Franz Schubert: Die schöne Müllerin op. 25 D 795
Neben der später entstandenen „Winterreise“ basiert der 1823 von Franz Schubert komponierte Liederzyklus für Singstimme und Klavier ausschließlich auf Texten von Wilhelm Müller (1794-1827), hier von Schubert ausgewählt aus einer 1821 erschienenen Gedichtsammlung Müllers.
Wahrscheinlich ist der Zyklus zu Lebzeiten des Komponisten in kleinerem oder größerem Rahmen aufgeführt worden, belegt ist eine zyklische Aufführung erst 1856 in Wien. Die Spieldauer des gesamten Zyklus beträgt bei den meisten der vielfach verfügbaren Aufnahmen des oft eingespielten Werks knapp über 60 Minuten.
Die 20 Lieder erzählen die unglücklich verlaufende Liebesgeschichte eines Müllergesellen, 1 bis 18 aus der Sicht des Gesellen, 19 als Dialog zwischen dem Gesellen und dem diesen durch die Geschichte nahezu wie ein menschlicher (oder mephistophelischer?) Vertrauter begleitenden Bach und 20 gar als Lied des Bachs selbst.
Der Müllergeselle wandert einen Bach entlang, gelangt zu einer Mühle, kann dort zu arbeiten beginnen, verliebt sich in die Müllertochter und darf offenbar kurz auf positive Erwiderung seiner Gefühle hoffen (Lieder 1 bis 13). Ein Jäger (Lied 14) macht aber das Rennen, das muss der Geselle rasch als unabwendbar hinnehmen, was zu Liebeskummer, Verzweiflung und Suizidtod im Bach führt (Lieder 15 bis 20).
Acht der 20 Lieder sind in Strophenform gehalten (1, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 16), der Rest ist freier komponiert. In Fachtexten wird vielfach herausgestellt, dass Müllers Texte ironisch gemeint sind, Schubert sie (und damit den Gesellen) aber ganz ernst genommen hat.
Die Lieder:
1. Das Wandern (Textbeginn "Das Wandern ist des Müllers Lust...")
2. Wohin? ("Ich hört' ein Bächlein rauschen...")
3. Halt! ("Eine Mühle seh' ich blinken...")
4. Danksagung an den Bach ("War es also gemeint, mein rauschender Freund...")
5. Am Feierabend ("Hätt' ich tausend Arme zu rühren...")
6. Der Neugierige ("Ich frage keine Blume...")
7. Ungeduld ("Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein...")
8. Morgengruß ("Guten Morgen, schöne Müllerin!")
9. Des Müllers Blumen ("Am Bach viel kleine Blumen steh'n...")
10. Tränenregen ("Wir saßen so traulich beisammen...")
11. Mein! ("Bächlein, lass dein Rauschen sein...")
12. Pause ("Meine Laute hab' ich gehängt an die Wand...")
13. Mit dem grünen Lautenbande ("Schad' um das schöne grüne Band...")
14. Der Jäger ("Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier?")
15. Eifersucht und Stolz ("Wohin so schnell, so kraus und wild, mein lieber Bach?")
16. Die liebe Farbe ("In Grün will ich mich kleiden...")
17. Die böse Farbe ("Ich möchte zieh'n in die Welt hinaus...")
18. Trockne Blumen ("Ihr Blümlein alle, die sie mir gab...")
19. Der Müller und der Bach ("Wo ein treues Herze in Liebe vergeht...")
20. Des Baches Wiegenlied ("Gute Ruh', gute Ruh', tu' die Augen zu...")
Eine ausführliche Werkeinführung mit Analysen einzelner Lieder aus dem Zyklus findet sich bei wikipedia.
„http://de.wikipedia.org/wiki/Die_sch%C3%B6ne_M%C3%BCllerin“
Hier nun vielfach rein persönliche Gedanken und Impulse zu den einzelnen Liedern:
1. Das Wandern (Textbeginn "Das Wandern ist des Müllers Lust...")
Bekenntnis des Gesellen zum Wandern. Die Begleitung suggeriert ein Mühlrad (des Lebens?). Man kann vielleicht darauf achten, ob die Elemente der einzelnen Strophen (Wasser, Steine) in den Interpretationen unterschiedlich betont werden.
PS: Nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen Volkslied! „
2. Wohin? ("Ich hört' ein Bächlein rauschen...")
Der Geselle folgt einem Bach. Die Begleitung suggeriert die Wellenbewegungen des Bachs (vgl. Schuberts Lied „Gretchen am Spinnrade“).
3. Halt! ("Eine Mühle seh' ich blinken...")
Die Mühle verheißt eine Lebensperspektive. Der Geselle spricht den Bach wie einen Vertrauten an.
4. Danksagung an den Bach ("War es also gemeint, mein rauschender Freund...")
Bestätigung der Vertrautheit. Ohne den Bach hätte der Geselle wohl nie die Müllertochter gefunden.
5. Am Feierabend ("Hätt' ich tausend Arme zu rühren...")
Enthusiasmus des einseitig Verliebten. Ab Takt 36 „Rubato“ und rezitativische Passage mit Zitaten des Müllers und seiner Tochter. „Wesentliche Momente“ für den Gesellen.
6. Der Neugierige ("Ich frage keine Blume...")
Total beseelte Unsicherheit des einseitig Verliebten, das Wunder eines Schubertliedes, spätestens ab Takt 23 unbeschreiblich verinnerlicht. So komponiert ein Genie.
