Franz Schubert: Die schöne Müllerin op. 25 D 795

  • Franz Schubert: Die schöne Müllerin op. 25 D 795

    Neben der später entstandenen „Winterreise“ basiert der 1823 von Franz Schubert komponierte Liederzyklus für Singstimme und Klavier ausschließlich auf Texten von Wilhelm Müller (1794-1827), hier von Schubert ausgewählt aus einer 1821 erschienenen Gedichtsammlung Müllers.

    Wahrscheinlich ist der Zyklus zu Lebzeiten des Komponisten in kleinerem oder größerem Rahmen aufgeführt worden, belegt ist eine zyklische Aufführung erst 1856 in Wien. Die Spieldauer des gesamten Zyklus beträgt bei den meisten der vielfach verfügbaren Aufnahmen des oft eingespielten Werks knapp über 60 Minuten.

    Die 20 Lieder erzählen die unglücklich verlaufende Liebesgeschichte eines Müllergesellen, 1 bis 18 aus der Sicht des Gesellen, 19 als Dialog zwischen dem Gesellen und dem diesen durch die Geschichte nahezu wie ein menschlicher (oder mephistophelischer?) Vertrauter begleitenden Bach und 20 gar als Lied des Bachs selbst.

    Der Müllergeselle wandert einen Bach entlang, gelangt zu einer Mühle, kann dort zu arbeiten beginnen, verliebt sich in die Müllertochter und darf offenbar kurz auf positive Erwiderung seiner Gefühle hoffen (Lieder 1 bis 13). Ein Jäger (Lied 14) macht aber das Rennen, das muss der Geselle rasch als unabwendbar hinnehmen, was zu Liebeskummer, Verzweiflung und Suizidtod im Bach führt (Lieder 15 bis 20).

    Acht der 20 Lieder sind in Strophenform gehalten (1, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 16), der Rest ist freier komponiert. In Fachtexten wird vielfach herausgestellt, dass Müllers Texte ironisch gemeint sind, Schubert sie (und damit den Gesellen) aber ganz ernst genommen hat.

    Die Lieder:
    1. Das Wandern (Textbeginn "Das Wandern ist des Müllers Lust...")
    2. Wohin? ("Ich hört' ein Bächlein rauschen...")
    3. Halt! ("Eine Mühle seh' ich blinken...")
    4. Danksagung an den Bach ("War es also gemeint, mein rauschender Freund...")
    5. Am Feierabend ("Hätt' ich tausend Arme zu rühren...")
    6. Der Neugierige ("Ich frage keine Blume...")
    7. Ungeduld ("Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein...")
    8. Morgengruß ("Guten Morgen, schöne Müllerin!")
    9. Des Müllers Blumen ("Am Bach viel kleine Blumen steh'n...")
    10. Tränenregen ("Wir saßen so traulich beisammen...")
    11. Mein! ("Bächlein, lass dein Rauschen sein...")
    12. Pause ("Meine Laute hab' ich gehängt an die Wand...")
    13. Mit dem grünen Lautenbande ("Schad' um das schöne grüne Band...")
    14. Der Jäger ("Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier?")
    15. Eifersucht und Stolz ("Wohin so schnell, so kraus und wild, mein lieber Bach?")
    16. Die liebe Farbe ("In Grün will ich mich kleiden...")
    17. Die böse Farbe ("Ich möchte zieh'n in die Welt hinaus...")
    18. Trockne Blumen ("Ihr Blümlein alle, die sie mir gab...")
    19. Der Müller und der Bach ("Wo ein treues Herze in Liebe vergeht...")
    20. Des Baches Wiegenlied ("Gute Ruh', gute Ruh', tu' die Augen zu...")

    Eine ausführliche Werkeinführung mit Analysen einzelner Lieder aus dem Zyklus findet sich bei wikipedia.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Die_sch%C3%B6ne_M%C3%BCllerin“

    Hier nun vielfach rein persönliche Gedanken und Impulse zu den einzelnen Liedern:

    1. Das Wandern (Textbeginn "Das Wandern ist des Müllers Lust...")
    Bekenntnis des Gesellen zum Wandern. Die Begleitung suggeriert ein Mühlrad (des Lebens?). Man kann vielleicht darauf achten, ob die Elemente der einzelnen Strophen (Wasser, Steine) in den Interpretationen unterschiedlich betont werden.
    PS: Nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen Volkslied! „

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    2. Wohin? ("Ich hört' ein Bächlein rauschen...")
    Der Geselle folgt einem Bach. Die Begleitung suggeriert die Wellenbewegungen des Bachs (vgl. Schuberts Lied „Gretchen am Spinnrade“).

    3. Halt! ("Eine Mühle seh' ich blinken...")
    Die Mühle verheißt eine Lebensperspektive. Der Geselle spricht den Bach wie einen Vertrauten an.

    4. Danksagung an den Bach ("War es also gemeint, mein rauschender Freund...")
    Bestätigung der Vertrautheit. Ohne den Bach hätte der Geselle wohl nie die Müllertochter gefunden.

    5. Am Feierabend ("Hätt' ich tausend Arme zu rühren...")
    Enthusiasmus des einseitig Verliebten. Ab Takt 36 „Rubato“ und rezitativische Passage mit Zitaten des Müllers und seiner Tochter. „Wesentliche Momente“ für den Gesellen.

    6. Der Neugierige ("Ich frage keine Blume...")
    Total beseelte Unsicherheit des einseitig Verliebten, das Wunder eines Schubertliedes, spätestens ab Takt 23 unbeschreiblich verinnerlicht. So komponiert ein Genie.

    7. Ungeduld ("Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein...")
    Er will seine Liebeszuversicht in die Welt hinausrufen. Den großen Herzensbogen wird später auch Franz Lehár motivisch ähnlich aufspannen.

    8. Morgengruß ("Guten Morgen, schöne Müllerin!")
    Der Geselle schwankt zwischen Hoffnung und Unsicherheit. Wie ist er dran mit der Müllertochter?

    9. Des Müllers Blumen ("Am Bach viel kleine Blumen steh'n...")
    Er träumt vom Liebesglück.

    10. Tränenregen ("Wir saßen so traulich beisammen...")
    Im zarten Mondlicht am Bach könnte sich sein Wunsch erfüllen, er wähnt sich knapp davor, und die musikalische Stimmung fängt die Szene wieder unbeschreiblich intensiv ein. Am Schluss steht sie auf und geht. Viele Männer kennen diese Momente. Ein auch textlich ganz starkes Lied. Irgendwie gleichzeitig Volkslied und Chanson.

