Legenden der Musikgeschichtsschreibung 1: Die Krise der tonalen Musik
Die Weisheiten der Wissenschaft sind nicht nur dazu da, fromm nachgebetet zu werden, sondern sie sollten doch immer mal wieder kritisch hinterfragt werden. So gibt es oftmals nachgekäute Standardeinschätzungen, bei denen sich in mir alles sträubt, wenn ich anfange, darüber nachzudenken - eigentlich habe ich nie an sie geglaubt.
Legende 1: Die erweiterte Tonalität (oder die Musik selbst) der fortschrittsorientierten Moderne geriet um 1910 in eine Krise.
Wenn ich Mahlers 9. Sinfonie anhöre, und das als Krise ansehen soll, dann ist die europäische Musik seit Ableben Mozarts unrettbar der Krise anheimgefallen. Nun, Mahler tut der Musikgeschichtsschreibung den Gefallen, gerade rechtzeitig gestorben zu sein, um vom atonalen Schönberg, der offenbar die Krise überwunden haben soll, abgelöst zu werden. Und andere Komponisten, die weder nach vorne noch nach hinten "aus der Krise ausbrechen", wie Schreker (Die Gezeichneten, 1911-15), Zemlinsky (Streichquartett Nr. 2, 1913-1915), Korngold (Die tote Stadt, 1920), Walton (Violakonzert, 1928-29), Barber (Adagio for Strings, 1938), sondern diesen Stil über einen langen Zeitraum weiterführen, werden einfach marginalisiert, scheiden offenbar aus dem aus, was "Musikgeschichte" ist. Das kann's doch nun nicht sein ...
Ich bitte um Widerspruch.