Händel: Welche Opern „muss“ man haben?

  • Ich habe bereits jetzt eine gewisse Ahnung, dass "Giulio Cesare" große Kunst ist. Jacobs-Aufnahme übrigens. Aber es ist auf alle Fälle ganz anders als Haydn oder Mozart. Selbst die weltlichen (und auch geistlichen) Bach-Kantaten wirken lockerer...

    Tatsächlich, Händel ist anders als Haydn oder Mozart. Seltsamerweise ist auch Beethoven anders als Wagner und Donizetti anders als Puccini.
    Zur Frage, was lockerer ist, finde ich Bachs Kantaten um einiges verkrampfter als Giulio Cesare. Mag wohl am eigenen Geschmack liegen.

    Ich verstehe sogar, warum Haydn, Mozart & Co. weniger Moll verwendet haben.

    Das könntest Du ihnen auch gerne erklären. Mozart kannte einige Oratorien Händels. Ob er seine Opern mal gehört hätte, ist mehr als fraglich (zur Erinnerung: Händels letzte Oper, Deidamia, wurde 1741, dh 15 Jahre vor Mozarts Geburt, komponiert, Giulio Cesare erst 1724, damals war Leopold Mozart gerade 5 Jahre alt).

    Alles, wie immer, IMHO.


  • Das könntest Du ihnen auch gerne erklären. Mozart kannte einige Oratorien Händels. Ob er seine Opern mal gehört hätte, ist mehr als fraglich (zur Erinnerung: Händels letzte Oper, Deidamia, wurde 1741, dh 15 Jahre vor Mozarts Geburt, komponiert, Giulio Cesare erst 1724, damals war Leopold Mozart gerade 5 Jahre alt).


    Befasse dich mal mit der Ästhetik von: Barock - Rokoko - Klassik.

    Schon aus Sicht der Rokoko-Menschen wirkt das Barock affektiert. Goldoni hat neue Themen gebracht. Volksnäher. "Zurück zur Natur" (Haydn: L'infedeltà delusa).

    Barock: Würde; Streben nach imposanter Wirkung; majestätisch, glorreich, rhetorisch

    Rokoko: Leichtigkeit, Beschwingtheit, heitere Sinnlichkeit

    Das waren jetzt Fakten. Eine Interpretation meinerseits ist die Sache mit dem Moll. Meine Annahme ist, dass Mozart & Co. sehr wohl die affektierten Barock-Moll-Arien kannten. Falls das zutreffen sollte, hätten sie allen Grund, mit diesem Stilmittel sparsamer umzugehen.


    Thomas

    PS: Mit "nachfolgender Zeit" meinte ich Haydn, Mozart, Beethoven bis vor der Romantik. Hauptsächlich aber die direkt auf das Barock folgende Zeit.

  • Mozart hat bekanntlich vier Chorwerke Händels für Aufführungen in Wien Ende der 1780er Jahre bearbeitet: Messias, Alexanderfest, Cäcilienode und Acis und Galathea.
    Er muss noch mindestens Israel in Egypt gut gekannt haben, weil er (wie im thread zur c-moll-Messe schon einmal angesprochen) einen Chor sehr eng an "The people shall hear" anlehnt und im Requiem ein Thema aus dem ersten Teil bzw. der Trauerode The ways of Zion do mourn verwendet.

    Die einfache Gegenüberstellung von "steifem Barock" und "eingängigem galanten Stil" oder Gluckscher Wahrhaftigkeit oder was auch immer, ist zu simpel. Der galante Stil enstand schon in den 1730ern und bestand eine ganze Zeit parallel zum "traditionellen" Barockstil. Besonders in England wurde zB die Musik Corellis auch in den Mitte des 18. Jhds. noch hochgeschätzt und ebenso Händels Werke nach dessen Tod. Die Opern gerieten u.a. deshalb in Vergessenheit, weil Opern immer aktuell sein mussten. (Wenn Händel eine seiner Opern nach 10 Jahren ein weiteres mal für eine Saison auf die Bühne brachte, hat er sie überarbeitet).