    11. Mein! ("Bächlein, lass dein Rauschen sein...")
    Offenbar hat sie Ja zu ihm gesagt, er ist wieder enthusiastisch gestimmt.

    12. Pause ("Meine Laute hab' ich gehängt an die Wand...")
    Der Glückliche bleibt ein unsicherer Melancholiker. Genial wie Schubert hier durch den Dur-Moll-Wechsel die psychologischen Ebenen musikalisch schattiert.

    13. Mit dem grünen Lautenbande ("Schad' um das schöne grüne Band...")
    Der Geselle bezieht sein grünes Lautenband auf die Müllertochter.

    14. Der Jäger ("Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier?")
    Der Jäger ist plötzlich da, hektisch erwacht des Gesellen Eifersucht.

    15. Eifersucht und Stolz ("Wohin so schnell, so kraus und wild, mein lieber Bach?")
    Die Eifersucht scheint nur allzu begründet. Man wendet sich in solchen Fällen an den Vertrauten – hier also an den Bach.

    16. Die liebe Farbe ("In Grün will ich mich kleiden...")
    Das Grün ist leider als die Farbe demaskiert, die die Unerreichbare und den Jäger miteinander verbindet. Bitter, ganz bitter. Ähnlich später in Ravels „Le Gibet“ (auf dem Weg zum Galgen) zieht sich ein immer wiederholter Klavierton durchs ganze Lied (in der Original-Tenorlage ein Fis), der die Aussichtslosigkeit, die Bitterkeit beklemmend unterstreicht. Für mich eines der erstaunlichsten, psychologisch tiefgehendsten, erschütterndsten Lieder der Musikgeschichte.

    17. Die böse Farbe ("Ich möchte zieh'n in die Welt hinaus...")
    Die Beziehung zur Farbe Grün hat sich in Zorn gewandelt. Der Geselle muss sich mit der Aussichtslosigkeit seiner Hoffnung abfinden.

    18. Trockne Blumen ("Ihr Blümlein alle, die sie mir gab...")
    Es bleibt ein mehr als schaler Nachgeschmack, er denkt ans Grab, er resigniert.

    19. Der Müller und der Bach ("Wo ein treues Herze in Liebe vergeht...")
    Der Bach reagiert diesmal sogar verbal auf die Seelenpein des Gesellen. Ist er Tröster oder Verführer?

    20. Des Baches Wiegenlied ("Gute Ruh', gute Ruh', tu' die Augen zu...")
    Der Geselle liegt offenbar tot im Bach, und dieser vermittelt melodiös und harmonisch Geborgenheit. Aber der psychologische Überbau mengt schaurige Erschütterung bei.

    Die Entscheidung, sich in diese Geschichte per CD Aufnahme zunächst mit dem Tenor Peter Schreier und dem Pianisten András Schiff (CD Decca 430 414-2, aufgenommen im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses im August 1989) hineinfallen zu lassen, um das Werk möglichst intensiv zu verinnerlichen und dann für Capriccio darüber schreiben zu können, habe ich keine Sekunde bereut. Schreiers freundliche helle Stimme nimmt mich total mit in das Schicksal des Müllergesellen. Die psychologischen Schattierungen, vom Flüsteransatz bis zum opernhaften Enthusiasmus, sind für mein Empfinden ungemein sensibel eingefangen, niemals forciert, immer musikalisch erfühlt. Hier sind sich Schreier und Schiff eins, denn Schiff ist im gemeinsamen Atem mit dem Sänger am Bösendorfer Flügel genauso ganz drin in der Musik. Poesie und Schmerz müssen nicht herausgestellt werden, ganz im Gegenteil, die Behutsamkeit, die Sensibilität, die Zurückhaltung erzeugen vielleicht eine noch stärkere Intensität.

    Zu einer Aufnahme mit Ernst Häfliger hat Philbert hier etwas geschrieben, wenn man weiter runterscrollt kann man auch etwas zu Gerhahers Gedanken zum Werk und zur Frage der bösen Farbe nachlesen, auf Seite 3 des Threads dann eine Prey/Hokanson Kritik von ge-stell:
    https://www.capriccio-kulturforum.de/kunstlied/2758…l#post161871%20

    In den nächsten Tagen möchte ich versuchen, persönliche Höreindrücke von ein paar weiteren Aufnahmen beizusteuern. Würde mich und möglicherweise viele andere Capricciosi freuen, auch andere Gedanken und Impulse zu diesem Liedzyklus der bisher in Capriccio als Thread gefehlt hat und zu Aufnahmen davon hier zu finden.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Tenor

    Für mich sind diese Lieder Tenor-Lieder, auch wenn der ein oder andere Bariton sie mit berückender Stimme gesungen hat, wie Fischer-Dieskau.

    Zurückweisung, das.

    Ich höre diesen Zyklus gerne von wirklich lyrischen Tenören:

    Das sind:

    Peter Schreiber, als er von der Gitarre begleitet wird
    Hans Peter Blochwitz
    und
    Josef Protschka.

    Zuviel Tenormetall schadet man meinem Eindruck der zarten Trauer dieser Lieder, auch wenn es mit " Ungeduld" oder " böse Farbe" emotionale Ausbrüche gibt.

    Deswegen schätze ich die späte Version auch weniger. Das war die Zeit, wo er bereits , sehr erfolgreich, sehr angemessen, den Alfredo in der Traviata sang. E setzte die Mischung von Ober-und Bruststimme nicht ein, deswegen war sein Piano nur ein "entkerntes" Forte.

    Die drei Genannten hingegen beherrschten diese Mischtechnik alle sehr gut.

    Wunderbare Aufnahmen.

  • Danke für diese übersichtliche Threaderöffnung, Alexander. Kurz und knackig und informativ. :thumbup:
    Das bringt mir diesen Zyklus deutlicher näher und macht es verständicher. Ich gebe zu, dass ich diese Werke schon mal gehört, aber mich nie damit beschäftigt habe. :hide:
    Jetzt weiß ich, was ich morgen u.a. anhören werde. :thumbup:

    :wink:

  • Deswegen schätze ich die späte Version auch weniger. Das war die Zeit, wo er bereits , sehr erfolgreich, sehr angemessen, den Alfredo in der Traviata sang.

    Von wem redest Du hier ?

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Hallo AlexanderK ,
    vielen Dank für die Threaderoeffnung . Es gibt viel zu sagen über DsM !
    Von mir dann etwas später !