7. Ungeduld ("Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein...")
Er will seine Liebeszuversicht in die Welt hinausrufen. Den großen Herzensbogen wird später auch Franz Lehár motivisch ähnlich aufspannen.
8. Morgengruß ("Guten Morgen, schöne Müllerin!")
Der Geselle schwankt zwischen Hoffnung und Unsicherheit. Wie ist er dran mit der Müllertochter?
9. Des Müllers Blumen ("Am Bach viel kleine Blumen steh'n...")
Er träumt vom Liebesglück.
10. Tränenregen ("Wir saßen so traulich beisammen...")
Im zarten Mondlicht am Bach könnte sich sein Wunsch erfüllen, er wähnt sich knapp davor, und die musikalische Stimmung fängt die Szene wieder unbeschreiblich intensiv ein. Am Schluss steht sie auf und geht. Viele Männer kennen diese Momente. Ein auch textlich ganz starkes Lied. Irgendwie gleichzeitig Volkslied und Chanson.
11. Mein! ("Bächlein, lass dein Rauschen sein...")
Offenbar hat sie Ja zu ihm gesagt, er ist wieder enthusiastisch gestimmt.
12. Pause ("Meine Laute hab' ich gehängt an die Wand...")
Der Glückliche bleibt ein unsicherer Melancholiker. Genial wie Schubert hier durch den Dur-Moll-Wechsel die psychologischen Ebenen musikalisch schattiert.
13. Mit dem grünen Lautenbande ("Schad' um das schöne grüne Band...")
Der Geselle bezieht sein grünes Lautenband auf die Müllertochter.
14. Der Jäger ("Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier?")
Der Jäger ist plötzlich da, hektisch erwacht des Gesellen Eifersucht.
15. Eifersucht und Stolz ("Wohin so schnell, so kraus und wild, mein lieber Bach?")
Die Eifersucht scheint nur allzu begründet. Man wendet sich in solchen Fällen an den Vertrauten – hier also an den Bach.
16. Die liebe Farbe ("In Grün will ich mich kleiden...")
Das Grün ist leider als die Farbe demaskiert, die die Unerreichbare und den Jäger miteinander verbindet. Bitter, ganz bitter. Ähnlich später in Ravels „Le Gibet“ (auf dem Weg zum Galgen) zieht sich ein immer wiederholter Klavierton durchs ganze Lied (in der Original-Tenorlage ein Fis), der die Aussichtslosigkeit, die Bitterkeit beklemmend unterstreicht. Für mich eines der erstaunlichsten, psychologisch tiefgehendsten, erschütterndsten Lieder der Musikgeschichte.
17. Die böse Farbe ("Ich möchte zieh'n in die Welt hinaus...")
Die Beziehung zur Farbe Grün hat sich in Zorn gewandelt. Der Geselle muss sich mit der Aussichtslosigkeit seiner Hoffnung abfinden.
18. Trockne Blumen ("Ihr Blümlein alle, die sie mir gab...")
Es bleibt ein mehr als schaler Nachgeschmack, er denkt ans Grab, er resigniert.
19. Der Müller und der Bach ("Wo ein treues Herze in Liebe vergeht...")
Der Bach reagiert diesmal sogar verbal auf die Seelenpein des Gesellen. Ist er Tröster oder Verführer?
20. Des Baches Wiegenlied ("Gute Ruh', gute Ruh', tu' die Augen zu...")
Der Geselle liegt offenbar tot im Bach, und dieser vermittelt melodiös und harmonisch Geborgenheit. Aber der psychologische Überbau mengt schaurige Erschütterung bei.
Die Entscheidung, sich in diese Geschichte per CD Aufnahme zunächst mit dem Tenor Peter Schreier und dem Pianisten András Schiff (CD Decca 430 414-2, aufgenommen im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses im August 1989) hineinfallen zu lassen, um das Werk möglichst intensiv zu verinnerlichen und dann für Capriccio darüber schreiben zu können, habe ich keine Sekunde bereut. Schreiers freundliche helle Stimme nimmt mich total mit in das Schicksal des Müllergesellen. Die psychologischen Schattierungen, vom Flüsteransatz bis zum opernhaften Enthusiasmus, sind für mein Empfinden ungemein sensibel eingefangen, niemals forciert, immer musikalisch erfühlt. Hier sind sich Schreier und Schiff eins, denn Schiff ist im gemeinsamen Atem mit dem Sänger am Bösendorfer Flügel genauso ganz drin in der Musik. Poesie und Schmerz müssen nicht herausgestellt werden, ganz im Gegenteil, die Behutsamkeit, die Sensibilität, die Zurückhaltung erzeugen vielleicht eine noch stärkere Intensität.
Zu einer Aufnahme mit Ernst Häfliger hat Philbert hier etwas geschrieben, wenn man weiter runterscrollt kann man auch etwas zu Gerhahers Gedanken zum Werk und zur Frage der bösen Farbe nachlesen, auf Seite 3 des Threads dann eine Prey/Hokanson Kritik von ge-stell:
https://www.capriccio-kulturforum.de/kunstlied/2758…l#post161871%20
In den nächsten Tagen möchte ich versuchen, persönliche Höreindrücke von ein paar weiteren Aufnahmen beizusteuern. Würde mich und möglicherweise viele andere Capricciosi freuen, auch andere Gedanken und Impulse zu diesem Liedzyklus der bisher in Capriccio als Thread gefehlt hat und zu Aufnahmen davon hier zu finden.