Schostakowitsch, Dmitri: Sinfonie Nr. 7 - "Leningrader"
Wer hat in der Klassikforenwelt bessere Einführungsbeiträge zu den Schostakowitsch-Sinfonien geschrieben als ThomasN (hier unser geschätzter Knulp).
Was soll man da noch selber Neues schreiben ???
Damit der Beitrag nicht in den unweiten des Internets versackt, erlaube ich mir diesen hier einzufügen:
Liebe Schostakowitsch-Freunde!
Willkommen zur nächsten Folge der Reihe über Schostakowitschs Sinfonien, diesmal anknüpfend an einen bereits bestehenden Thread.
Die siebte Sinfonie ist umgeben Merkwürdigkeiten. Obgleich sie als eine der populärsten Sinfonien Schostakowitschs, ja, des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts gilt, hören die Meisten von ihr nur den ersten Satz. Obgleich über diese Sinfonie so viel geschrieben wurde wie über kaum eine andere Sinfonie von Schostakowitsch, ist die Bedeutung der Sinfonie noch immer nicht klar, ist die Deutungsgeschichte von extremen Wechseln der Auffassungen geprägt. Zunächst hieß es, behandelt würde der Abwehrkampf gegen Hitler-Deutschland. Die in der "Invasionsepisode" angreifenden deutschen Truppen würden siegreich in die Flucht geschlagen. Dann, anknüpfend an die Wolkow-Memoiren
(dort heißt es: "Über die Siebte und die Achte habe ich mehr dummes Zeug zu hören bekommen als über meine übrigen Arbeiten. Merkwürdig, wie langlebig solche Dummheiten sind. Manchmal verblüfft mich, wie denkfaul die Menschen sind. Alles, war über diese Symphonien in den ersten Tagen geschrieben worden ist, wird unverändert bis zum heutigen Tag wiederholt. Dabei gab es doch genügend Zeit zum Nachdenken, Der Krieg ist schließlich längst zu Ende, liegt fast dreißig Jahre hinter uns. Vor dreißig Jahren konnte man wohl sagen, dass es Kriegssymphonien seien… Man betrachtet die Vorkriegszeit heute gern als Idylle. Alles war schön und gut, bis Hitler kam. Hitler war ein Verbrecher, nicht zu bezweifeln. Aber auch Stalin war ein Verbrecher. Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Befehl Ermordeten. Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Es gab sie in unserem Lande schon zu Millionen, ehe der Krieg gegen Hitler begonnen hatte. Der Krieg gegen Hitler brachte unendlich viel neues Leid, neue Zerstörungen. Aber darüber habe ich die schrecklichen Vorkriegsjahre nicht vergessen. Davon zeugen alle meine Symphonien. Die Siebte und Achte gehören auch dazu."),
die dazu führten, dass Schostakowitsch zunehmend als Regimekritiker, als musikalischer unter der Oberfläche-Dissident entdeckt wurde, wurde konstatiert, dass Schostakowitsch sich mit der siebten Sinfonie nicht nur gegen die Gewalt der angreifenden Deutschen, sondern auch und vor allem gegen die Gräuel des Stalinismus wende. Sodann wurde abstrahierend behauptet, die Sinfonie sei „ein musikalisches Porträt menschlicher Dummheit und Gewalttätigkeit“, wie Wersin es in seinem CD-Führer formuliert, wende sich gegen das Böse, gegen die menschliche Brutalität schlechthin. Schließlich wird die Meinung vertreten, eine konkrete Deutung der Sinfonie verbiete sich, da eine solche angesichts der Vielgestaltigkeit der möglichen Interpretationen unmöglich sei. Das
Werk sei musikalisch zu verstehen, nicht literarisch.
Meine Meinung zu dieser Kontroverse werde ich unten im Rahmen der Werkbeschreibung äußern. Jetzt soll es erst einmal um die geschichtlichen Fakten gehen:
1. Geschichtlicher, biographischer Hintergrund
Wie wir gesehen haben, ist Schostakowitsch dem stalinistischen Terror glücklich entronnen, vor allem durch die offizielle Darstellung der fünften Sinfonie als Antwort eines Künstlers auf gerechtfertigte Kritik und das fleißige Schreiben von Filmmusik. Schostakowitschs Rehabilitation, mit dem Triumph der fünften Sinfonie beginnend, nahm ihren Weg über die Professur am Leningrader Konservatorium, die Wahl in den Vorstand der Leningrader Abteilung des Komponistenverbandes und die Komposition des zugänglichen und damit ganz auf der offiziellen Linie stehenden ersten Streichquartetts. Vollständig wurde die Rehabilitation aber erst mit der Verleihung des Stalinpreises, der größten Auszeichnung, die einem Komponisten in der Sowjetunion zuteil werden konnte, im März 1941 für das Klavierquintett, eines der schönsten Werke Schostakowitschs überhaupt. Schostakowitsch persönlich hatte es im November 1940 gemeinsam mit dem Beethoven Quartett mit triumphalem Erfolg uraufgeführt.
Im Juni 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion. Bald schon wird Leningrad von den deutschen Truppen belagert. Rund zweieinhalb Jahre lang wurde Leningrad systematisch von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Unfassbares Elend war die Folge. Die Menschen erfroren, verhungerten. Von den drei Millionen Einwohnern Leningrads kam jeder dritte um.
Schon in den ersten Kriegstagen meldete Schostakowitsch sich freiwillig, wurde jedoch nicht genommen. Als Komponist und war er wichtiger. Mit der Konservatoriumsbrigade hob er Schützengräben aus, wurde er als Brandwache eingesetzt.
Unter fortwährendem Artilleriebeschuss begann Schostakowitsch die Komposition der siebten Sinfonie – der umstrittenen Frage, ob Schostakowitsch die Sinfonie nicht bereits deutlich früher begonnen hat, soll hier nicht nachgegangen werden.