    Aber einzelne Arien blieben durchaus populär (oft auch in instrumentalbearbeitungen) und ein Werk wie Acis & Galatea meines Wissens sogar zur Gänze. Der pastorale Ton ist durchaus kompatibel mit dem moderneren galanten Stil und Stücke wie "As when the dove" oder "Happy, happy we" sind genauso eingängig wie etwas von Mozart.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Barock: Würde; Streben nach imposanter Wirkung; majestätisch, glorreich, rhetorisch


    J. S. Bach: Thema all'imitatio gallina cucca.
    G. Frescobaldi: Capriccio sopra "Il cucco"
    J. S. Bach: Triosonaten für Orgel
    ...
    ...

    Seltsamerweise ist auch Beethoven anders als Wagner und Donizetti anders als Puccini.


    Ja, noch mehr: Sogar Wagner ist ganz anders als Verdi - dabei haben die ungefähr zur selben Zeit gelebt!

    Wenn man genau hinsieht, dann ist sogar Wagner anders als Wagner: Lohengrin/Parsifal, Holländer/Tristan, .... unglaublich. Ich finde das einfach verwirrend.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Inzwischen hab ich in "Giulio Cesare" reingehört.

    Das ist schon arg gekünstelt, aus Sicht der nachfolgenden Zeit. Das war dann einfach "out". Ich verstehe sogar, warum Haydn, Mozart & Co. weniger Moll verwendet haben. Man assoziierte das wohl mit künstlichem Pathos.

    Das soll jetzt keine Kritik aus heutiger Zeit sein. Ich habe bereits jetzt eine gewisse Ahnung, dass "Giulio Cesare" große Kunst ist. Jacobs-Aufnahme übrigens. Aber es ist auf alle Fälle ganz anders als Haydn oder Mozart. Selbst die weltlichen (und auch geistlichen) Bach-Kantaten wirken lockerer...


    Thomas

    Hallo Thomas, das 'künstliche Pathos' ist, glaube ich, das, was ich mit heroisch meinte. Wenn man sich vorstellt, dass hier eine historisch tatsächlich sehr bedeutende Geschichte verhandelt wird, schlägt sich eben im Ton der Musik nieder.

    Wenn Dir das zu pathosgeladen ist, versuch einmal den zweiten Akt des Orlando. Ich denke, Du wirst einen erheblichen Unterschied im Ton hören.
    (z.B. die Aufnahme von William Christie).

    LG Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

  • Cornelia und Sesto sind eben vom Schicksal schwer geschlagen, denen sollte man etwas Pathos zugestehen...
    Ich bin lange kein solcher Kenner dieser Werke wie einige andere hier, aber die drei mir präsentesten Stücke aus Giulio Cesare sind alle eingängig und nicht sehr pathetisch: "Se in fiorito prato", "Va tacito" (mit obligatem Horn :juhu: :juhu: ) und "V'adoro pupille"

    MIt Pathos habe ich überhaupt keine Probleme (das dürfte auf die meisten von uns heute doch weit weniger aufdringlich wirken als entsprechendes in der Oper des 19. Jhds.). Meine liegen eher in der Länge der Stücke insgesamt und der großen Anzahl von Figuren, die alle genügend Arien haben müssen, und den mitunter verwirrenden Handlungen

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)


  • Hallo Thomas, das 'künstliche Pathos' ist, glaube ich, das, was ich mit heroisch meinte. Wenn man sich vorstellt, dass hier eine historisch tatsächlich sehr bedeutende Geschichte verhandelt wird, schlägt sich eben im Ton der Musik nieder.

    Wenn Dir das zu pathosgeladen ist, versuch einmal den zweiten Akt des Orlando. Ich denke, Du wirst einen erheblichen Unterschied im Ton hören.


    Ich habe mit Pathos keine Probleme. Ich stelle nur die Unterschiede fest. In der Malerei bin ich sogar Caravaggio-Fan. Aber die Theatralik in seiner "Erzählweise" ist frappierend, fast unabhängig vom konkreten Thema.

    Solche Dinge fallen einfach auf, wenn man sich theoretisch (d.h. aus Büchern) mit Barock und Rokoko befasst hat und dann mit der Praxis (bei mir vor allem: Malerei und Musiktheater) vergleicht.

    Von Haydn habe ich alle seine 13 erhaltenen Opern gelesen (im Original), inkl. aller Rezitative, von der ersten bis zur letzten Silbe. Das Gleiche trifft auf 10 Mozart-Opern zu. Teilweise sind schon die Themen ganz anders als im Barock. Aber selbst da, wo sich die Themen überschneiden (z.B. Haydn: Armida; Orfeo ed Euridice), ist die Umsetzung anders.

