WAGNER: Parsifal - Philharmonie Essen, 26.01.2013 (Konzertante Aufführung)
Eine konzertante Aufführung des Parsifal? Bei einem Werk von epischer Länge, in dem sich die Figuren, bei Wagner nicht ungewöhnlich, viel über Vergangenes mitzuteilen haben? Das klingt zunächst nicht sonderlich attraktiv, doch habe ich mich auf die weite Reise ins Ruhrgebiet begeben, weil ich mir musikalisch Außergewöhnliches erhoffte, bei einer Veranstaltung, die sich - so dann auch im Programmheft - an den "aufführungspraktischen Gegebenheiten der Zeit um 1880" orientierte, nicht als "Rekonstruktion der Uraufführung", sondern mit der "Klangästhetik" Wagners als "Leitgedanken für die Realisierung".
Das versprach mir viel und, um es vorwegzunehmen, meine hohen Erwartungen wurden denn auch erfüllt, ja mehr als das, ich war tief beeindruckt.
Das Konzert in Essen vorgestern gehört zu einer Reihe von Aufführungen, die am 20.01.2013 in Dortmund begonnen hatte und jetzt - am 29.01., 31.01. und 02.02.2013 - in Madrid am Teatro Real abgeschlossen wird.
Die Mitwirkenden:
Parsifal: Simon O’Neill
Gurnemanz: Kwangchul Youn
Kundry: Angela Denoke
Amfortas: Matthias Goerne
Klingsor: Johannes Martin Kränzle
Titurel: Victor von Halem
1. und 2. Knappe: Solisten des Knabenchores
3. und 4. Knappe: Virgil Hartinger, Manuel Warwitz
1. und 2. Ritter: Hermann Oswald, Marek Rzepka
Klingsors Zaubermädchen: Katja Stuber, Gunta Gelgote, Antonia Bourvé, Tanya Aspelmeier, Heike Heilmann, Marion Eckstein
Stimme aus der Höhe: Marion Eckstein
Balthasar-Neumann-Chor (Einstudierung: Detlef Bratschke), Knabenchor der Chorakademie Dortmund am Konzerthaus Dortmund (Einstudierung Knabenchor: Jost Salm)
Balthasar-Neumann-Ensemble
Musikalische Assistenz: Peter Tilling, Stefan Geiger
Musikalische Leitung: Thomas Hengelbrock
Obwohl die Aufführung als konzertant angekündigt war, kam es nicht durchwegs zum statischen Rampensingen: Die Solisten, ohne Noten ebenso wie die hinter dem Orchester oben aufgestellten Chöre, bewegten sich vorne, indem sie immer wieder szenische Elemente einbauten. Besonders eindrücklich fand ich etwa die Kußszene im 2. Akt, in der sich Kundry Parsifal langsam, fast bedrohlich näherte und dieser dann, nach dem Kuß, sich sträubte und sie zurückstieß. Auch Gurnemanz' Interaktion mit den Knappen und Rittern, dann mit Parsifal wurde lebendig gestaltet - erstaunlich, was da auf dem begrenzten Raum alles ging!
Auch Kundrys Auf- und Abtritte waren Teil der Handlung. Hier auffällig: Im 1. und 3. Akt, auch zu Beginn des 2. Akts, trat sie in schlichtes Schwarz-weiß gekleidet auf und in der Verführungsszene mit einem glutrot leuchtenden Kleid.
Auf diese Weise wurden szenische Elemente immer wieder angedeutet, oratorienhafte Statik wurde vermieden (allein bei Amfortas hätte ich mir etwas mehr "action" gewünscht).
Angela Denoke als Kundry wirkte im 1. Akt eher traurig verloren als wild auffahrend, frappierte im Dialog mit Klingsor mit einem wahrhaft dreckigen Lachen (nach: "Was frägst du das, verfluchtes Weib?") und überzeugte besonders anschließend im Dialog mit Parsifal mit einer wunderbar lyrischen Stimme: Das war ganz große Kunst!
Als strahlend heller Belcantotenor gefiel mir Simon O'Neill, vielleicht etwas eindimensional, aber ebenfalls mit klar konturierender Stimme.
Großartig auch Johannes Martin Kränzle als Klingsor, sehr präsent und differenziert.
Matthias Goerne hatte ich noch mit einer hellen Stimme in Erinnerung, und ich war überrascht über seine Tiefen. Auch wenn er mehr sang als spielte - die extremen Qualen kamen nicht ganz so deutlich heraus -, überzeugte auch er.
Beeindruckend auch der kräftige Baß Victor von Halems als Titurel.