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • Die Quellenlage der Schönen Müllerin ist ziemlich verworren. Schuberts Reinschrift ist verschollen. Die Erstausgabe, die 1824 von Sauer und Leidesdorf verlegt wurde, gilt als nicht sonderlich sorgfältig erarbeitet. Dies ist u.a. dadurch zu erklären, daß Schubert im Sommer 1824 in Zseliz war und daß nicht er, sondern sein Bruder Ferdinand, zum großen Teil Korrektur gelesen hat. Von der Nummer 15, Eifersucht und Stolz, existiert noch Schuberts Erste Niederschrift. Ein Autograph mit den Liedern 7-9 in einer (für den Baron Schönstein oder Caroline Esterházy? ) transponierten Fassung ist noch von Max Friedländer gesichtet worden, gilt aber seither als verschollen.

    Unterschiedliche Abschriften verschiedener Lieder (16-20) weisen "Veränderungen" vor, die vermutlich auf J.-M. Vogl zurückzuführen sind.
    Die zweite Ausgabe, die 1830 bei Diabelli erschien, wurde mit größerer Sorgfalt als die Erstausgabe erarbeitet, bietet aber auch "Veränderungen" an (ob es Vogls Singfassung ist oder eigens von Diabelli erstellte Verzierungen sind, kann nicht mit 100%iger Sicherheit festgestellt werden). Diese Ausgabe war im 19ten Jht aber viel weiter verbreitet als die Erstausgabe.

    Nachdem Julius Stockhausen 1856 in Wien zum ersten Mal den Zyklus geschlossen öffentlich vortrug, wiederholte er ihn mit großem Erfolg durch ganz Europa. Er ließ auch in den 1860er Jahren eine Neuausgagbe erstellen (bei Spina, Diabellis Nachfolger), die zu einem Streit mit dem noch lebenden Widmungsträger Baron von Schönstein fuhr, weil der Name Stockhausen so groß erschien, als sei er der tatsächliche Widmungsträger. Sein zeitweiliger Gesangsschüler Max Friedländer erstellte für Peters die erste kritische Ausgabe, für welche er alle verfügbaren Quellen durchsah.

    Die erste Gesamtausgabe erschien aber bei Breitkopf und Härtel unter der Obhut des von Brahms vorgeschlagenen Mandyczewskis.

    Ende des 20ten Jhts erschienen zwei "Urtext"-Ausgaben der Schönen Müllerin. Eine wiederum bei Peters, herausgegeben von Dietrich Fischer-Dieskau musikwissenschaftlich betreut von Elmar Budde, und eine bei Bärenreiter im Rahmen der Neuen Schubert Ausgabe, herausgegeben von Walther Dürr.

    Derzeit sind denn vier Ausgaben geläufig: Friedländer (Peters), Mandyczewski (Alte Gesamtausgabe), die unterschiedliche Reprints genossen haben, und die zwei Urtext-Ausgaben.

    Da die ursprünglichste Quelle, die Erstausgabe, offenbar nicht fehlerfrei ist, wird sie in allen Ausgaben verbessert, was zu unterschiedlichen Deutungen führt.
    Dies betrifft nicht nur den Notentext, sondern auch die Gedichte selber, da der Wortlaut nicht immer der der Müllerschen Gedichtsausgaben ist.
    In einem Fall ist der Ursprung der Änderung klar: in Wohin wird jetzt oft "und immer frischer rauschte ..." gesungen; es ist aber eine nachhaltige Änderung Wilhelm Müllers. Der Wortlaut der Ausgabe, die Schubert benutzte, war "und immer heller rauschte". Anderswo weiß man nicht, ob die Abweichungen von Schubert stammen (beabsichtigte Änderungen, Gedächtnisfehler, Flüchtigkeitsfehler ?) oder auf Leidesdorf zurückzuführen sind. Es sind zum Beispiel:

    Und der Meister sagt zu allen (Am Feierabend) (Müller: spricht)
    Durft' ich aushauchen in Liederschmerz (Pause) (Müller: Liederscherz)
    Dann weiß ich, wo die Hoffnung grünt (Mit dem grünen Lautenbande) (Müller: wohnt)
    Grün, alles grün, so ringsumher (die liebe Farbe) (Müller: rings und rund)
    Und der Himmel da droben (Des Baches Wiegenlied) (Müller: oben)

    Je nach Ausgabe wird anders entschieden.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • In Fachtexten wird vielfach herausgestellt, dass Müllers Texte ironisch gemeint sind, Schubert sie (und damit den Gesellen) aber ganz ernst genommen hat.


    Wie immer ist die Realität komplizierter.
    Am Anfang des 19ten Jhts war die Geschichte der untreuen Müllerin ein verbreiteter Topos in deutschen Ländern. Paisiellos Erfolgsoper La molinara wurde auf Deutsch aufgeführt, auch unter dem Titel Die schöne Müllerin. Goethe verfaßte seinen Minizyklus: Edelknabe und Müllerin - Junggeselle und Mühlbach - Der Müllerin Verrat - Der Müllerin Reue, im Knaben Wunderhorn, bei Eichendorff, bei Rückert klingt es an etc ...

    In Berlin traf sich in den 1810er Jahren eine intellektuelle Gesellschaft bei Friedrich von Stägemann. Dort verkehrten Wilhelm Müller, Wilhelm Hensel (Mendelssohns Schwager), dessen Schwester Luise Hensel ... Müllers Tagebuch der Jahre 1815-16 ist Zeuge der feurigen Liebesromanze zwischen dem Dichter und Luise Hensel. Ende 1816 kam aber Clemens Brentano auf die Bühne, der zu Weihnachten Luise einen Heiratsantrag stellte. Das Tagebuch bricht ab. Ende der Romanze (Clemens kriegte am Ende Luise auch nicht).

    Ab November 1816 wächst in diesem Kreis die Idee, ein Liederspiel über das beliebte Thema der schönen Müllerin zu machen. Stägemanns Tochter Hedwig sollte Rose die Müllerin sein, die Rolle des Müllers konnte keinem anderen zukommen als Wilhelm Müller, Wilhelm Hensel sollte der Jäger sein, andere Komparsen waren auch dabei, da die Story komplizierter ist als die des späteren Zyklus; am Ende bringt sich auch die Müllerin im Bach um. Im Dezember 1816 wurde das Liederspiel aufgeführt. Der Komponist und Pianist Ludwig Berger vertonte einige der Lieder, darunter 5 von Müller.

    Müller arbeitete weiter daran. 1817 hatte er bereits 15 Lieder, im Juli 1820 las er den vollendeten Zyklus vor.