    Ein paar Themen habe ich übrigens hier in Beispielen aufgelistet. Die Oper (L'infedeltà delusa) ist ein einziges Manifest "nachbarocker" Lebensauffassung.

    Aber noch mal:
    Es geht nicht darum, Händel als "altmodisch" zu erkennen. Sondern um die Frage, inwieweit er in seine Zeit hineinpasst. Er scheint es zu tun, nach dem ersten Höreindruck. Genaueres kann ich in ca. 2 Jahren sagen (so lange dauert das leider), wenn ich die Oper (und evtl. noch eine zweite) mehrfach gehört und auch gelesen habe.

    Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich auch eine Gluck-Oper (Orphée) bestellt habe. Gluck müsste deutlich näher an Haydn als an Händel sein. Die Frage ist, inwieweit man das erkennt.

    Am interessantesten sind solche Vergleiche natürlich bei gleichen Stoffen. Was haben wir da:

    Händel:
    Rinaldo (Haydn: Armida; Gluck: Armide)
    Orlando (Haydn: Orlando Paladino)
    Alcina (Haydn: Orlando Paladino)
    Acis and Galatea (Haydn: Acide)

    Es geht natürlich auch Haydn vs. Gluck, aber wir sind hier ja im Händel-Thread.


    Thomas

  • Aber noch mal:
    Es geht nicht darum, Händel als "altmodisch" zu erkennen. Sondern um die Frage, inwieweit er in seine Zeit hineinpasst. Er scheint es zu tun, nach dem ersten Höreindruck. Genaueres kann ich in ca. 2 Jahren sagen (so lange dauert das leider), wenn ich die Oper (und evtl. noch eine zweite) mehrfach gehört und auch gelesen habe.

    Hallo Thomas,

    aus Deinen Threadeinträgen geht sehr stark hervor, dass Du von den (Libretto-)Texten an diese Opern herangehst. Das ist als Deine persönliche Herangehensweise auch über jede Kritik erhaben, das sollst Du so tun.

    Nur würde ich für fast die gesamt Operngeschichte behaupten, dass die Texte der Opern nicht der Grund für die heutigen Versuche sind, diese Stücke auf ihre Aktualität zu überprüfen, sondern es ist die Musik. Das gilt eben auch für Barockopern. Du hast völlig recht, dass nachbarocke Opernlibretti andere Akzente setzen als barocke Texte. Ich lasse den interessanten Aspekt, dass die Texte des barocken Dichters Metastasio auch noch in nachbarocker Zeit häufig als vorbildlich angesehen wurden und auch noch vertont wurden, extra beiseite.

    Wenn Du Dich in dieser (textaffinen) Form mit dem Giulio Cesare auseinandersetzen willst, lass den ersten Akt (er beginnt mit der Enthauptung des Pompeius!!) und die vielen Klagelieder der Cornelia und des Sextus aus. Dann hilft der von mir empfohlene Weg, höre einfach einmal alle Arien des Cesare oder der Cleopatra aus allen Akten durch. Dann wirst Du mehr über Händel lernen. Er setzt ganz unterschiedliche Stücke gegeneinander, die der Figur Tiefe und menschliche Größe verleihen, am Besipiel des Cesare im ersten Akt [kurze Eingangsarie des siegreichen Helden ('Presti ormai'), Beschimpfung des feigen Mörders Tolomeo ('Empio, dirò), Anerkennung der Leistung seines jahrzentelangen Verbündeten, der in den letzten Jahren sein wichtigster Gegner war (Accompagnato 'Alma del gran Pompeo'), Liebeslied ('Non si è vago')].

    Wenn man begreift, dass das, was unten als Länge des Stücks angesehen wird, eine Spezialität dieser konkreten Oper ist, die eher vier als drei Stunden Musik enthält, es aber eben auch für den heutigen Zuhörer gar nicht darauf ankommt, sich durch alle vermeintlichen 'Längen' durchzusitzen, dann hat man die Freiheit hier und da einmal hereinzuhören und festzustellen, dass das Pathos im Giulio Cesare eher eine Sache der Rollen Cornelia und Sesto ist als der gesamten Oper.

    LG Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)


  • aus Deinen Threadeinträgen geht sehr stark hervor, dass Du von den (Libretto-)Texten an diese Opern herangehst. Das ist als Deine persönliche Herangehensweise auch über jede Kritik erhaben, das sollst Du so tun.