In Essen war neubesetzt der Gurnemanz (in Dortmund vorher: Frank van Hove): Kwangchul Youn gestaltete die Rolle mit unglaublicher Spannung und zeigte etwa in der langen Erzählung des 1. Akts sublime Betonungen, besonders wenn er einzelne Phrasen oder Worte ganz leise hervorhob - ich war hingerissen!
Auch die Chöre waren hervorragend einstudiert, das hatte viel Kraft und wirkte doch nie ungehobelt oder zu laut. Differenziert aufgefächert auch die Blumenmädchen, sehr schön war das!
Insgesamt war es ein sehr homogenes Ensemble; allen Beteiligten, Solisten wie Chören, gelang eine Sprachverständlichkeit, wobei melodischer Gesang und natürliche Deklamation aufs beste harmonierten, in einer Weise, wie ich sie in einer Wagner-Oper noch nie erlebt hatte; die Übertitel waren eigentlich unnötig (obwohl ich es als entspannend empfinde, mitlesen zu können, auch hier).
Daß es den Stimmen scheinbar mühelos gelang, sich nicht vom Orchester überdecken zu lassen, lag nicht nur an den stimmlichen Qualitäten der Sänger, sondern am Orchesterklang selbst. Wie eingangs erwähnt, handelte es sich um eine Aufführung mit historischem Instrumentarium. Im Programmheft wurde das ausführlich erläutert. So habe Wagner ältere Flöten mit konischer Bohrung bevorzugt, wegen der besonderen Weichheit und zarten Ansprache. Beträchtlich habe sich der Klang der Oboe von modernen Instrumenten unterschieden; es wurden 1882 und auch vorgestern Oboen mit "deutschem" System (heute noch als "Wiener Oboe" gebräuchlich) eingesetzt, nicht mit der heute üblichen Helligkeit und Brillianz, sondern dunkel und zurückhaltend, besser in den Orchesterklang integriert. Das funktionierte ausgezeichnet (auch für mich deutlich hörbar), weil der Streicherklang weit weniger üppig aufgezogen war als heute üblich: mit Darmsaiten (teilweise) und wenig Vibrato, schlank, filigran.
Besonders abgemüht habe sich Wagner mit dem Schlagwerk; mit den Glocken war er anscheinend nie ganz zufrieden. In Essen wurde, um den Klangvorstellungen des Komponisten entgegenzukommen, mit einer Kombination aus Plattenglocken, tief gestimmten Java-Gongs und hoch gestimmten Thai-Gongs gearbeitet - und mit einer manuellen, kurbelgesteuerten Donnermaschine, einem Nachbau eines in Bayreuth damals eingesetzten Instruments. Das Ergebnis beeindruckte mich sehr: Im 1. und 3. Akt ergab das mächtige Klänge - und den Schluß des 2. Akts mit dem Zusammenstürzen der Zauberburg habe ich musikalisch noch nie so gewaltig erlebt!
Im Gesamtergebnis war das Wagner-Orchester leiser als heute, auch das erleichterte es den Sängern sehr - und bewies eindrücklich, daß man bei Wagner nicht schreien muß! Auch das Vorurteil, daß Wagners Musik "bombastisch" klinge, wurde, immerhin was den Parsifal angeht, eindrücklich widerlegt. Im Gegenteil: Thomas Hengelbrock leitete, bei schnellen Tempi (vergleichbar der großen Einspielung mit Herbert Kegel, in Essen waren es: I: 1h29min, II: 1h00min, III: 1h03min), flexibel, geschmeidig, sehr organisch, mit viel Linie durch Ganze, mit fein ausgesponnenen Spannungsbögen.
Nochmals zum Klang: Erstaunlich fand ich, wie selbstverständlich sich die Balancen einstellten, da wirkte nichts künstlich oder gemacht, der typisch gedeckte Klang des Parsifal ergab sich gleichsam natürlich, es wirkte nie grob, schwer oder schleppend, sondern leicht, sinnlich, auch zart und duftig, Klangfarbe pur. Thomas Hengelbrock selbst (Quelle: "http://www.balthasar-neumann.com/847-0-Neuentde…mysteriums.html"): "Was im ‘Parsifal’ frappierend ist und mich immer wieder berührt, bis hin zur Bestürzung, ist dieser unbeschreibliche Zauber, wenn der Klang zur musikalischen Substanz wird." Dem Dirigenten geht es nicht um Entmystifizierung, sondern er glaubt, daß mit dem Instrumentarium des 19. Jahrhunderts "bestimmte Dinge sogar noch magischer werden können."
Ich denke, das zu zeigen ist ihm und allen Mitwirkenden in Essen hervorragend gelungen. Ich habe die Reise nicht bereut.