    Diese lange Entstehungsgeschichte ist nützlich, um den Ton der Gedichte zu verstehen. Müllers Romanze mit Luise Hensel hat ihn offenbar tief mitgenommen, da man direkte Verbindungen zwischen seinem Tagebuch und einigen Gedichten finden kann. Es ist wohl ihm vorgekommen, wie wenn er nicht nur die Rolle des Müllers spielte sondern auch gelebt hätte. Der ironische Ton ist später gekommen. Der Prolog, der Epilog, Gedichte wie Das Mühlenleben oder Blümlein Vergißmein sind erst 1820 entstanden. Dort ist die Ironie am stärksten, dort wird auch die Müllerin mehr als kritisch dargestellt. Ironie als Selbschutzmaßnahme, als Kritik der Volksliedbegeisterung, die das ursprüngliche Liederspiel veranlaßt hatte, als Verbitterung ??? Wohl etwas von allem.

    Schubert hat die Schöne Müllerin gelesen. Wann, weiß man nicht gewiß, Das einzige erhaltene Datum ist auf der Ersten Niederschrift von Eifersucht und Stolz Oktober 1823. Ende 1822-Anfang 1823 war er venerisch erkrankt. Schubert hat wohl die ganze Schöne Müllerin gelesen, 23 Lieder plus Prolog und Epilog, aus dem einzigen Grund, daß sie so veröffentlicht worden war. Man kann sich fragen, ob er nicht Müllers Ironie mit dem eigenen Schicksal verbunden hat. Wer Schuberts Briefe gelesen hat, weiß, daß Ironie - und Selbstironie - ihm gar nicht fremd war.

    Nun hat er Prolog und Epilog fallen lassen und auch drei Gedichte aus dem Zyklus gestrichen: Das Mühlenleben, Erster Schmerz, letzter Scherz
    und Blümlein Vergißmein. Er hat damit Müllers ironische Distanz getilgt, der Person der Müllerin unschärfere Konturen verpaßt und den Müllerburschen in eine andere Perspektive gesetzt, indem er etwas von seiner larmoyanten Einseitigkeit weggenommen hat. Die Musik, die er komponiert hat, ist aber wie gewohnt keine rein illustrative. Sie gibt dem Zyklus eine andere Dimension, unter anderem indem sie vielfältige Verbindungen zwischen den Gedichten herstellt. Diese neue Dimension ersetzt Müllers ironische Distanz (Schuberts Behandlung des Volkslieds ist in sich schon ein positives Pendant zu Müllers Volksliedpersiflage).

    Und daß er die Ironie im Zusammenhang mit der Schönen Müllerin nicht vergessen hat, beweisen die Anfang 1824 komponierten Variationen für Flöte und Klavier D802 über das Lied Trockene Blumen, ein Meisterwerk der romantischen Ironie.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Peter Schreier (1980)

    Die Entscheidung, sich in diese Geschichte per CD Aufnahme zunächst mit dem Tenor Peter Schreier und dem Pianisten András Schiff [...] hineinfallen zu lassen, um das Werk möglichst intensiv zu verinnerlichen und dann für Capriccio darüber schreiben zu können, habe ich keine Sekunde bereut.

    Diese Aufnahme besitze ich nicht (werde wohl die Lücke schließen müssen :) ) da ich, als sie erschien, bereits 4 Schreier-Müllerinnen hatte: die "klassische" DGG-Ausgabe mit Walther Olbertz am Klavier (heutzutage zu Recht vergessen), die mit Gitarrenbegleitung durch Konrad Ragossnig, die mit "Veränderungen" und Norman Shetler am Klavier und die mit Steven Zehr am Hammerflügel.

    Und letztgenannte war so überzeugend, daß ich keine weitere Schreier-Müllerin brauchte. Damals wurde sie von einem Billiglabel verramscht, heute wäre sie aus dem Katalog verschwunden, wenn ... EMI die Rechte nicht erworben hatte, um sie in diese Box einzuschließen:

    Es wäre fast ein Grund genug, um die Box zu erwerben (für eine ausfühlichere Beschreibung siehe hier: Franz Schubert - seine Lieder im Spiegel ihrer Interpret/innen)

    Schon bei Das Wandern setzt Steven Zehr unspektakulär aber effektvoll die Farben seines Instruments ein - leider weiß man nicht, um welches es sich handelt - und er bleibt bis zum letzten Lied ein gefühlvoller Mitgestalter. Wie er z.B. in Pause zuerst eine Laute anklingen läßt, um dann zu einem schönen Legato zu wechseln, wie er die Strophenlieder klangfarbig variiert, ist sehr beeindruckend. Kleine Verzierungen gibt es auch bei ihm, aber von Verzierungen kann man kaum sprechen, denn es geht in der Regel um arpeggierte Akkorde.

    Dieses Unspektakuläre aber in jedem Detail Ausgearbeitete ist auch das Merkmal von Schreiers Interpretation. Der Tenor ist hier in wunderbarer Verfassung und scheint keine Grenzen in der Atemführung oder in der Flexibilität zu kennen. Keine Spur vom leicht säuerlichen Ton, der in seinen weniger guten Tagen seine Darbietung beeinträchtigt. Um die Balance mit dem Hammerflügel zu bewahren, hat er sich wohl in der Lautstärke leicht zurückgenommen, was aber der Gestaltung sehr wohl bekommen ist. Seine Diktion ist hervorragend aber nie übertrieben. Schreier kommentiert die Lieder nicht, er singt sie unvermittelt aber sehr feinfühlig. Man könnte sagen, daß er dem Volkslied interpretatorisch das, was Schubert kompositorisch tut. Auf dem ersten Blick singt er Volkslieder, aber dies so kunstvoll, wie kein Volksliedsänger machen kann. Er täuscht nicht Volkslieder vor, er singt naiv im Schillerschen Sinne, wie man sagen konnte, daß Schubert naiv komponiert. Im Unterschied zu den "sentimentalischen Dichtern, die Schiller in dieser Weise beschreibt:

    - dies kann auch in Hinsicht auf Müllers Ironie gesagt werden können, die der Dichter sozusagen als nachträgliche Abkühlung eingefügt hat.

    Schreier trägt die Lieder lyrisch und nicht dramatisch vor. Er singt nicht überbetont, aber auch nicht unbeteiligt. Die Zartheit, mit der er "Gelt"in Danksagung an den Bach singt, die subtil differenzierten Wiederholungen von "daß die schöne Müllerin merkte meinen treuen Sinn" in Am Feierabend, von "so gern" in Die liebe Farbe sind Beispiele dafür. Wie er zum Beispiel die Worte "so schwer" in Des Baches Wiegenlied betont. Nicht, wie erwartet, so schwer. Sondern so schwer, so daß die Wiederholung ohne die Betonung und mit dem Sprung nach oben auf "schwer" den Effekt erzielt. Wieder in Danksagung an den Bach, wo Schubert das "ob sie dich geschickt" unterstreicht, wird das "sie" nicht vom Sänger doppelt unterstrichen, sondern mit einem ritardando hin zu "geschickt" vervollständigt. Schreier weiß, seinen Vortrag mit der Musik zu kombinieren und ihn nicht der Musik aufzuzwingen.

