HÄNDEL: Saul HWV 53

  • Georg Friedrich Händel: Saul HWV 53

    Daniel Okulitch - Saul
    Aryeh Nussbaum Cohen - David
    Sherezade Panthaki - Michal
    Yulia Van Doren - Merab
    Aaron Sheehan - Jonathan
    Jonathan Smucker - Witch of Endor, Abner, Amalekite
    Christian Pursell - Samuel, Doeg

    Philharmonia Baroque Orchestra & Chorale
    Nicholas McGegan

    Hat mich nicht so recht fasziniert. Solistisch fast durchweg nicht wirklich „up to scratch“ - insbesondere im Vergleich zu den Aufnahmen von Gardiner und Harry Christophers. Chor und Orchester wirken auf mich gestalterisch professionell routiniert, aber nur selten wirklich fesselnd. Insgesamt habe ich an vielen Stellen den Eindruck eines nicht unerheblichen Mangels an Leidenschaft, an Saft und Kraft gehabt.
    McGegan steht nicht selten einigermaßen solide auf der Bremse, was mich angesichts der vielen ganz anderen seiner Händel-Interpretation doch einigermaßen überrascht hat. Und ob die Kürzungen wirklich nötig waren?

    :wink: Agravain

  • Dieser Tage erfolgte meine Erstbegegnung mit Händels "Saul" - und damit die Wiederentdeckung dieses Threads, die gleich verbunden ist mit einem späten herzlichen Dank an Agravain für die Werkeinführung und bisherigen Aufnahmebesprechungen.

    Mein Eindruck:

    Was für ein hochdramatischer Inhalt um rasend machende Eifersucht, und doch ist dies ein Oratorium – und, hört man es Ende 2023, ist es politisch beklemmend aktuell…

    Höre ich „Saul“ Ende 2023, schaudere ich, spielt die Saul-Geschichte doch auch in einer nicht hinterfragten Kriegswelt. Am Ende verkündet der Hohepriester gar (hier die deutsche Übersetzung)): „Der Gott der Schlacht ist Davids Freund, und Sieg in seinem Schwert vereint.“ Das Volk bejubelt keinen Friedensbringer, sondern einen Heeresführer.

    Dabei ist ansonsten alles für mich „Genie Händel“ – zielstrebig entwickelt Händel seine Kompositionsweise weiter und überträgt dabei Opernelemente ins Oratorium. Die Chöre sind hier deutlich aufgewertet, prachtvolle polyphone Chorsätze beeindrucken. Rezitative und Arien (diese auch kürzer geworden) gehen bruchloser ineinander über. So werden die bis zu 165 Minuten der drei Akte dieses Werks (bei ungekürzter Aufführung) einmal mehr nie langatmig. Instrumentatorisch setzt Händel in „Saul“ unter anderem Posaunen, eine Kesselpauke und das Glockenspiel „Tubalcain“ ein. Und was für empfindsame Charaktermusik Händel den Mitwirkenden wieder in die Kehlen schreibt!



    Die Göttinger Liveaufnahme von 2019 hat bei mir den Anfang gemacht.

    Musikalisch möchte ich fürs ganze Werk alle Chöre (die moralische Instanz des Werks) hervorheben, einer beeindruckender als der andere, beginnend gleich beim allerersten. Im 1. Akt stechen auch die fast 12 Minuten lange Symphony zu Beginn (mit der Orgel im dritten der vier Abschnitte, dem Allegro) heraus, Michals Arie (in der Göttinger Aufnahme CD 1/28), in der sie auf die Besänftigung Sauls durch David hofft, das Accompagnato des Hohepriesters mit dem Plädoyer für Weltharmonie statt Chaos (1/30), sowie Davids Arie (ähnlich „Ombra mai fu“) mit anschließender Harfen-Symphony (1/32/33), der es aber nicht gelingt, Saul zu beruhigen.

    Highlights im 2. Akt sind für mich Jonathans Arien, in denen sich dieser vor Saul für David einsetzt (2/8 und 10), das Liebesduett Michal-David mit Chor (2/15), die Symphony wieder mit Orgel (2/17), und Merabs nun auch ganz innige Besänftigungshoffnungsarie (2/23).

    Im 3. Akt ragen für mich musikalisch die Arie der Hexe heraus, die Samuel ruft (3/4), der Trauermarsch (3/9) und die Trauerarien (3/12 und 15).

