OFFENBACH: Les contes d'Hoffmann – Märchenhafte Episoden oder postmodernes Drama?
Liebe Capricciosi!
Offenbachs letztes und wohl ambitioniertestes Bühnenwerk, gleichzeitig eine der beliebtesten französischen Opern nach „Carmen“, hat eine der verwickeltsten Fassungs- und Aufführungsgeschichten überhaupt: Denn der Komponist starb 1880, bevor er eine autorisierte Fassung veröffentlichen konnte. Bei der Uraufführung 1881 wurde auf Betreiben Léon Carvalhos, des Intendanten der Opéra comique, der vierte Akt (der "Giulietta-Akt") gestrichen und die große Doppelrolle Muse/Nicklausse empfindlich gekürzt: die Muse und ihre Gesangsnummern entfielen ganz, bei Nicklausse wurden nur die Arien, nicht aber die Ensembles gestrichen. In der nachfolgenden Druckausgabe des Verlagshauses Choudens, die für das nächste Jahrhundert die verbindliche Aufführungsfassung sein sollte und sich leider (als liebgewonnener Fehler?!) nach wie vor noch viel zu oft auf den Bühnen findet, wurden statt der Dialoge von Ernest Guiraud, der schon die "Carmen" verhunzt hatte, Rezitative eingebaut und der Giulietta-Akt wieder eingefügt, allerdings nun als dritter Akt. Die Muse blieb gestrichen.
In den letzten Jahrzehnten hat die Offenbach-Forschung neue Erkenntnisse gewonnen, die ich im Folgenden vorstellen möchte. Erschwert wurde die Forschung durch die Tatsache, dass große Teile des Uraufführungsmaterials, Offenbachs Autograph, 1887 bei einem Brand der Opéra comique zerstört wurden. Erst durch die Entdeckung von umfangreichem handschriftlichen Material aus Offenbachs Nachlass 1976 konnten neue kritische Fassungen erstellt werden, zunächst von Fritz Oeser (der ja schon die Carmen rekonstruiert hat), dann nach dem Fund des Zensurlibrettos und eines Teils des Uraufführungsmaterials von Michael Kaye. Die neuesten Funde und Forschungen, darunter die letzten 144 Takte des Giulietta-Akt-Finales haben Einzug in die derzeit aktuelle Fassung Kaye-Keck gefunden.
Was sagen nun die neuen Editionen über die Oper aus? Ich erlaube mir im Folgenden eine kurze Zusammenfassung der Handlung nach der Edition Kaye-Keck:
Erster Akt: In Lutters Weinkeller. Die Muse Hoffmanns steigt aus einem Weinfass auf und verkündet, dass sich heute das Schicksal Hoffmanns entscheide: er muss zwischen ihr (also der Dichtkunst) und der Sängerin Stella (also der irdischen Liebe) wählen. („La verité, dit-on“) Um Hoffmann beschützen und ihm nahe sein zu können, verwandelt sie sich in seinen Freund Nicklausse. – Hoffmanns Rivale Lindorf fängt den Brief Stellas an Hoffmann ab, dass sie nach der Vorstellung zu ihm komme. (Couplets: „Dans les rôles d'amoureux langoureux“) – Einige Studenten, später Hoffmann und Nicklausse strömen in den Weinkeller, Hoffmann singt das Lied von Klein-Zack. Die Studenten, Nicklausse und Lindorf drängen ihn, zu trinken und die Geschichte seiner Liebe zu Stella zu erzählen. Hoffmann erklärt, er habe nicht eine Geliebte, sondern drei: Olympia, Antonia, Giulietta...
Zweiter Akt: Olympia. Bei einer Gesellschaft im Hause Spalanzanis will dieser zum ersten Male der Öffentlichkeit seine wohlgestalte Tochter Olympia vorführen. Hoffmann verliebt sich Hals über Kopf in sie und hört nicht auf Nicklausses Warnung, es handle sich dabei lediglich um eine Puppe. (Couplets: „Voyez-la sous son éventail“) Olympia zeigt ihre Kunststücke (Couplets: „Les oiseaux dans la charmille“) und Hoffmann gesteht ihr seine Liebe. Coppélius aber, der die Augen der Puppe hergestellt hat, wurde von Spalanzani um seinen Lohn betrogen und zerschlägt Olympia aus Wut. Hoffmann trifft der Spott der Anwesenden.