    Da fühlt man sich an die Worte Leopold von Sonnleithners erinnert, als er bei zeitgenössischen Sängern "sonderbare Ansichten"
    bemängelt:

    Zitat

    Dabei wird möglichst viel declamirt, retardirt, bald
    gelispelt, bald leidenschaftlich aufgeschrien. Sänger müssen das Lied
    lirisch und nicht dramatisch auffassen [...] alles, was den Fluß der
    Melodie hemmt [...] ist daher der Ansicht des Tonsetzers gerade
    zuwiderlaufend.

    Sonnleithner hätte an dieser Aufnahme der Schönen Müllerin nichts zu kritisieren gefunden.

    Poesie und Schmerz müssen nicht herausgestellt werden, ganz im Gegenteil, die Behutsamkeit, die Sensibilität, die Zurückhaltung erzeugen vielleicht eine noch stärkere Intensität.

    gilt auch uneingeschränkt für diese Aufnahme.
    Es gibt andere Herangehensweisen an der Zyklus, viele andere Interpretationsansätze, die auch beeindrucken, mitnehmen, überzeugen können. Aber in ihrem Kunstvollen-Ungekünstelten Stil ist diese Schreier/Zehr Aufnahme perfekt.
    Und jetzt freue ich mich auf die verspätete Entdeckung der Schreier/Schiff Aufnahme !

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Wo gibt es denn so ein verrücktes Kostüm? Das brauche ich unbedingt!


    Kein Problem: zu Fasching kriegst Du eins von mir! Mit vielen kleinen Hämmerchen und einem Holzrahmen. Da mußt Du aber auf die Saiten gespannt werden ...
    Danke für Deine nette Bemerkung: ich hab den Tippfehler korrigiert.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Vielen Dank für alle bisherigen Beiträge, vor allem an Philbert für die auch musikwissenschaftlich hochinteressanten Details.

    Hier persönliche Eindrücke zu einer anderen Aufnahme.

    Eingebrannt ist mir das Schlagwort von Dietrich Fischer-Dieskau als „Liederpapst“, als einer, der sich so komplex wie kaum jemand anderer mit dem Klavier-Kunstlied auseinandergesetzt hat, in Aufnahmen, Konzerten und Schriften, auf jeden Fall also als einer, von dem ich eine wissenschaftlich wie interpretatorisch bis in letzte Details fundierte Interpretation erwarten kann. Der vielfach hervortretende Manierismus seines Gesangsstils gefällt mir oft nicht. Das wirkt auf mich wie „belehrend“. Aber so etwas ist persönliche Geschmackssache, es mindert nicht meinen höchsten Respekt vor der immensen Lebensleistung dieses Künstlers. Zu der gehört die ungeheure Herausforderung und Bewältigung, 463 Schubertlieder für Männerstimme von Dezember 1966 bis März 1972 im Berliner UFA-Ton-Studio zusammen mit dem kongenialen Liedpartner Gerald Moore für DGG (21 CD Box 477 8989) vorgelegt zu haben. „Die schöne Müllerin“ wurde im Dezember 1971 aufgenommen.

    Schubert hat „Die schöne Müllerin“ für hohe Stimme komponiert. Ich habe kein Problem damit wenn sie von anderen Stimmlagen gesungen wird, solange die Aufnahme innerlich anrührt. Noch Schreier/Schiff im Ohr, versuche ich, mich mit Fischer-Dieskau/Moore erneut in diese zunächst verheißungsvolle, dann tragische Liebesgeschichte fallen zu lassen. Es gelingt von Anfang an nicht. Die damalige tontechnische Lösung, das Klavier von links und den Sänger von rechts hörbar zu machen, wurde zwischenzeitlich vielfach von der gut ausgesteuerten Einbettung der Gesangsstimme in den Klaviersound abgelöst. Schon diese Aufteilung von 1971 sorgt für Distanz. Und von Anfang an glaube ich eine Art lexikalische Korrektheit durchzuhören, eine routiniert-modellhafte Herangehensweise, bei der so ein „…haben wir dies und jenes beachtet, nein, dann bitte noch einmal, danke, bitte gleichen wir noch einmal die Noten ab, danke, jetzt zum nächsten Lied, passen wir bitte genau auf dieses und jenes auf…“ durchschimmert. Die herausgestellte Bewusstheit der Interpretation, die Überlegtheit, dazu Gerald Moores grandiose Routine, wohl jedes Schubertlied auf demselben hohen Niveau abrufen zu können, verhindern etwas Individuelles, Exemplarisches, etwas wirklich ganz Persönliches, etwas Außergewöhnliches, ja selbst (weil die Entscheidung des Modellierens mithörbar ist) die Aura der großen beseelten Momente in den Liedern. Hier ist äußerlich sicher „alles korrekt“, aber das Beseelte wird als auch abrufbar abgehakt. Es war wohl das Anliegen, diesen Zyklus in die Gesamtaufnahme einzubeziehen, nicht DIE „Müllerin“ der Aufnahmegeschichte vorzulegen. So bleibt mein persönliches Fazit: Höchster Respekt vor Leistung und Fundiertheit, lexikalisch enorm wertvoll, aber „für Herz und Seele“ greife ich auf Schreier/Schiff zurück und freue mich, weitere Aufnahmen kennenzulernen (etwa die von Philbert beschriebene Schreier Aufnahme) oder wieder zu hören.

