Brahms: Vier ernste Gesänge, op. 121

  • Brahms: Vier ernste Gesänge, op. 121


    1896, ein Jahr vor seinem Tod, komponierte und veröffentlichte Johannes Brahms seine letzte Sammlung von Liedern. Insgesamt 32 dieser Sammlungen sind unter Opuszahlen zusammengefaßt, die meisten als "Bouket" (Brahms) und nur zwei als eng zusammenhängender Zyklus, neben den Romanzen op. 33 (Die schöne Magelone) noch die Vier ernsten Gesänge.

    Es ist ein eigenartiges Werk, zwar harmonisch reich, aber auch mit einem achaisierenden Gesang, der sich vom Ton der vielen Lieder deutlich unterscheidet.

    Zur Musik nur ein paar karge Anmerkungen (es würde mich freuen, wenn andere das noch ergänzen würden): Der erste Gesang ("Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh", Andante, d-moll) ist durchgehend in düsterem Moll gehalten, mit zwei schmerzhaft auffahrenden Allegro-Phasen, womit es auch endet.

    Zurückhaltender der zweite Gesang ("Ich wandte mich und sahe an", Andante, g-moll), der sich erst ganz am Schluß etwas zu G-dur aufhellt.

    Der dritte Gesang ("O Tod, wie bitter bist du", Grave, e-moll) knüpft auch motivisch, mit dem fallenden Molldreiklang, an das Vorhergehende an, verstärkt zunächst die schmerzerfüllte Stimmung und wird zuversichtlicher (E-dur), sobald von der tröstlichen Seite des Todes die Rede ist.

    Einen deutlichen Kontrast setzt der letzte Gesang ("Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete", Con moto ed anima, Es-dur) und schließt, nach einem Andante-Zwischenteil, mit einer Lobpreisung der Liebe (Sostenuto un poco).

    Alle vier Gesänge scheinen in der thematischen Gestaltung genau aufeinander bezogen zu sein; auffällig ist auch die allmähliche, sich von Gesang zu Gesang verstärkende Aufhellung von Moll zu Dur.

    Zum Text: Brahms stellt hier vier Bibelzitate zusammen, die eine recht eigene religiöse Sichtweise offenbaren. Christliche Heilsgewißheit scheint weit entfernt, wird ernsthaft in Frage gestellt ("Wer weiss, ob der Geist des Menschen aufwärts fahre, und der Odem des Viehes unterwärts unter die Erde fahre?"); es bleibt lediglich die Einsicht, "dass nichts bessers ist, denn dass der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Theil", wobei die Musik an dieser Stelle in keiner Weise "fröhlich" klingt, eher sehnsuchtsvoll, mit etwas Hoffnung vielleicht. Trost ist nicht in Sicht ("und hatten keinen Tröster"), die Toten sind besser dran als die Lebenden, ein Pessimismus, der kaum noch zu steigern ist. Linderung verheißt nur die Anrufung "O Tod, wie wohl thust du dem Dürftigen". Erst die Liebe, "die grösseste" gegenüber Glaube und Hoffnung, bietet am Ende eine frohere Perspektive, aber auch dies wird in dieser Stelle aus dem Korintherbrief (übrigens meine Lieblingsstelle aus der Bibel, das nur nebenbei) überwiegend in der Negation beschrieben ("hätte der Liebe nicht"). Per aspera ad astra? Oder eher ein von Pessimismus durchtränktes ästehetisch-religiöses Testament, fernab der Erlösungsphantasien Richard Wagners, wie sie etwa im Parsifal aufscheinen?

    Brahms selbst hatte sein op. 121 als "ganz gottlose Lieder" bezeichnet, deren Texte aber "Gott sei Dank in der Bibel" stünden. Auch wenn der Komponist dazu neigte, sich nach außen gelegentlich atheistisch zu geben (vielleicht als Provokation gegen die in den 1890ern in Wien aufkommenden Christsozialen mit ihren klerikalen, antisemitischen Tendenzen, wodurch die Liberalen, denen Brahms zugerechnet wurde, ins Abseits gedrückt wurden) - diese Äußerung kann man wohl ernstnehmen, denn von der orthodoxen christlichen Lehre ist in den Vier ernsten Gesängen nicht viel übrig.