    Da hast du einen falschen Eindruck, und der kommt daher: Meine Einstellung ist die, dass Text und Musik gleichberechtigt sind oder zumindest sein sollten. Daher interessiere ich mich für beides gleichermaßen. Leider bin ich aber kein Musikwissenschaftler. Mein theoretischer Hintergrund ist also begrenzt, und selbst wenn ich mir etwas erarbeite (z.B. Analyse von Haydn-Sinfonien), fehlt es am (fach-)sprachlichen Ausdrucksvermögen. Es fällt einfach leichter, über Texte zu schreiben als über musikalische Strukturen.

    Zitat


    Nur würde ich für fast die gesamt Operngeschichte behaupten, dass die Texte der Opern nicht der Grund für die heutigen Versuche sind, diese Stücke auf ihre Aktualität zu überprüfen, sondern es ist die Musik.


    Das sehe ich natürlich anders. Aber wir brauchen uns jetzt keine Beispiele gegeneinander an den Kopf zu werfen von Opern, die wegen des Librettos oder wegen der Musik auf den Spielplan gesetzt wurden.

    Ich persönlich würde übrigens niemals in eine konzertante Aufführung gehen, egal wer da singt. In eine "Libretto-Lesung" natürlich erst recht nicht.

    Zitat


    Das gilt eben auch für Barockopern. Du hast völlig recht, dass nachbarocke Opernlibretti andere Akzente setzen als barocke Texte. Ich lasse den interessanten Aspekt, dass die Texte des barocken Dichters Metastasio auch noch in nachbarocker Zeit häufig als vorbildlich angesehen wurden und auch noch vertont wurden, extra beiseite.


    Musst du nicht. Eine der interessantesten Haydn-Opern, L'isola disabitata, ist von Metastasio. Meines Wissens wurde der Stoff auch schon vor Haydn vertont. Haydn verwendet dennoch die "Musiksprache" seiner Zeit. Eben habe ich übrigens das erste Mal Glucks Orphée gehört. Klingt völlig "unbarock".

    Zitat


    Wenn Du Dich in dieser (textaffinen) Form mit dem Giulio Cesare auseinandersetzen willst, lass den ersten Akt (er beginnt mit der Enthauptung des Pompeius!!) und die vielen Klagelieder der Cornelia und des Sextus aus. Dann hilft der von mir empfohlene Weg, höre einfach einmal alle Arien des Cesare oder der Cleopatra aus allen Akten durch. Dann wirst Du mehr über Händel lernen. Er setzt ganz unterschiedliche Stücke gegeneinander, die der Figur Tiefe und menschliche Größe verleihen, am Besipiel des Cesare im ersten Akt [kurze Eingangsarie des siegreichen Helden ('Presti ormai'), Beschimpfung des feigen Mörders Tolomeo ('Empio, dirò), Anerkennung der Leistung seines jahrzentelangen Verbündeten, der in den letzten Jahren sein wichtigster Gegner war (Accompagnato 'Alma del gran Pompeo'), Liebeslied ('Non si è vago')].

    Wenn man begreift, dass das, was unten als Länge des Stücks angesehen wird, eine Spezialität dieser konkreten Oper ist, die eher vier als drei Stunden Musik enthält, es aber eben auch für den heutigen Zuhörer gar nicht darauf ankommt, sich durch alle vermeintlichen 'Längen' durchzusitzen, dann hat man die Freiheit hier und da einmal hereinzuhören und festzustellen, dass das Pathos im Giulio Cesare eher eine Sache der Rollen Cornelia und Sesto ist als der gesamten Oper.


    Üblicherweise mache ich das wie folgt. Vor dem Hintergrund, dass es mir früher vor allem um das Italienisch-Üben ging. Bis ich feststellte, dass ich zu einer Massenet-Oper nur schwer den Zugang fand, seither mache ich es auch mit französischen Opern so. Und mit Boris Godunow tu ich mehr genau deswegen schwer, weil es da nicht geht. Ärgerlich. Also was mache ich:

    Erstes Hören: Nur hören, dabei den Inhalt grob überfliegen.
    Zweites Hören: Libretto überfliegen, "wichtige" Sätze in eine Excel-Tabelle schreiben. Ggf. Vokabelliste hinzufügen, auf alle Fälle sicher stellen, dass der abgeschriebene Text verstanden wird (Aufwand: ca. 30 Minuten pro Abend, die Oper wird über 2-3 Abende gehört). Erst dann die Oper hören, bei den vorher abgeschriebenen Passagen besonders aufpassen.
    Drittes Hören: Weitere Textteile abschreiben, dabei analog wie oben verfahren.
    Und so weiter.