    Morgen dann Gedanken zu einem "Müllerin" Konzert in Giengen an der Brenz und was die CD mit Kaufmann/Deutsch damit zu tun hat.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Lieber Alexander, Deine Beiträge zu diesem Liederzyklus lese ich mit Gewinn und Vergnügen. Die Müllerin erreicht für mich zwar nciht die Intensität der Winterreise aber sie bleibt dennoch ein Meisterwerk der Liedkunst. ob Schubert dabei die Texte im Sinne Müllers richtig oder falsch interpretiert hat, interessiert mich wenig, denn die Vertonung macht in jedem Fall ein anderes und eigenständiges Kunstwerk daraus. Goethes Faust und Gounods oder Boitos oder Berlioz Version sind auch nicht wirklich zu vergleichen. Ich hatte neurdings das Vergnügen eine hochinteressante Radiodiskussion des Musikalischen Quartetts zur Müllerin als Mitschnitt zu hören und dort werden zahlreiche Aufnahmen aus über 50 Jahren vergleichen und bewertet. Eine der Top-Favoriten ist diese Aufnahme, die auch mir ausserordentlich gut gefällt

    Obschon Souzay kein Deutscher ist, und ich im Kunstlied mit Sprachakzenten sehr empfindlich bin, ist das kaum zu hören. Sein wunderbares Timbre, seine Natürlichkeit des Ausdrucks und seine Legatokultur machen winzige sprachfehler mehr als wett und ihn zu einer Alternative seines Zeitgenossen FI-DI.

    Was Fi-Di angeht, gibt es eine deutlich frühere Aufnahme aus den frühen 50igern, die diese gewollte Diktions-Perfektion in noch weit unaufdringlicherer Weise pflegt und deshalb viel angenehmer zu hören ist. (jedenfalls für mich....) Fi-Di per se sehr schöne Stimmfarbe kommt da auch noch viel besser zur Geltung als spâter.

    Von den heutigen Sängern schiesst in diesem Diskussions-Quartett Christian Gerhaher den Vogel ab und dem kann ich bekanntlich ja nur voll beipflichten. Da stimmt einfach alles: Stimmfarbe und Eigenschönheit des Timbres, Ausdruck, Technik und vor allen Dingen eine vorbildliche kammermusikalische Zusammenarbeit mit seinem Leib-Pianisten Gerold Huber :juhu: :juhu: :juhu:

    Aber auch einige jüngere Tenöre wie z.B. Daniel Behle kommen sehr gut weg, wo hingegen Jonas Kaufmann trotz des fabelhaften Helmut Deutsch keine Lorbeeren erntet. Ich persönlich fand seine Interpretation auch zu dramatisch und zu wenig ausgearbeitet. Da wird so ziemlich heldentenorisch drübergesungen und obschon ich sonst ncihts gegen Kaufmann habe- das ist wohl eher nicht sein Fach.
    Dei jury war sehrbeeindruckt von dem Dänen Aksel Schoetz- die Stimmfarbe ist so ziemlich Geschmackssache, die künstlerische und kulturpolitische Leistung(er hat während des Krieges weiter im Ausland tapfer Schubert gesungen) sicher sehr anerkennenswert. Wunderlich wird natürlich über den grünen Klee gelobt, das ist wohl Standard. Mir hat er beim ersten Blindhören eigentlich gar nicht so "legendär einzigartig" gefallen und ich war sogar eher erstaunt, dass er es war. Aber so viele Fachmänner können sich nicht irren. ;+)

    Von Schreier wird eine Aufnahme mit Gitarre vorgestellt, die sehr interessant ist und den Zyklus fast in die Nähe des Moritatengesangs rückt- dort versteht man jedes Wort ohne das es maniriert wird.
    Besonders spannend fand ich die Interpetation von Lotte Lehmann aus den 40igern: volle Opernwucht und eine ganz und gar eigenwillige Müllerin- das muss frau erst mal wagen!!!!

    Es gab einen jungen Tenor, der von einem Hammeflügel begleitet wurde und mir ausgesprochen gut gefiel, Jan Kobow eine tolle Neuentdeckung am Liederhimmel . Der Pianist ist zudem Extraklasse und diese Aussenseiter- Aufnahme lohnt m.E. wirklich. Die kombination dieser strahlend schônen udn eher leichten Tenorstimme mit dem Pianoforte gibt dem Zyklus etwas Natürliches, das ich mir immer wieder beim Liedgesang idealiter wünsche, auch wenn es natürlich Illusion ist. Kunstlied ist nunmal KUNST-Lied und kein Volkslied. Aber gerade Schubert Lieder mûssen fûr mich noch das Volkslied als Samenkorn in sich tragen und das klingt bei Kobow und seienm Pianofortisten serh schôn durch.

    Scubertseelige Grüsse und auf diesem Wege dann auch gleich Allen in nah und fern ein gutes (im jeweilig erwünschten Sinne) Jahr 2013 :fee:

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Die Jury war sehr beeindruckt von dem Dänen Aksel Schioetz


    Die 1945er-Aufnahme mit Gerald Moore ist schon ein Klassiker. Schiötz hatte eine sehr schöne Tenorstimme, die er ausdrucksvoll einzusetzen weiß. Kleine Abstriche muß man bei der Sprachbewältigung machen - nicht so sehr bei der Aussprache als beim Rhythmus: lange und kurze Sprachsilben sitzen nicht immer richtig. Richtiger Tenorschmelz, aber nicht übertrieben. Die Melismen in Mein (schalle heut ein Reim allein) werden aber vereinfacht.
    "Ausdrucksvoll" heißt aber nicht "ausdrucksstark". Diese Schöne Müllerin ist schön gesungen, bleibt aber etwas belkantisch. Man findet keine so sorgfältige Gestaltung wie bei Schreier (die Strophenlieder z.B., etwa Mit dem grünen Lautenbande, sind wenig differenziert) noch die Ausdrucksgewalt der 1943er Aufnahme von Julius Patzak. Zugegeben, Patzak war damals eine kleine Revolution in der heilen Müllerin-Welt und Wunderlich hat noch die Tradition in dem Sinne Schiötz' fortgeführt. Für mich bleibt Schiötz' Aufnahme ein schönes historisches Dokument - und nachher ist eben unter anderen Wunderlich gekommen - während Patzak nichts von seiner Kraft eingebüßt hat.

    Es gab einen jungen Tenor, der von einem Hammeflügel begleitet wurde und mir ausgesprochen gut gefiel, Jan Kobow eine tolle Neuentdeckung am Liederhimmel .


    Jan Kobow hat schon einige interessante Lieder-CD eingespielt, darunter einen Schwanengesang mit Kristian Bezuidenhout und diese:

    Was die Müllerin betrifft, so habe ich ihn vor ein paar Jahren auf BR-Klassik mit Christoph Hammer am Hammer-flügel gehört. Es war sehr beeindruckend, auch weil er die Lieder wie vom Blatt sang und sich quasi-improvisierte "Veränderungen" gönnte. Dazu war die Partnerschaft mit Hammer auch sehr gelungen. Wenn zufällig jemand damals einen Recorder an gehabt hätte .....