    Neben religiös-politischer Enttäuschung hatte Brahms auch persönliche Rückschläge zu verkraften, so den Tod langjähriger Freundinnen und Freunde, etwa Theodor Billroth und Elisabeth von Herzogenburg und, besonders schlimm, den Tod Clara Schumanns im Mai 1896, zu ebender Zeit, als er sein Opus 121 vollendete. In derselben Zeit machte sich auch die schwere Krankheit bemerkbar, an der der Komponist ein knappes Jahr später sterben sollte.

    Soweit fürs erste. Zu diskutieren wären weitere Aspekte des Werks und natürlich auch die vielen Einspielungen, die der Markt bereithält.

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    Quellen:
    Peter Jost: Lieder und Gesänge. In: Wolfgang Sandberger (Hrsg.): Brahms Handbuch. Stuttgart/Kassel 2009. S. 254f.
    Noten: N. Simrock Berlin, 1896 ("http://javanese.imslp.info/files/imglnks/…WV__S._485f.pdf")


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Seit vielen Jahren kenne ich die oft gerühmte Einspielung mit der leider so früh verstorbenen Kathleen Ferrier, am Klavier John Newmark:


    Decca, aufg. 1950

    Früher habe ich diese Stimme geliebt (vor allem in Mahlers Lied von der Erde mit Bruno Walter); lange habe ich sie nicht mehr gehört. Umso größer war neulich meine Enttäuschung beim Wiederhören, denn ich konnte mich nicht wieder damit anfreunden: zu viel Vibrato, gelegentliche Manierismen, insgesamt zu pathetisch. Ferrier-Fans mögen mir verzeihen, aber trotz mehrmaligen Hörens zuletzt: Das ist nicht "meine" Aufnahme; ich habe den Eindruck, die vier Gesänge werden geradezu in Öl ertränkt.

    Seit Neuestem habe ich eine Alternative, mit Michael Volle, Bariton, und Karl-Peter Kammerlander, Klavier, enthalten in dieser Gesamteinspielung:


    Brilliant, 13 CD, aufg. 2007

    Diese Darstellung sagt mir deutlich mehr zu: Volle deklamiert auf eine natürlich wirkende Weise, bewahrt die mir stimmig erscheinende Mitte zwischen kontrollierter Distanz und emotionaler Identifikation. Die unprätentiöse Art, wie das hier dargeboten wird, überzeugt mich.

    Weitere Aufnahmen kenne ich nicht (darum enthalte ich mich auch der Stimme, wenn es zu entscheiden gilt, ob das Werk besser von einer Frau oder von einem Mann gesungen werden sollte), doch lasse ich mir gern welche nahebringen - rechne auch mit Widerspruch, was meine Beurteilung von Ferrier/Newmark und Volle(Kammerlander angeht.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Die Vier Ernsten Gesänge gehören zu den Liedern, bei denen ich keine sonst so "beschränkte" Vorstellung davon habe, ob sie nun von einer Sängerin oder Sänger dargeboten werden.
    Das erste Mal gehört, habe ich sie von Kurt Moll und war seinerzeit von der von mir als belastender Schwere empfundenen Musik regelrecht beladen.
    Mein erste Aufnahme dieses Werkes war diese :

    Hotters Stimme entspricht der von mir empfundenen Stimmung des Anfangs äußerst gut.
    Auch die Version von Brigitte Fassbaender gefällt mir sehr gut, ganz anders als Hotter interpretiert, aber beides hat seinen Reiz.
    Fassbaender macht allrdings die von Gurnemanz schon erwähnte Aufhellung nachvollziehbarer und differenzierter, das fehlt mir bei Hotter ein wenig.

    Zu einigen Aspkten später...ich will lieber nochmal ins Werk reinhören, weil es schon eine Weile her ist seit dem letzten Mal.

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

  • Meine erste Aufnahme war auch die mit Hans Hotter mit Gerald Moore (in dieser empfehlenswerten Box wiederveröffentlicht: )


    Hans Hotter orgelt mit einer Propheten-Stimme.
    Die Gesänge kamen mir so düster vor, daß ich dachte, um aus diesem schwarzen Loch der Depression zu kommen, gibt's nur die Winterreise, denn alles andere erschiene als belanglos, künstlich, falsch, hohl, spöttisch.