    Nach dem vierten Hören sind in der Regel sämtliche Arien erfasst (bzw. bei Verdi etc.: die wichtigen Stellen)

    Theoretisch hätte ich irgendwann das ganze Libretto abgeschrieben. So weit ist es aber noch nie gekommen, und das ist auch nicht das Ziel. Es ist einfach ein Trick, einzelne Passagen näher zu betrachten, gerade auch hinterher beim Hören. Das Gesamtbild ergibt sich über Jahre.

    Bei Giulio Cesare werde ich natürlich gleich mal den Schwerpunkt auf die von dir genannten Passagen legen, vielen Dank für die Hinweise.


    Thomas

  • Da hast du einen falschen Eindruck, und der kommt daher: Meine Einstellung ist die, dass Text und Musik gleichberechtigt sind oder zumindest sein sollten


    Wie hört man eine Händeloper!?: Man überfliegt kurz und schnell die Synopsis, wirft das Textheft weg (ist sowieso nur komplizierter Beziehungsblödsinn, der keine großen inneren Erkenntnisse birgt) und lauscht einfach und unschuldig der tadellosen und wunderbaren Musik. :rolleyes:


    Gruß
    Josquin

  • Wie hört man eine Händeloper!?: Man überfliegt kurz und schnell die Synopsis, wirft das Textheft weg (ist sowieso nur komplizierter Beziehungsblödsinn, der keine großen inneren Erkenntnisse birgt) und lauscht einfach und undschuldig der tadellosen und wunderbaren Musik.

    Dazu wußte Händel, daß seine Londoner Zuhörer vom italienischen Text nur railway station verstehen würden und bemühte sich deshalb, die ganze Palette der Affekte musikalisch auszudrücken, was ihm wunderbar gelungen ist.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Schon aus Sicht der Rokoko-Menschen wirkt das Barock affektiert.


    Jaja, und die Rokoko-Musik galt den um 1800 bereits schon wieder als "verzopft", das liegt wohl in der Natur der Sache, daß die Jüngeren das Wirken der Älteren für altmodisch, überholt und unzeitgemäß halten. Wer macht heute noch serielle Musik oder musiziert so, wie das ante HIP vor 60 Jahren üblich war...? Welcher Popmusik-Fan steht noch auf Rudi Schurike oder Marianne Rosenberg..? Momentan gehen gerade die alten HIP-Protagonisten so nach und nach in Rente - das merkt man auch schon... :stumm:

    Das ist schon arg gekünstelt, aus Sicht der nachfolgenden Zeit. Das war dann einfach "out". Ich verstehe sogar, warum Haydn, Mozart & Co. weniger Moll verwendet haben. Man assoziierte das wohl mit künstlichem Pathos.


    dto., aber das hätte auch in einem Opernführer der 50er stehen können... :D "wird zu recht nicht mehr gespielt... ewiger Wechsel von Rezitativ und Arie...heutiger Sicht... langweilig... ermüdend..." :D

    MIt Pathos habe ich überhaupt keine Probleme (das dürfte auf die meisten von uns heute doch weit weniger aufdringlich wirken als entsprechendes in der Oper des 19. Jhds.). Meine liegen eher in der Länge der Stücke insgesamt und der großen Anzahl von Figuren, die alle genügend Arien haben müssen, und den mitunter verwirrenden Handlungen


    :mlol:
    Wie lang sind doch grade mal wieder die Opern dieses gewissen "Wagner"? (Richard, glaub' ich, heißt der mit Vornamen). Und hat der nicht auch so etwa 34 singende Einzelpersonen im - äh, wie heißt's doch gleich wieder? - "Ring"? Und Handlung über 4 Abende? :mlol:

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Wagner ist lang, aber sehr übersichtlich.
    Walküre, Akt I: 3 Personen. Akt II hat dann nochmal 3 weitere, aber immer hübsch nacheinander. Akt III wird, von der Anfangsszene abgesehen, im wesentlichen von Wotan und Brünnhilde bestritten.
    4 Stunden Tristan haben insgesamt nur 5 Personen (+ Melot, Matrose, Hirte), wobei Marke eigentlich nur im 2. Akt so recht vorkommt, dafür Brangäne nicht im 3.

