend gut dem Renaissance-Klang anschmiegt, wie auch das Orchester eine seltsame Transformation des "alten Klanges" darstellt. Henze sprach in diesem Zusammenhang einmal von einem "Traum über die Oper der Renaissance".
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Henze habe ich über Jahrzehnte kaum beachtet, vielleicht weil sein Werk-Katalog denkbar unübersichtlich scheint, vielleicht weil bereits, was er unter der Bezeichung Sinfonie veröffentlichte - schlechthin die aus der Tradition motivierte oder eben im bewusster Abkehr zu ihr so benannte Musikform -, kaum innere und äußere Zusammenhänge erkennen lässt, vielleicht weil sich ein Personalstil beim besten Willen nicht erkennen lässt. Vielleicht, vielleicht auch nicht; vielleicht stimmt, was ich soeben geäußert habe, auch gar nicht oder ist denkbar diskussionswürdig.

    Sei's drum. Ich fange erst an, ihn wirklich zu entdecken, mich endgültig von ignoranten Klischees zu lösen (unzugänglicher Neutöner und Revoluzzer ...). Edwins glänzende Einführung habe ich erstmals heute gelesen; mittlerweile wusste ich vieles, was dort formuliert wird, bereits, aber gewiss nicht alles. Den meinungsbetonten Aussagen kann ich, soweit ich mich dazu für kompetent genug halten möchte, praktisch uneingeschränkt zustimmen. An erster Stelle steht dabei das Diktum, dass Henze ein Ästhet schlechthin gewesen ist und dass er mit dem inneren Widerspruch, einem Widerspruch nicht weniger einst radikal Linker, zu leben bereit war und sich dazu auch bekannt hat. Das macht ihn auf eine Weise sympathisch, die mir nicht immer so gegenwärtig war - zuletzt gewiss auch nicht nach der Lektüre des Schlüsselromans Tristanakkord von Hans-Ulrich Treichel. Henze mag ein "Großkomponist" gewesen sein; nur waren dann meines Erachtens die Herren Nono, Stockhausen und Boulez noch viel größere Fundamentalisten und Stockhausen zusätzlich noch etwas ganz anderes ... :P :huh:

    Ich könnte mir augenblicklich gut vorstellen, mich hier gelegentlich zu melden. Aktuell sind mir neben wenigen und deutlich länger bekannten Mitschnitten vom Rundfunk - beinahe seit dessen Uraufführung kenne ich etwa den Vitalino Radoppiato - die im Folgenden verlinkten CDs gegenwärtig, alles Anschaffungen der letzten Jahre und im Laufe der letzten Woche neu oder gar erstmals gehört. Da fehlt neben der Kammermusik noch hochgradig die Vokalmusik - für Letztere brauche ich stets etwas länger, aber sie wird wohl an die Reihe kommen. :D :) Ansonsten wage ich jedoch die Behauptung, dass ein relativ großes chronologisches Spektrum seines Schaffens abgebildet sein dürfte.

    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Danke lieber andréjo für das Heraufholen dieses Threads und die Inspiration, ich habe bei "Wien modern" seinerzeit Henzes Mänadenjagd, von Claudio Abbado dirigiert, live gehört und nun, angeregt durch Deinen Impuls hier, die CD mit dem Livemitschnitt von damals endlich bestellt.

    Und die Henze DGG Komplettbox habe ich nebst einigen von Dir gezeigten CDs mal vorgemerkt für irgendwann.

    Locken würde mich auch der Briefwechsel Bachmann - Henze, den setze ich auch auf die Liste.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Nachtstücke und Arien

    Dank an Alexander für die Rückmeldung! - Stichwort Bachmann/ Henze. Da würde ich gerne kurz meine Meinung zu den Liedvertonungen im Kontext der Komposition Nachtstücke und Arien für Sopran und Orchester ["für Orchester und Sopran" wäre richtiger; s.u. :P ] aus dem Jahre 1957 formulieren:

    Laut Booklet hat Henze 1955 in einem Brief an seine Freundin Ingeborg Bachmann sich wie folgt geäußert: "tatsächlich möchte ich, so wie ich glaube, dass Du die schönsten gedichte des jahrhunderts schreibst, die schönste musik von heute schreiben", die Äußerung - in "einer immer härter und materialistischer werdenden Welt" (Booklet) - der erkennbar hochschätzenden Empathie eines selbstbewussten Ästheten einer selbstbewussten Ästhetin gegenüber.

    Der zweite Satz vertont einen mir nicht bekannt gewesenen vierzeiligen und dann für die Komposition von der Autorin zum Achtzeiler erweiterten Text, dessen erster Vers lautet "Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen", das zweite Gedicht figuriert vor dem Hintergrund des vierten Satzes der fünfsätzigen Komposition und ist das recht bekannte "Freies Geleit", ein bildkräftiges, aber traditionell formstrenges Gedicht über eine vom Atomkrieg bedrohte Welt, eingefangen in Naturmetaphorik von großem Reiz.

    Die anderen drei Sätze sind rein instrumental gehaltene Notturni, im besten Sinne des Wortes in der Tat "schöne" Musik. Mit den Mitteln einer reichhaltigen, transparenten und erweitert tonal schillernden Klangsprache wird die Atmosphäre der Gedichte eingefangen. Und es ist meines Erachtens wirklich so, dass Henzes Musik genau in dem Maße zugleich modern und traditionsbewusst erscheint, wie dies für Bachmanns Sprache gilt: die expressive Gewalt nachvollziehbarer und nur bedingt hermetischer Bilder, dennoch kaum verbrauchte Topoi, dafür überraschende Attribuierungen und manch vertrautes oder sogar banales Adjektiv in eigenwilliger Umgebung.

    Und doch hat mich der Gesangspart nicht überzeugt; mir wäre bloße Rezitation, ein melodramatisches Konzept lieber gewesen. Vielleicht liegt es auch an Claudia Barainsky, dem Sopran, der recht verhalten eingefangen wird, wie aus dem Hintergrund, so dass man Mühe hat, den Text zu verstehen. Ich glaube aber, dass das nicht der Hauptgrund ist. Die sehr hoch geführte Sopranstimme bleibt, unabhängig von der konkreten Sängerin, in jeder Hinsicht blass, unklar zwischen Tonalität und Atonalität hängend, weder melodisch motiviert noch rezitierend, austauschbar. Eine unsichtbare Mauer zwischen den Künsten?

    In diesem Zusammenhang ist mir mittlerweile auch aufgefallen, dass Henze seine Musik oft in einer sehr präzisen, konkreten Weise aufschlüsselt (Shakespeare-Szenen oder Hölderlin-Biographisches zum Beispiel), die nachzuvollziehen mir reichlich schwer fällt, was der anziehenden Wirkung der Musik indes keinen Abbruch tut.

    :) Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

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