    Ich habe Hans Hotter wiederaufgelegt: seine Stimmführung ist phantastisch, seine hohen piani sind fabelhaft, seine Tiefe abgründig ... wenn Parsifal so einen Gurnemanz hörte, würde er wie gebannt erstarren und alles andere vergessen, Sendung inklusive.

    Kehrseite der Medaille ist, daß die Diktion zu wünschen übrig läßt. Einem Propheten schaut man nicht auf die Worte, der Ton reicht. Man vernimmt hier und da Vieh, Odem, Tod ...und meint zu wissen, worum es geht.


    Michael Volle mit Karl-Peter Kammerlander, wie unser Gurnemanz schon merkte, deklamiert natürlicher. Er führt uns nicht so sehr ins tiefe Loch der Depression, sondern bietet uns einen Weg der Überlegung, eine dramatische Stilisierung, die nicht nur in schwarz, schwärzer, am schwärzesten gemalt wird.

    Weiter noch in dieser Richtung, Andreas Schmidt mit Helmut Deutsch:

    Andreas Schmidt war damals (1997) noch im vollen Besitz seiner Stimme. Noch heller timbriert als Michael Volle, er ist von den Extremen der Tessitura aber gar nicht überfordert. Er dramatisiert weniger, er ist eher der Vortragende und ist dementsprechend dem Zuhörer noch näher, faßbarer.
    Einige werden ihn als zu nüchtern empfinden, ich mag seine Darstellungsweise.

    Die drei Klavierspieler sind in voller Harmonie mit dem jeweiligen Interpretationsstil: symphonisch-orgelnd Gerald Moore, dramatisch-akzentuiert Karl-Peter Kammerlander, analytisch-präzis Helmut Deutsch.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Die Ferrier-Aufnahme besitze und schätze ich inzwischen auch, erstmals begegnet ist mir op. 121 jedoch im Konzertsaal, wunderbar gesungen von Christian Gerhaher. Es handelte sich um die Bearbeitung durch Detlef Glanert für Gesang und Orchester, wobei jedem Gesang ein Orchestervorspiel von Glanert vorangestellt ist. Sehr hörenswert und bislang nur höchst selten auf Tonträger eingespielt.


    Cheers,

    Lavine :wink:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • Diese CD hatte ich neulich bereits bestellt, doch JPC sah sich außerstande zu liefern:

    Johannes Brahms: Lieder (Cornelia Kallisch, Gabriel Dobner); MDG

    Kennt das jemand? Empfehlung? (Im Netz hatte ich positive Bewertungen gefunden.)

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • George London, Leo Taubmann

    auf dieser CD mit etwas sonderbarer Zusammenstellung:

    Agravain hat schon die zwei Stichpunkte geliefert: Wotan und Kindertotenlieder.

    George London ist wie Hans Hotter ein Baßbariton mit schwarzem Timbre. Den gleichen Eindruck von Majestät vermittelt er wie Hans Hotter.
    Seine Aussprache ist jedoch viel deutlicher. Und wenn er keine so fabelhaften hohen piani hat wie Hotter, so hat er mehr Farben zu bieten.
    Hier hört man nicht mehr den Propheten, der das Wort verkündet, sondern jemand, der alles erfahren hat. Seine Diktion ist nicht dramatisch - er ist sogar marginal langsamer als Hotter - aber nuanciert. Wohl ist die Höhe angestrengter, aber diese - relative - Anstrengung selber ist Teil der Aussage. Leid und das Hoffen auf Trost findet man hier, und das ist die Kindertotenlieder-Seite, aber auch Ruhe, Majestät, dies ist die Wotan-Seite.

    Eine sehr spezielle Wiedergabe ja, und Leo Taubmann hat auch seinen Teil daran.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Vielen Dank lieber Gurnemanz für den Thread und damit für den Impuls, diesen Zyklus durchzuhören und sich intensiver damit zu befassen.