    Extrem verstörend wirkt auf mich die Volksjubellogik, wer 10.000 erschlagen hat, ist der größere Held als der, der 1.000 erschlagen hat. Genauso verstörend wirkt auf mich im 3. Akt neben dem Kriegerjubelende, dass Saul von Samuel verurteilt wird, weil er im Krieg das räuberische Nomadenvolk der Amalekiter verschont hat statt es zu vernichten, und dass David eiskalt den Amalekiter töten lässt, der Saul im Todeskampf letztendlich erlöst hat. (Um „Böse“ ist es nach dieser Moral nicht schade.) Die vielen empfindsamen Arien, die Händel bis dahin vor allem Michal, der für mich positivsten Identifikationsfigur, im 2. Akt auch Merab in die Partitur komponiert hat (beide treten genauso wie Jonathan, der dann doch mit dem Vater gemeinsam in den Kriegstod gezogen ist, im 3. Akt der Göttinger Aufführung nicht mehr auf), auch Davids Trauerarien, die nur den Gefallenen aus dem eigenen Lager gelten, erscheinen mit diesem Nichthinterfragen des Krieges leider in ihrer Wirkmächtigkeit relativiert. Einzig der Hohepriester singt im 1. Akt von einer Harmonie der Welt – von der man am Ende aber nur mehr illusorisch träumen kann.

    Was musikalisch gleichwohl über die Jahrhunderte bewegend bleibt, vermittelt sich mit der im Rahmen der Göttinger Händel-Festspiele am 18.5.2019 entstandenen und bei Accent auf 3 CDs veröffentlichten Liveaufnahme aus der St. Blasius-Kirche in Hamm, Münden, für mich großartig. Laurence Cummings leitet das FestspielOrchester Göttingen und den wie ich finde famosen NDR Chor. Es singen (ich bin da nicht so heikel) Bariton Markus Brück (Saul), Tenor Benjamin Hulett (Jonathan), Countertenor Eric Jurenas (David), Sopranistin Mary Bevan (Michael), Sopranistin Sophie Bevan (Merab) und Tenor Raphael Höhn (Hohepriester/Hexe). Die Göttinger Aufnahme kommt meinem Höreindruck nach einmal mehr wunderbar erdig, die Empfindsamkeit vermittelt sich genauso wie das Prächtige im natürlichen Fluss der Musik großartig.

    Die von Agravain bereits vorgestellte Harnoncourt-Aufnahme aus dem Jahr 1985 ist möglicherweise um ca. 30 Minuten gekürzt, weil man sich bei der Teldec einen besseren Verkauf mit 2 CDs statt 3 CDs bzw. mit einer 3 LP-Box statt mit einer 4 LP-Box erhoffte. Besonders schmerzlich fehlen (mir) da gleich zu Beginn der Großteil der ersten Symphony und dann erst recht fast alles vom Hohepriester, speziell die einzige Arie, die vom Weltfrieden träumt. Abgesehen davon, fesselt mich Nikolaus Harnoncourts Händel-Dirigat – angespannt-spannend und in konzentrierter Strenge. Gegenüber dem Göttinger Livemitschnitt wirkt diese „Saul“-Aufnahme insgesamt aber auf mich statischer, oratorischer, konzertanter als beim operndramatischeren Cummings. Stimmlich bestechen für mich vor allem Elizabeth Gales zauberisch schön singende Michal (wie da gleich die erste Arie veredelt wird, in der sich Michal auf die Ankunft des an die Schwester vergebenen David freut!) und Paul Esswoods genauso stimmschön bewegender David. Positiv überrascht auch mich der souveräne Saul von Dietrich Fischer-Dieskau. War Julia Varadys Merab hingegen die Konzession, um Fischer-Dieskau für diese Aufnahme zu kriegen? Frau Varady singt matronenhaft ältlich und hebt sich mit ihrem Vibrato eher störend von den anderen ab. Tadellos gut aufgespannt singt der Wiener Staatsopernchor, und großartig, wie einfühlsam differenziert und genau mitatmend einmal mehr der Concentus Musicus Harnoncourts Musik als Klangrede folgt.