    Dagegen muss ich mir bei Giulio Cesare schon im ersten Akt Cäsar, Cornelia, Sesto, Tolomeo, Cleopatra und zwei bis drei Subalterne (wie den Bass, der scharf auf Cornelia ist, und den Kumpel Cäsars, Nireno?) merken.
    Und da ist noch niemand verkleidet/verwechselt/verhext wie zB in Alcina.

    In einer Opera Seria Tristano hätte Melot vermutlich zwei Arien, Isolde wäre mindestens einmal als Brangäne verkleidet und Tristan würde bei Gelegenheit mit dem Hirten verwechselt.

    Ich gebe aber gern zu, dass mein Problem nicht allzu barockopernspezifisch ist.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Wagner ist lang, aber sehr übersichtlich.
    Walküre, Akt I: 3 Personen. Akt II hat dann nochmal 3 weitere, aber immer hübsch nacheinander. AKt III wird, von dern Anfangsszene abgesehen im wesentlichen von Wotan und Brünnhilde bestritten.
    4 Stunden Tristan haben insgesamt nur 5 (+ Melot, Matrose, Hirte), wobei Marke eigentlich nur im 2. Akt so recht vorkommt, dafür Brangäne nicht im 3.


    Die Anzahl der Personen ist sicher ein Kriterium.

    Aber um den Streit von Wotan mit Fricka mitzuverfolgen, braucht man schon etwas Vorwissen ... z. B. aus dem Rheingold. Und am Schluss tragen Brünnhilde und Wotan denselben Streit nochmal mit verkehrten Vorzeichen aus. Also nicht ganz so einfach, trotz weniger Figuren auf der Bühne.

    Und Tristan ist diesbzgl. in meiner Wahrnehmung sogar recht komplex in seinen Gesprächen zwischen Isolde und Tristan, sowohl im ersten als auch im zweiten Aufzug.

    Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Wenn man diese Komplexität nicht aktiv mitvollzieht, sondern einfach den Musikschwall über sich ergehen lässt, dann ist das todlangweilig mit wenigen spektakulären Höhepunkten.

    Viele Grüße
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Wie hört man eine Händeloper!?: Man überfliegt kurz und schnell die Synopsis, wirft das Textheft weg (ist sowieso nur komplizierter Beziehungsblödsinn, der keine großen inneren Erkenntnisse birgt) und lauscht einfach und unschuldig der tadellosen und wunderbaren Musik. :rolleyes:


    :mlol: :mlol: :mlol: :yes:

    Dazu wußte Händel, daß seine Londoner Zuhörer vom italienischen Text nur railway station verstehen würden und bemühte sich deshalb, die ganze Palette der Affekte musikalisch auszudrücken, was ihm wunderbar gelungen ist.

    Händel hat immerhin viele Stoffe vertont, deren Plot zum Bildungskanon gehörte und wo man davon ausgehen konnte, dass die gebildeten Hörer ansatzweise wussten worum es ging. Aber abgesehen davon gebe ich euch vollkommen recht: ich würde mir keine Händeloper wegen des Librettos anhören, ebensowenig wie eine Bellini-Oper und ebensowenig wie jede andere Oper. Wenn der Komponist es nicht schafft, Alles in die Musik, den Gesang und die Instrumentierung zu packen, interessiert mich die Oper auch bei allerbestem Libretto nicht. Barock-Opern vertonen in der Regel auf die Spitze und in den Abgrund getriebene Affekte- der Text ist nur eine Vorlage. Ein gutes Opern-Libretto ist mir eine sehr erfreuliche Zugabe aber keine Bedingung. Händel war genial genug, so vorzügliche Musik über 4 Stunden Operndauer zu schreiben, dass man die Emotionen immer erkennt, auch wenn man nur railway station versteht. Wer wegen toller Texte ins Theater geht und von Händelopern enttäuscht ist, sollte es vielleicht mal mit dem Sprechtheater versuchen....... :rolleyes:

    Wagner ist lang, aber sehr übersichtlich.

    Soll das nun ein Qualitätsmerkmal sein? André Rieu ist auch lang und übersichtlich. Rideamus hat recht: in JEDEM Thread landet man unweigerlich bei Wagner....

    sondern einfach den Musikschwall über sich ergehen lässt, dann ist das todlangweilig mit wenigen spektakulären Höhepunkten.