    Meine persönlichen Eindrücke:

    Im ersten Lied hängt einer am Leben, er kann sich unter dem Tod nichts vorstellen. Das zweite Lied besingt, dass Tote das Leid hinter sich, während Ungeborene es noch vor sich haben. Für Reiche bedeutet der Tod ein bitteres Ende, für Arme ist er eine Erleichterung, das erzählt uns das dritte Lied. Bei den Liedern 2 und 3 nimmt sich die Stimmung etwa zur Hälfte des jeweiligen Liedes zurück, es wird inniger, vertiefter. Das letzte Lied bekennt sich zur Liebe als wesentlichstes Element des Lebens. Bisher eher archaisch, wird hier am emotionalsten gesungen.

    Dietrich Fischer-Dieskau nahm zusammen mit Wolfgang Sawallisch im August 1973 in der Salzburger Franziskanerkirche insgesamt 94 Brahms Lieder auf, darunter auch die Vier ernsten Gesänge op. 121 (6 CD Box EMI CMS 7 64820 2). Fischer-Dieskau deklamiert die Lieder sehr deutlich zwischen Anklage und Bekenntnis. Mich stört das „Gelehrte“ seiner Deklamation nicht. Ganz im Gegenteil glaube ich das tiefste Bemühen um möglichst adäquaten Ausdruck hier besonders stark herauszuhören, unter Einsatz allen Wissens und möglicher Empfindung. Wie Fischer-Dieskau in den Liedern 2 und 3 die Stimmung (kongenial abgestimmt mit dem stringent und klar sich anpassenden Sawallisch) zur Mitte zurücknimmt („Da lobte ich die Todten…“ bzw. „O Tod, wie wohl…“), das sind schon ganz starke Momente, da hält das Geschehen inne, da bin ich als Hörer „aber sowas von ganz drin“, da wird die Welt angehalten.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Am 15. Juni 1936 trafen sich der russische Ausnahmebassist Alexander Kipnis und der Pianist Gerald Moore in einem Aufnahmestudio in London, um gemeinsam Lieder von Brahms aufzunehmen, darunter die „Vier ernsten Gesänge“. Herausgekommen ist eine Aufnahme, die man getrost als „gewichtig“, als durch und durch „ernst“ bezeichnen kann.

    Kipnis gestaltet sehr durchdacht, artikuliert hervorragend, nur ganz selten erkennt man idiomatische Einfärbungen (z.B. hier und dort ein leicht gutturales „l“) oder phonetisch komplizierteren Wörtern („unterwärts“). Ab und zu ist ein „e“ oder ein „a“ ungewöhnlich breit. Aber was soll’s. Die Stimme ist – wie schon gesagt – so hünenhaft, die Schwärze, die sein tiefes Register hat, ist so beeindruckend, dass ich die ohnehin nicht wirklich gravierenden sprachlichen Schwächen schnell vergesse. Doch möge man mich nicht falsch verstehen: Kipnis überwältigt nicht ausschließlich als fleischgewordene Stimme des Alten Testaments. Er gestaltet mE durchweg sehr ausgesucht sehr gekonnt, sehr überlegt. Er hat eine hervorragende Höhe und auch in hoher Lage ein ganz wunderbar klingendes Pianissimo (wie wunderbar er damit umgehen kann, zeigt sich beispielsweise im 3. Lied nach dem Wechsel nach E-Dur „O Tod, wie wohl tust Du“ ff.). Da werde ich von diesem Gesang schon ergriffen. Das ein oder andere Portamento (z.B. zu Beginn des dritten Liedes „O Tod, o Tod“) stört mich darum auch nicht so sehr.

    Und doch erlebe ich insgesamt eine gewisse Distanz des Sängers gegenüber den Worten, gegenüber der Botschaft. Kipnis arbeitet mit seinem ungeheuren Organ, um zu verkündigen, er durchlebt all das Gesagte nicht und scheint mir nicht wirklich emotional involviert zu sein. Vielleicht mögen diesen Eindruck auch die sehr gemessenen, wenig fluktuierenden, fast "ehernen" Tempi begünstigen, die er und Moore wählen – der mE im Übrigen (what a surprise) hervorragend spielt.
    Insofern höre ich diese Aufnahme eher als Dokument für die Kunst des Alexander Kipnis. Wirklich erschüttern kann sie mich nicht.