    In der Direktionszeit Claus Helmut Drese am Züricher Opernhaus hat der Intendant Händels „Saul“ im Kongresshaus szenisch vorgestellt – dirigiert von Nikolaus Harnoncourt, der sich später aber gegen szenische Aufführungen von Händels Oratorien ausgesprochen hat. Im Programmheft zu dieser Produktion, in der Simon Estes den Saul sang, macht Harnoncourt deutlich, dass das Werk mit einem Halleluja beginnt und mit Trauer endet. Der Trauermarsch steht interessanterweise in C-Dur. Und David wird zu einem neuen Saul.

    HR2-Kultur sendete am 3.4.2021 die Aufzeichnung einer Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium "Saul" vom 8.2.2019 aus dem Dvorák-Konzertsaal im Rudolfinum in Prag. Roman Válek dirigiert hier das 1998 gegründete Czech Ensemble Baroque mit Musikern und Choristen aus Tschechien, Polen, Deutschland und der Slowakei. Die Besetzung in Prag: David - Andreas Scholl, Countertenor, Saul - Adam Plachetka, Bassbariton, Merab - Natalia Rubiś, Sopran, Michal - Kristýna Vylíčilová, Sopran, Jonathan - Rupert Charlesworth, Tenor, Hohepriester - Tadeás Hoza, Bariton, Hexe von Endor - Jakub Kubín, Tenor, Ein Amalekiter - Lukáš Hacek, Tenor, Geist Samuels - Jiři Miroslav Procházka, Bariton und Doëg - Martin Vacula, Bass. Diese Aufzeichnung konnte auch, da aufgenommen, von mir nachgehört werden. Mein Eindruck hier: Beherzt geht es gleich los, da zeichnet sich die nächste frische, lebendige, schwungvolle, nun wieder deutlich operndramatischere „Saul“-Aufführung ab, und diesmal wieder vollständig, wie sofort die eröffnende Symphony zeigt. Auch die Stimme der Michael dieser Aufführung, Kristýna Vylíčilová, geht gleich ungemein zu Herzen. Andreas Scholls David stellt sich auch gleich als Weltklasse-Spitzenkraft mit reiner Gesangstongebung vor. Natalia Rubiś´ ob der Entscheidung des Vaters empörte Merab stellt sich hingegen (was gar nicht so schlecht passt) auch mit mehr Vibrato vor. Adam Plachetkas Saul ist bald grimmig, wie es ein Saul sein muss. Rupert Charlesworths Jonathan hat auch eine sehr schöne Tenorstimme. Und so nimmt die Neidgeschichte erneut ihren Lauf, in weiterer großartig engagierter Interpretation, mit all den Highlights, die man nun bereits kennt und umso lieber noch einmal hört – bis zum Schluss, der leider einen neuen Kriegsherrn bejubelt statt einen Friedensbringer.
           
    ORF 2 brachte am 21.5.2021 anlässlich der coronabedingt publikumslosen Wiederaufnahme einer Inszenierung von Claus Guth aus dem Jahr 2018 die einstündige Dokumentation „Saul in Szene gesetzt - Händels Oratorium im Theater an der Wien“. Die Besetzung hier: Regisseur Claus Guth, Dirigent Christopher Moulds (2018 Laurence Cummings), Freiburger Barockorchester, Arnold Schoenberg Chor, Saul, King of Israel Florian Boesch, Merab Anna Prohaska, Michal Giulia Semenzato, Jonathan Rupert Charlesworth (2018 Andrew Staples), David Jake Arditti, Ghost of Samuel Paul Lorenger, High Priest David Webb, Witch of Endor Rafal Tomkiewicz und Amalekite Andrew Morstein. Nun also doch die szenische, opernhafte Lösung, und für mich gleich eine enorm spannende, psychologisch vielschichtig aufgeschlüsselte! Steinboden, roter Tapetenraum und Kachelraum im Waschbereich, Kostüme heutig, dekadenter englischer Adel, und David torkelt als völlig überforderter normaler Mensch durch die Drehbühnenszenerien. Alle drei Geschwister lieben ihn, seine Arie im 2. Akt wird zur schwül-lüsternen Orgie. Florian Boeschs Saul ist ein Wahnsinniger wie aus einem Shakespeare-Drama. Die Hexe ist ein Dienstmädchen mit Drogentrank aus einem Horrorfilm. Am Schluss schenkt sie auch noch David ein. Saul stirbt im Selbstgespräch mit Samuel, zerrissen. Die Dokumentation lässt Mitwirkende ihre Sicht auf die Rollen erklären und bringt die wichtigsten Szenen aus der Aufführung.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

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