    Seh ich genau andersrum: wenn ich nur den Musikschwall über mich ergehen lasse, kann ich einigen Wagner-Opern noch etwas Positives abgewinnen, wenn ich aber auch die Texte ertragen muss, ist das der Pein zuviel. Bei Händel gibt es wenigstens Arien zum Mitsingen oder -pfeifen falls man sich ob der Länge langweilen sollte..... :pfeif:

    :fee:

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Das sollte überhaupt keine Wertung sein, nur der Hinweis darauf, dass die Handlung bei Wagner in der Regel stark reduziert ist, verglichen mit einer Händel-Oper oder überhaupt den meisten anderen Opern. Der Ring insgesamt ist natürlich verwickelt, aber eben auch 4 Opern lang, davon drei wiederum extrem lang.

    Ich kann nicht behaupten, mich da besonders gut auszukennen und es mag sein, dass das Londoner Publikum von den Texten nicht viel verstanden hat. Nun hat Händel aber seinen Stil für die Londoner Opern nicht wesentlich gegenüber den in Italien komponierten Werken geändert und dort dürften die Texte schon verstanden worden sein. Die italienischen Kantaten, die beiden italienischen Oratorien und Aci, Galatea e Polifemo gehören da auch mit hinein und hier stammten die Libretti in vielen Fällen von den kunstsinnigen "Arkadiern" (Kardinal Ottoboni u.a.) selbst, und die dürften schon gewisse Erwartungen bzlg. der Vertonung gehabt haben. Das sind zwar andere Werke, aber m.E. kein grundlegend anderer Text- oder Musikstil.

    Sicher muss man das nicht dekodieren, um davon angetan zu sein, aber das Horn-Solo in "Va tacito" verlangt eigentlich schon Textverständnis; Cäsar ist, anders als Max im Freischütz, ja nicht selbst auf der Jagd, sondern vergleicht den verschlagenen Tolomeo mit einem sich anpirschenden Jäger.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Sicher muss man das nicht dekodieren, um davon angetan zu sein, aber das Horn-Solo in "Va tacito" verlangt eigentlich schon Textverständnis; Cäsar ist, anders als Max im Freischütz, ja nicht selbst auf der Jagd, sondern vergleicht den verschlagenen Tolomeo mit einem sich anpirschenden Jäger.

    Man kann es umgekehrt interpretieren. Da man weiß, daß Cäsar nicht auf der Jagd ist, läßt uns das Horn-Solo verstehen, daß es eine simile-Aria ist, die mit Jagdmotiven zu tun hat.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Händel hat immerhin viele Stoffe vertont, deren Plot zum Bildungskanon gehörte und wo man davon ausgehen konnte, dass die gebildeten Hörer ansatzweise wussten worum es ging.


    Das sehe ich genauso. Und nicht nur das: die selben Stoffe waren auch der Plot von einem Dutzend anderen Opern und Theaterstücken. Auch wenn sie's auf italienisch nicht verstanden haben sollten: Die wußten, daß dieser weinerliche Kranke der König Admeto ist, daß er bald sterben wird, wenn sich niemand für ihn opfert, daß das schließlich seine Frau Alceste war, die das tat, daß sich der daraufhin wieder gesundete Admeto ziemlich rasch zu trösten wußte - mit Antigona, daß Hercules Alceste wieder aus dem Hades geholt hat, und daß der Rest des Stückes sich damit beschäftigt, die mittlerweile eingetretenen Verwirrungen zu beseitigen damit die seconda donna irgend einen anderen abbekommt... Theaterbekannte Handlung seit Euripides...
    Ernsthaft: Ich bin überzeugt davon, daß heute ein durchschnittlicher Opernbesucher mehr Verständnisprobleme damit hat, als ein damaliger.
    Stellt Euch vor, ihr könnt kein Englisch, und seht Euch im Kino einen alten, Euch unbekannten Western in Originalsprache an: Da gibt es irgendwelche Typen mit breitkrempigen Hüten und Colts, Planwagen, die zwei Stunden lang um die Felsen im Monument valley ziehen, andere Typen mit Federn im Haar, die ohne Sattel reiten und meistens aus dem Hinterhalt kommen, Frauen mit schreckensvoll aufgerissenen Augen, alternativ mit Repetiergewehr um sich ballernd, berittene Soldaten in schicker Uniform... ich denke, ihr bekommt die Geschichte zusammen, auch ohne die Dialoge zu verstehen... Und jetzt stellt Euch vor, die Darsteller würden singen... Oder ihr hättet bereits 20 verschiedene Verfilmungen von "Manche mögens heiß gesehen", und seht jetzt die 21.... ;+)