    :wink: Agravain

  • Ein Jahr, bevor sich Kathleen Ferrier das erste Mal einen Knoten aus der Brust entfernen lassen musste, hat sie zusammen mit dem Pianisten John Newmark Johannes Brahms’ „Vier ernste Gesänge“ für die Schallplatte aufgenommen. Diese Aufnahme hat für viele Musikhörer einen speziellen Status, andere können wenig mit Kathleen Ferriers Art zu singen anfangen. Beides kann ich ohne sonderlich viele Schwierigkeiten nachvollziehen. Die Ferrier hatte eine besondere, aber (auch) für meinen Geschmack nicht zwingend schöne Stimme. Sie hatte deutliche Schwierigkeiten mit der Phonetik der deutschen Sprache und ich hielte mich selbst für ignorant, wollte ich das abstreiten. Da stimmen oft weder Anlaute noch Auslaute noch das Dazwischen. Vokale werden ausgeglichen, fluktuieren nicht selten in ihrer Tongebung, Konsonanten verwischen und werden am Ende oft unsauber abgesprochen. Das ist – zugegeben - die Downside.

    Auf der anderen Seite jedoch – und ich denke, dass das Besondere dieser Aufnahme ausmacht – haben ich kaum einen Interpreten gehört, der sich so mit dem, was hier tatsächlich gesungen wird, identifiziert wie die Ferrier. Da gibt es allerhand, das ich hörend erlebe: Prophetisches bei Kipnis, Düsternis bei London, Gelahrtes bei Fischer-Dieskau, Idiosynkratisches bei Quasthoff, zwingend Schlüssiges bei Gerhaher. An keiner Stelle jedoch höre ich das Maß an Identifikation wie hier. Da glüht jeder Ton und es strömt eine für mich kaum zu greifende Kombination aus Leidenschaft und Innigkeit durch diese Gesänge, eine Unbedingtheit die ich an anderer Stelle kaum zu hören bekomme.

    Der Ansatz der Ferrier ist mE ein ruhig-betrachtender. Mir klingt es so, als sänge hier jemand, der dem Tod bereits ins Auge geblickt hat und sich mit dem Unvermeidlichen bereits abgefunden hat. Da höre ich zwar auch als Folie immer eine gewisse Trauer, ein leises Hängen am Leben, nie höre ich jedoch Verzweiflung, nie Aufbegehren. Da wird beispielsweise der Beginn des dritten Liedes nicht voller Seelenschmerz herausgeschrieen, die Bitternis des Todes sticht nur kurz, sofort wird dynamisch zurückgegangen. Wo beispielsweise Kipnis das Sorgenvolle des Alters und die damit verbundene Hoffnungslosigkeit geradezu wie von Ekel geschüttelt herausspeit, da höre ich Anteilnahme und Mitgefühl mit jenen Alten, zu denen auch wir alle eines Tages werden. Konsequenterweise schließt der Zyklus auch nicht mit jener Emphase, die man in manch anderer Interpretation zu hören bekommt. Ab Tonart- und Taktwechsel („Wir sehen jetzt durch einen Spiegel“) entziehen sich Ferrier und Newmark mE dem oft zu hörenden großen Aufschwung zum Moment der Erkenntnis hin („dann aber wird ich’s erkennen gleich wie ich elber erkennet bin“). Stattdessen ergibt sich sondrn ein langsames, klares, sicheres Fließen, das schließlich ganz verklärt im Piano im Nichts verschwindet. Ein bisschen „Ewig, ewig“ hört man so auch hier.