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Gérard Souzay

    FairyQueen hat bereits diese Aufnahme erwähnt:

    (2 CDs, die einzeln bei Philips erschienen waren: Schöne Müllerin und Lieder-Recital, auf dem Marktplatz fast geschenkt).
    Souzay ist ein hell timbrierter Bariton mit einer außergewöhnlichen Farbenskala, die er sinnvoll einzusetzen weiß. Er beherrscht wie Hans Hotter die Kunst, ein Lied zu "flüstern", das heißt so zu tun, als würde er für jeden Zuhörer alleine singen. Das kommt von einer sehr klaren Aussprache, von einem wohl gemeisterten piano, von seiner von FairyQueen bereits gepriesenen Legato-kultur und von der Art, wie er einen langen Satz auf einem Atem und mit wechselnden Farbnuancen singen kann.

    Souzays Müllerin ist das, was man "poetisch" nennen könnte. Nie übertrieben, nie aufgesetzt, aber sehr nuanciert. Etwas mehr und sie würde salonhaft wirken, aber Souzay schafft es, die -unsichtbare- Grenze nicht zu überschreiten. Vielleicht hat er von seinem Umgang mit der französischen Musik die Kunst gewonnen, Sätze wie "warum ließ ich das Band auch hängen so lang" (Pause) oder "Doch sag ihr nicht, hörst du, kein Wort" (Eifersucht und Stolz) mit der Naturlichkeit eines gesprochenen Satzes zu singen (und nicht in Sprechgesang abzudriften).

    Eine Darbietung, die vereinnahmt, auch weil sie den Zuhörer individuell anspricht und ihm die Geschichte gleichsam anvertraut. Die böse Farbe ist in dieser Hinsicht besonders ergreifend. Deshalb braucht auch Souzay nicht viel zu machen, um gleich in Die liebe Farbe -bewußt - grob und fast brutal vorzukommen. Für Trockne Blumen findet er gleich wieder den erzählenden Ton, der sich fast in Fanfaren steigert. Und dann wieder das Flüstern in Der Müller und der Bach. Dieses kontrollierte Auf und Ab vermittelt überzeugend die Instabilität der psychischen Lage.
    Der Einsatz der voix mixte in Des Baches Wiegenlied trägt zur gespensterischen Schönheit des Liedes bei.

    Man könnte fast vergessen, Dalton Baldwin zu loben, der hier Begleiter im Sinne von Wegbegleiter ist und es schafft, Souzays Darbietung sinnvoll mitzugestalten, ohne das vertrauliche Verhältnis Sänger-Zuhörer zu gefährden.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Nachtrag: In Des Baches Wiegenlied gibt es im Takt 17 ... Meer will trinken ... einen Sechzehntel-Vorschlag auf eine Viertelnote (in der Originalausgabe für hohe Stimme aufsteigend H-Gis) ... mit der Bitte im voraus um Entschuldigung für die von mir vergewaltigten Terminologie. Viele Sänger machen daraus zwei Achtel, wie es dann in der Wiederholung dieser Worte vorgeschrieben ist (diesmal Gis-E). Diejenigen, die es come scritto singen, machen es für meine Ohren nicht sehr überzeugend. Es klingt oft unnatürlich, fast lächerlich.
    Mit der Ausnahme von Gérard Souzay, der die Töne "flötet" (kein besseres Wort gefunden) und die hohe Note in voix mixte singt.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Schön, dass die Müllerin jetzt auch ihren Faden hat. Ich gebe zu, lange Zeit ein paar Probleme mit diesem Zyklus gehabt zu haben, gerade auch im Vergleich zur Winterreise, kam er mir immer oberflächlich vor (niemals musikalisch, aber inhaltlich), es ging mir genauso wie Rideamus es im Faden zu Schwanengesang geschildert hat, dass mir diese Worte und die darin ausgedrückten Empfindungen so fremd waren und missbräuclich ge"pflegt" vorkamen.

    Zitat

    Zitat von »Rideamus«
    Aber vielleicht fällt es einem, nicht zuletzt dank des Missbrauchs in Richtung Kitsch, in unserer, ach so nüchternen, Zeit nicht mehr so leicht, solche Texte für bare Münze zu nehmen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich mit dem Kunstlied oft schwerer tue als mit der Oper, deren durchschnittliche Texte sicher nicht von höherer Qualität sind, im gesamten musikalischen Geschehen aber eher als zweitrangig wahrgenommen werden.


    Aber als der Threadöffner Alexander sein Vorhaben ankündigte, war ich so begeistert darüber, dass mir das Gelegenheit geben würde, mich doch endlich einmal näher mit dem Werk zu beschäftigen. Dadurch, dass ich genug Zeit über die Feiertage hatte, konnte ich das auch realisieren, und es hat sich wahrlich gelohnt, ich bin richtige Liebhaberin des Zyklus' geworden.
    Dies ist vor allem einem Mann zu verdanken, der auch schon hier erwähnt wurde, nämlich Peter Schreier.
    Da ich die Möglichkeit hatte, mal wieder meinen alten Plattenspieler anzuwerfen, könnte ich die Schreier-Version mit Olbertz auf Schallplatte anhören.

    die "klassische" DGG-Ausgabe mit Walther Olbertz am Klavier (heutzutage zu Recht vergessen)


    Nun gut, ich habe keinen Vergleich, aber Schreier hat mich auf jeden Fall sehr begeistert...wäre demnach anzuraten, mir die Version mit Schiff oder so zu besorgen. Wie ist denn die mit Gitarrenbegleitung?

    Was ich bei Schreier so wunderbar finde, ist das scheinbare (!) anfängliche Unterstatement, er singt sehr deutlich, sehr verständlich, aber was wunder, genau daraus entsteht letztlich eine Menge der inneren Dramatik, der Innenspannung des Zyklus' . Besonders in der zweiten Hälfte der Lieder gestaltet Schreier so bestechend, dass ich die Nadel immer und immer wieder auf die Platte gesetzt habe, grandios seine Dynamik in "Mein!", herrlich wie er bestimmte Phrasen singt, zB "...ich möchte liegen vor ihrer Tür/ in Sturm und Regen und Schnee", aus "Die böse Farbe", sein sanft berührendes "Leid und Sorgen" aus dem "Morgengruß", die impulsive und erregte wirklich nachvollziehbare "Eifersucht und Stolz", das schnelle "Der Jäger" oder sein ganz genial aspiriertes, echt atemloses "Kehr um! Kehr um!"
    Seine Stimme passt einfach auch so unglaublich zu dieser Figur, finde ich.
    Also wenn er das in den anderen Einspielungen genauso leistet und die Pianisten ihr ihriges dazu tun, werde ich die CD haben müssen.