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Zitat von »FairyQueen«
    Händel hat immerhin viele Stoffe vertont, deren Plot zum Bildungskanon gehörte und wo man davon ausgehen konnte, dass die gebildeten Hörer ansatzweise wussten worum es ging.


    Das sehe ich genauso. Und nicht nur das: die selben Stoffe waren auch der Plot von einem Dutzend anderen Opern und Theaterstücken. Auch wenn sie's auf italienisch nicht verstanden haben sollten: Die wußten, daß dieser weinerliche Kranke der König Admeto ist, daß er bald sterben wird, wenn sich niemand für ihn opfert, daß das schließlich seine Frau Alceste war, die das tat, daß sich der daraufhin wieder gesundete Admeto ziemlich rasch zu trösten wußte - mit Antigona, daß Hercules Alceste wieder aus dem Hades geholt hat, und daß der Rest des Stückes sich damit beschäftigt, die mittlerweile eingetretenen Verwirrungen zu beseitigen damit die seconda donna irgend einen anderen abbekommt... Theaterbekannte Handlung seit Euripides...
    Ernsthaft: Ich bin überzeugt davon, daß heute ein durchschnittlicher Opernbesucher mehr Verständnisprobleme damit hat, als ein damaliger.

    Das ist genau das, was ich meinte. Für diese Opern braucht man nicht, den Text wortwörtlich zu verstehen - im Unterschied etwa zu Mozarts Da-Ponte Opern, wo einem vieles entgeht, wenn er den Text nicht verfolgt, sondern

    Zitat

    Im allgemeinen braucht man bei ihm, nur schemenhaft Kenntnis von der Handlung zu haben und das Geschehen zu verfolgen, um mit der Hilfe der Musik kontinuierlich auf dem laufenden zu sein

    Man sollte wissen, was im Stück passiert - damals war's allgemeines Kulturgut - , das Geschehen auf der Bühne mitbekommen und mit Hilfe der Musik versteht man, ob Alkestis gerade ihnen erkrankten Admetes beweint oder sich entschließt, den Gottheiten der Unterwelt entgegenzutreten. Italienisch zu verstehen braucht man in dem Fall nicht.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Auch wenn der Anlass des Fadens überholt ist (Ecclitico hat ja nun schon lange einen Giulio Cesare...), möchte ich das Thema gern ausgraben. Eine Oper, die hier noch nicht vorkam und die zwar sicher keine Einstiegsoper ist, aber vielleicht als Dritt- oder Viertanschaffung in Sachen Händel gut ist, ist Alessandro. Uraufgeführt 1726, gehörte sie durchaus zu Händels Erfolgsopern und bietet ein Feuerwerk virtuos-origineller Arien sowie einige Besonderheiten, die mit der speziellen Situation der Uraufführung zusammenhingen, bei der es Händel gelang, mit Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni gleich zwei Primadonnen-Superstars (plus Senesino in der Titelpartie) ins Boot zu holen. Dramaturgisch tat das der Oper bzw. dem Libretto nicht besonders gut, lief doch schließlich alles darauf hinaus, die drei Goldkehlen möglichst gerecht mit hochwertigen Gesangsnummern zu versorgen (der Rest war egal...) -- aber, da wir, wie weiter oben so schön geschrieben (#30) :D , das Textbuch sowieso in hohem Bogen wegwerfen ... steht dem Hörvergnügen eigentlich nichts entgegen.

    Ich bin recht zufrieden mit dieser schon etwas älteren Aufnahme (1985):

    Es gibt inzwischen mindestens(?) zwei Weitere (beide 2012) -- vielleicht hat die ja jemand getestet:

     

    Ach ja, mit Alessandro ist Alexander der Große gemeint, und die beiden Primadonnen sind zwei Prinzessinnen, beide in den ollen Haudegen verliebt; nur eine kann ihn kriegen etc. pp., aber wen interessiert das schon :P .

    :wink: Amaryllis

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