    :wink: Agravain

  • George London, Leo Taubmann

    Wenn dieser Wotan singt, bleibt bei mir meist kein Auge trocken. Zu gerne höre ich George London in eben dieser Rolle und in vielen anderen. Insofern mag ich, was diese aus den Jahren 1962 & 1964 stammende Aufnahme der „Vier ernsten Gesänge“ betrifft, kein verlässlicher Berichterstatter sein. Philbert hat weiter oben ja schon allerhand zu dieser Aufnahme gesagt, dem ich voll und ganz zustimmen kann. Aber ein wenig persönlicher Senf muss noch sein.
    Im Gegensatz zu Kipnis, der ja eine ähnlich prophetenhafte Stimme hatte, macht es sich London nicht so leicht, der Stimme die Interpretation anzupassen. Stattdessen liefert er eine deutlich menschlichere Darstellung dieser Lieder. Wo Kipnis’ Interpretation wie auf Steintafeln geschrieben daher kommt, da klingt George London, wie er Mahlers „Kindertotenlieder“ unter Klemperer klingt: wie ein trauernder Titan.
    Seine Technik ist (hier) bei Weitem nicht so elegant wie diejenige Kipnis’. Bei ihm klingen diese ohnehin schon herben Lieder fast ungeschlacht, roh und unbehauen. Dabei wirkt das aber alles höchst ehrlich, das Unbehauene transportiert ein Gefühl von Wahrhaftigkeit, das mich deutlich mehr berührt, als die ein oder andere buchstabengetreuere, technisch geschliffenere, ja intellektuellere Interpretation. London singt diese Lieder aus dem Bauch heraus, voller Düsternis, Verzweiflung, Apokalyptik und Hoffnung. Das spricht mich nicht nur an, es lässt mich vergessen, dass sein Deutsch streckenweise nicht wirklich gut klingt, dass seine Höhe insgesamt nicht so recht sitzt, dass er hier und da rhythmisch nicht so wirklich exakt ist.
    Was aber soll mich derlei ärgern, wenn ich erlebe, dass mich das Schaudern überfällt, wenn er sich nach „Wer weiß, ob der Geist des Menschen aufwärts fahre…“ vor Erschütterung kaum wieder zurücknehmen kann, weil er in den Abgrund der Frage „Was ist denn, wenn da nichts ist?“ geschaut zu haben scheint? Das ist am Ende doch die Kunst. Allein aufgrund dessen ein von meiner Warte aus empfehlenswertes Dokument.

    :wink: Agravain



  • Dietrich Fischer-Dieskau, Wolfgang Sawallisch

    Über die Aufnahme Fischer-Dieskaus mit Wolfgang Sawallisch am Klavier hat AlexanderK weiter oben einige Zeilen geschrieben. Ich habe sie in einer anderen Ausgabe und muss sagen: leider. Während ich immer wieder lese, wie gelungen doch die frühe Aufnahme mit Jörg Demus sein soll, so wünschte ich mir, diese stünde in meinen kleinen CD-Schrank. Denn der mir vorliegenden Einspielung kann ich wahrlich nicht viel abgewinnen, wobei ich mich nicht dazu versteigen möchte zu behaupten man können das nicht so hören. Ich kann und könnte es wohl auch nicht nicht, auch wenn mir die Fischer-Dieskau Fan-Gemeinde androhen würde, mich mit Knoblauch im Mund und einem Pfahl im Herz in ungeweihtem Boden zu verscharren.

    Es ist ja nicht so, dass mir Fischer-Dieskau generell nicht schmeckt. Vieles aus seinen jungen Jahren finde ich schlicht herrlich. In dieser Aufnahme der „Vier ernsten Gesänge“ höre ich davon allerdings nicht mehr allzu viel. Was ich dafür im Übermaß höre, ist ein dauerndes Zuviel. Das Werk verschwindet in meinen Ohren fast völlig hinter dem Interpreten, dessen Darstellung in meinen Ohren nichts Natürliches mehr hat. Da ist wirklich alles durchdacht, es erklingt eine auf mich bar jeder Spontaneität wirkende Exekution dieser Lieder, die ich bereits nach dem Hören der ersten Takte am liebsten abgedreht hätte. Sicher, da scheint alles mehr als richtig zu sein: die rechte Nuance an der rechten Stelle, der passende Akzent an jedem Ort, die rechte Farbe zu jeder Textzeile. Aber kann das alles sein? Kann es nur darum gehen, eine lehrbuchartige Interpretation eines Zyklus zu liefern, der die letzten Dinge im Auge hat? Echte Beteiligung höre ich hier höchst selten und empfinde diese Deutung allein deswegen als verfehlt.