    Einige Zeit besitze ich schon diese, habe sie vorher aber erst ein einziges Mal gehört (wie ich oben erklärte) :

    Wunderlichs Stimme ist schön und er singt den Zyklus auch schön, aber es bleibt für mich immer ein unerfüllter Rest, er "überdeutet" nicht, ist sehr natürlich, aber gerade diese Natürlichkeit wirkt manches Mal recht oberflächlich auf mich, die Betroffenheit, die Empathie ist meist eine dargestellte, keine erlebte und das ist es was mir fehlt.

    1. Das Wandern (Textbeginn "Das Wandern ist des Müllers Lust...")
    Bekenntnis des Gesellen zum Wandern. Die Begleitung suggeriert ein Mühlrad (des Lebens?). Man kann vielleicht darauf achten, ob die Elemente der einzelnen Strophen (Wasser, Steine) in den Interpretationen unterschiedlich betont werden.


    Wunderlich und Giesen tun genau das, die Steine werden am Beginn fast überdeutlich schwer betont und das Tempo regelrecht gedrosselt.

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

  • Vielen Dank für alle weiteren bisherigen so vielschichtigen Beiträge in diesem Thread, hier noch ein paar persönliche Eindrücke.

    Am 16.10.2009 konnte ich Christian Zenker (Tenor) und Rudi Spring (Klavier) mit Franz Schuberts Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ im Bürgerhaus „Schranne“ in Giengen an der Brenz live hören. Habe damals notiert:

    Rudi Spring „steigt hinein“ in „Das Wandern“. Beide versuchen, sehr natürlich zu interpretieren, in den Details differenziert und doch ungleich mehr von Herzen als von Konzertsaaldistanz geprägt. Zenkers Stimme geht nahe, man denkt keine Sekunde daran, dass dies Kunstlieder sind, denen man vielleicht (so erzogen) nur zuhört, man ist sofort mittendrin auf dieser unglücklich verlaufenden Liebesreise durch die Natur. Jeglicher Manierismus wird vermieden. Rudi Spring am Klavier bevorzugt den erzählenden Duktus, ohne sich zu sehr vorzudrängen. Er begleitet nicht, er „gestaltet“, aber dies immer im Dienste der emotionalen Ausdrucksintensität des Tenors und seiner Interpretation. Zu „Weltstillstandshöhepunkten“ werden die langsamen Lieder, etwa das „ewige“ „Der Neugierige“ (Nr. 6), auch der „Morgengruß“ (Nr. 8) und der „Tränenregen“ (Nr. 10), „Die liebe Farbe“ (Nr. 16), diese beklemmende Einsamkeit bei „Trockne Blumen“ (Nr. 18), die Weltverlassenheit und die Fieberphantasie fast wie die Florestans in Beethovens „Fidelio“-Kerker in „Der Müller und der Bach“ (Nr. 19), und dann das wunderbar ewige Strophenlied „Des Baches Wiegenlied“ (Nr. 20), das in diesem Fall allerdings für den Schreiber auch deswegen etwas viel ewig gerät, weil er ab der zweiten Strophe einen aufkeimenden Hustenreiz zu unterdrücken hat. (Dies aber individuell subjektiv bemerkt, nur nebenbei.) Geniale Lieder, eine eminent herzliche genauso wie differenzierte Interpretation, nach wunderbarer Betroffenheitsstille im Ausklang spürbar sehr ehrlicher Applaus.

    Genau an diesem 16.10.2009 wurde eine CD-Aufnahme mit dem Zyklus veröffentlicht. Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch haben die „Müllerin“ am 30.7.2009 im Münchner Max-Joseph-Saal in einem Konzert geboten, das mitgeschnitten wurde. Die Datumsgleichheit hat für mich Konzerterlebnis und CD (Decca 478 1528) miteinander verwoben, auch wenn Kaufmanns Ansatz ein völlig anderer ist. Seine Stimme ist ja schwerer, gewichtiger, „opernhausfüllender“. Ich finde sie aber durchaus für sich einnehmend, sympathisch persönlich, auch und gerade wie lebendig er und Deutsch mich mitnehmen in diese Geschichte. Ich kann und will nicht so kritisch sein wie die Vergleichsredakteure vom Radio. Man hört einerseits, dass es eine Konzertaufnahme ist, andererseits machen Kaufmann und Deutsch die Musik zum psychologisch und fast leibhaftig mitlebbaren Geschehen, emotional spannend kontrastiv. Inniges gerät noch inniger, Exaltiertes noch dramatischer. Kaufmann gelingen plastisch starke Assoziationen, etwa wenn er mit „Gottes heller Morgen“ im „Morgengruß“ einen Sonnenaufgang zu evozieren scheint. Zu einem richtig verstörenden Moment gestalten die beiden das Ende des „Tränenregens“, wenn die Müllertochter geht. Die „trocknen Blumen“ beginnen großartig verloren, ehe sich der Tenor trotzig opernhaft aufschwingt. In „Des Baches Wiegenlied“ hebt Kaufmann das „Hinweg!“ deutlich hervor, und die letzte Strophe rundet „rubato“ ab, den Vollmondaufgang verdeutlichend. Mir gefällt diese dramatische, emotionale Herangehensweise sehr gut, ich kann auch wenn ich den Zyklus die letzten Tage bereits ein paar Mal gehört habe wieder völlig neu mit der Geschichte mitleben.

    Morgen dann Gedanken zu einem, den man hier wahrscheinlich nicht unbedingt erwarten würde.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Hallo zusammen!

    Also , um die Aufnahme von J. Kaufmann hatte ich einen großen Bogen gemacht, aber dann habe ich ihn
    Live im Konzert hier in Frankfurt gehört .
    Und dazu kann ich nur sagen es war unbeschreiblich . Habe am Ende da gesessen und wusste garnicht
    was mit mir passiert war es liefen mir die Tränen das Gesicht herunter und ich konnte gar nicht Applaudieren !
    Das klingt sehr Sentimental aber ich kannte so etwas noch nicht.

    Seitdem habe ich immer bei allen anderen Aufnahmen die Stimme von J.K. im Ohr.
    Ergreifend und immer Text nahe, mit einer sehr guten Diktion im Ausdruck.

    Meine 2. Lieblingsaufnahme ist die mit E. Tappy bei Claves neu herausgekommen.
    Ruben Lifschitz ist der Pianist die Aufn. ist von ' 74
    E. Tappy war ein sehr guter Mozartsaenger und das kann er hier auch voll transportieren.
    Die Aussprache ist sehr gut für einen Franz. Schweizer!
    Sehr differenziert in den verschiedenen Liedern.

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

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