Bei Krzysztof Meyer heißt es: „Am 19.07 [1942] begann Schostakowitsch seine Arbeit an einer neuen Symphonie, die den Mut des Landes rühmte und dem heroischen Kampf gewidmet war. Es war nahe liegend, dass sich Schostakowitsch bei der Wahl der Gattung für eine Symphonie entschied. Nach Beendigung des Werkes bekannte er: „Ich wollte ein Werk über unsere Menschen schreiben, die in ihrem im Namen des Sieges geführten Kampf gegen den Feind zu Helden werden… Als ich an der neuen Symphonie arbeitete, dachte ich an die Größe unseres Volkes, an seine Heldenhaftigkeit, an die wunderbaren humanistischen Ideen, an die menschlichen Werte, an unsere wunderschöne Natur, an die Menschlichkeit, an die Schönheit… Mein Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem sicheren Sieg über den Feind und meiner Heimatstadt Leningrad.““
Im Oktober 1942 wurde Schostakowitsch mit seiner Frau und seinen beiden Kindern aus Leningrad evakuiert und wie andere Künstler auch in den Ural in Sicherheit gebracht. Dort, in Kujbyschew, komponierte er die Sinfonie zu Ende, dort fand am 5. März 1942 die Uraufführung statt. Schnell wurde die siebte Sinfonie zum Symbol des nationalen Widerstands. Es wurde sogar eine Aufführung im belagerten Leningrad organisiert, für die die Orchestermitglieder von der Front zurückbeordert und mit Extrarationen aufgepäppelt wurden. Schostakowitsch erhielt für die Sinfonie, die er der Stadt Leningrad widmete, erneut den Stalinpreis.
Schostakowitsch hat den einzelnen Sätzen zunächst Namen gegeben (1. Der Krieg, 2. Erinnerungen, 3. Die großen Lebensräume meines Vaterlands, 4. Der Sieg), auf deren Verwendung später jedoch verzichtet. Für die Aufführung der Sinfonie am 29. März 1942 in Moskau schrieb er allerdings ein Programm. Es lautet (von mir übersetzt aus der englischen Fassung im Mrawinsky-CD-Booklet, die im Buch von Blokker/Dearling „The Music of Dmitri Shostakovich, The Symphonies“ wiedergegebene englische Fassung weicht in Einzelheiten ab):
„Die siebte Sinfonie ist ein programmatisches Werk, inspiriert von den tragischen Ereignissen von 1941. Sie besteht aus vier Sätzen.
Der erste Satz erzählt von unserem wundervollen, friedlichen Leben, plötzlich unterbrochen durch eine feindliche Kraft, dem Krieg. Ich beabsichtigte nicht, ein naturalistisches Bild der Kampfhandlungen (Summen der Bomber, Rumpeln der Panzer, Kanonenschüsse) zu schaffen. Ich komponierte kein Schlachtengemälde.
Die Exposition des ersten Satzes beschreibt die Fröhlichkeit des Volkes, zufrieden mit sich und zuversichtlich bzgl. der Zukunft. Es ist ein einfaches friedliches Leben, welches Tausende von Leningradern, welches die ganze Stadt, welches das ganze Land vor dem Krieg gelebt hat.
Das Kriegsthema durchläuft die gesamte mittlere Episode.
Die zentrale Stelle im ersten Satz wird von einem Trauermarsch eingenommen, oder, genauer, von einem Requiem für die Opfer des Krieges. Das sowjetische Volk hält die Erinnerung an ihre Helden in Ehren. Dem Requiem folgt eine noch tragischere Episode. Ich weiß nicht, wie ich diese Musik beschreiben soll. Vielleicht spricht sie von den Tränen der Mütter oder sogar von dem Kummer, der so groß ist, dass keine Tränen mehr übrig sind. Nach einem langen Fagott Solo, das die geliebten Toten betrauert, kommt ein optimistisches und lyrisches Finale des ersten Satzes. Ganz am Ende des ersten Satzes allerdings taucht das Kriegsthema noch einmal auf, sich selbst und die weiteren Kämpfe zurück ins Gedächtnis bringend
Der zweite Satz ist ein sehr lyrisches Scherzo. Dies sind Erinnerungen an angenehme Ereignisse, fröhliche Episoden. Ein zarter Hauch von Traurigkeit und Verträumtheit umgibt das alles.
Der dritte Satz ist ein pathetisches Adagio. Die Wertschätzung des Lebens, die Verehrung der Natur – dies sind die Ideen des dritten Satzes. Der dritte Satz geht ohne Unterbrechung in den vierten über.
Wie der erste, ist der vierte Satz für das Werk besonders wichtig. Der erste Satz ist der Kampf, der vierte Satz ist der nahende Sieg. Der vierte Satz beginnt mit einer kurzen Einleitung gefolgt von der Darlegung des ersten Themas, lebhaft und aufgewühlt. Dann tritt das zweite Thema auf – ein majestätisches. Dieses zweite Thema ist die Apotheose der gesamten Komposition. Die Apotheose entwickelt sich in Ruhe und mit Zuversicht, wird kraftvoll und majestätisch am Ende…[Es folgen Ausführungen über die Rolle der Künstler, die hier nicht interessieren]“
Wir heutigen Leser wissen, dass von den von Schostakowitsch zu Beginn des Programms beschworenen ruhigen und friedlichen Zeiten vor dem Kriege keine Rede sein konnte. Das bedeutet aber nicht, dass das Programm auch im Übrigen falsch sein muss. Im Gegenteil halte ich dieses Programm mit Abweichungen im Einzelnen nach wie vor für den besten Leitfaden zur siebten Sinfonie. Wir werden sehen warum.