Dritter Akt: Antonia. Hoffmann liebt die schwerkranke Antonia, die von ihrer Mutter, einer Sängerin, die schöne Stimme und die mysteriöse Krankheit geerbt hat. Sie darf nicht singen, sondern muss sich streng schonen. Im Duett mit Hoffmann („C’est une chanson d’amour“) regt sie sich bereits zu sehr auf und bekommt einen Anfall – schon ist der bösartige Dr. Miracle ist zur Stelle, wird aber von Antonias Vater des Hauses verwiesen. Er macht Miracle für den Tod seiner Frau verantwortlich – offensichtlich nicht zu Unrecht, denn sobald Antonia allein ist, taucht Miracle durch die Wand wieder auf, beschwört die verstorbene Mutter und animiert Antonia gemeinsam mit dem Trugbild der Mutter zum Singen aus vollem Hals – bis sie stirbt.
Vierter Akt: Giulietta. Der Akt beginnt mit der berühmten Barcarolle, gesungen von Nicklausse und der Kurtisane Giulietta und endet mit einem Blutbad: Giulietta betört Hoffmann , damit ihr Zuhälter Dapertutto ihm sein Spiegelbild rauben kann; Hoffmann ermordet in Rage zuerst den Rivalen Schlémil, dann Giuliettas wahren Liebhaber, den verkrüppelten Zwerg Pitichinaccio, und schließlich Giulietta selbst. Nicklausse verhilft ihm zur Flucht.
Fünfter Akt: In Lutters Weinstube. Hoffmann ist sternhagelvoll. Nicklausse erklärt dem Publikum die Geschichte: Die drei Geliebten Olympia, Antonia und Giulietta sind drei Facetten von Stella: junges Mädchen („Püppchen“), Sängerin und Kurtisane. Als Stella kommt, beleidigt der volltrunkene Hoffmann sie – sie geht mit Lindorf davon. Nicklausse verwandelt sich zurück in die Muse und triumphiert: Nun gehört Hoffmann ihr allein.
Der Schwerpunkt der Oper liegt nun auf der Rahmenhandlung: Es geht um die Dreiecksgeschichte Muse-Hoffmann-Stella, die in den drei Mittelakten näher beleuchtet wird – eigentlich eine postmoderne Konzeption, die ich grandios und aufregend finde! Genau darin könnte man andererseits auch ein bisschen Misstrauen gegen diese neue Fassung begründen: ist Offenbach wirklich so (post)modern oder interpretieren wir das nur hinein? Was nämlich sein Wille wirklich war, können wir heute wohl nicht mehr feststellen.
Es gibt aber aus meiner Sicht zwei eindeutige Argumente für die Kaye-Keck-Fassung: 1. Die Geschlossenheit der Handlung, die zum ersten Mal sinnvoll ist. In der herkömmlichen Fassung hat man eine Art „Trittico“ mit einer sehr zusammengekürzten, eigentlich unnötigen Rahmenhandlung. 2. Es gibt viel mehr schöne Musik von Offenbach als in der herkömmlichen Fassung: dort sind nämlich die drei Arien der Muse/Nicklausse ersatzlos gestrichen, desgleichen die verführerische und wunderschöne Arie der Giulietta „L'amour dit lui: la belle! Vos yeux étaient fermés!“ (die nach einem Koloratursopran verlangt und die Besetzung der Giulietta mit einem Mezzo obsolet macht!) und alle Gesangsstellen der Stella. Der Giulietta-Akt ist, da er zunächst ganz gestrichen war, in der herkömmlichen Fassung unzureichend rekonstruiert worden, nicht aus Böswilligkeit, sondern weil ein großer Teil des Materials verschollen war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder aufgetaucht ist. Auch hier ist die Kaye-Keck-Fassung ein großer Gewinn.
Leider gibt es bis dato keine Aufnahme der Kaye-Keck-Fassung, sieht man vom Livemitschnitt der szenisch äußerst missglückten „Uraufführung“ ab. Von der früheren Kaye-Fassung, die bis auf den Giulietta-Akt ident mit der aktuellen ist, gibt es zwei Aufnahmen, die eine, m. E. vorzuziehende, in der Dialogversion unter Jeffrey Tate, die andere mit nachkomponierten Rezitativen unter Kent Nagano. Einen gravierenden Fehler haben sie aber beide: Aus der Gleichung Olympia + Antonia + Giulietta = Stella, die Nicklausse im 5. Akt aufstellt, ergibt sich zweifelsfrei, dass diese Vierfachrolle mit einer Sängerin besetzt werden sollte, analog zur Besetzung der vier „Bösewichte“ Lindorf/Coppélius/Dr. Miracle/Dapertutto. Beide Aufnahmen teilen die Rolle aber auf vier Sängerinnen auf. Dabei wären Sopranistinnen wie Natalie Dessay oder Patricia Petibon sicherlich in der Lage (gewesen), die gesamte Rolle, die ja stets nach einem lyrischen Sopran mit Koloratur verlangt, zu meistern!
Wie seht ihr diese Oper? Welche Fassung zieht ihr vor? Welche Aufnahmen (bitte nach Fassungen differenziert!) haltet ihr für empfehlenswert?
Liebe Grüße,
Areios