    Hinzu kommt, dass mir Fischer-Dieskau hier auch rein stimmlich nicht (mehr?) gefällt. Grundsätzlich finde ich für mich problematisch, dass die Stimme, sobald sie in hoher Lage ein Forte bringen soll, ausgesprochen hart klingt und Fischer-Dieskau mE für jedes Forte deutlich zuviel Kraft braucht. Hinzu kommt neben allerhand Artikulatorischem, das mich stört („Nda lobte ich die Toten“; „Wenn an dich gedenketein Mensch“ usw.), der Umstand, dass sich Fischer-Dieskau bisweilen recht larmoyant gibt. Da schrammt manches Portamento für meinen Geschmack nur sehr knapp am Kitsch vorbei und das dickliche, ja bald schmalzige Aufsetzen auf labiodental gebildeten Konsonanten (z.B. bei „Ich wandte mich…“) vermiest mir diese Aufnahme endgültig. Vielleicht sollte ich doch die frühe Demus-Einspielung anschaffen.

    :wink: Agravain

  • Dietrich Fischer-Dieskau, Daniel Barenboim

    Mit dieser Aufnahme mache ich Agravains Erfahrung rückwärts sozusagen. Das, war er über die DFD/Sawallisch Aufnahme der Vier ernsten Gesänge bemängelt, habe ich oft genug in der Fischer-Dieskau/Moore Schubert-Lieder Sammlung, die wenig vorher entstand. Überzeichnung, schulmeisterhafter Vortrag der Gedichte, "lehrbuchartige Interpretation", wie Agravain treffend formuliert.


    In dieser späteren Aufnahme der Vier ernsten Gesänge ist dies alles wie weggewischt. Diese Aufnahme könnte man am ehesten mit Andreas Schmidts vergleichen: kein Gesang ex cathedra, keine Dramatisierung, ein sensibler Vortrag. Die Aussprache ist sehr klar (das, was man hier bemängeln könnte, wäre ein stimmhaftes s in "es ist", "alles ist", gesungen wie "esist", "allesist"), die Akzentuierung sinnvoll und nicht übertrieben, die einzelnen Bäume (Wörter) verdecken den Wald (Sätze, Strophen) nicht, wie oft in der Schubert-Sammlung. Die "Liebe" im vierten Lied, die er in den 70er Jahren süßlich-stark hervorheben hätte, wird hier wieder zu was sie im Text des heiligen Pauls ist: ein, wenn auch starker und gefühlsgefärbter, theologischer Begriff.

    Die Stimme ist wieder in Ordnung, nur die höhere Lage zollt den Alter ihr Tribut, sie wirkt gelegentlich detimbriert, wie bei einem nicht ganz gemeisterten Passaggio. Dies aber reicht nicht, um den Gesamteindruck wesentlich zu trüben.

    Anders Barenboims Begleitung, die ziemlich unbeteiligt vorkommt. Im ersten Lied wirken seine Solo-Einsätze wie Toccata-Elemente, schön, delikat, aber ohne Bezug zum Lied.
    Ich habe diese Aufnahmen lange nicht mehr gehört aber ich hatte diese ganze Box positiv in Erinnerung (auch die Beteiligung Jessye Normans gefiel mir sehr, viel besser als ihre Philips-Brahms-CD). Diese Erinnerung wurde von dieser Wiederbegegnung nicht dementiert.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • erstmals begegnet ist mir op. 121 jedoch im Konzertsaal, wunderbar gesungen von Christian Gerhaher. Es handelte sich um die Bearbeitung durch Detlef Glanert für Gesang und Orchester, wobei jedem Gesang ein Orchestervorspiel von Glanert vorangestellt ist. Sehr hörenswert und bislang nur höchst selten auf Tonträger eingespielt.

    Wenn ich nichts übersehen habe, gibt es (nur) drei Einspielungen des wirklich sehr lohnenden Detlev Glanert-Werks "Vier Präludien und Ernste Gesänge" aus dem Jahr 2005. Neben der von Dir genannten noch diese beiden hier:
     

    Gibt es Meinungen dazu, welche von diesen dreien die beste ist?

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Ich habe mir inzwischen die oben rechts abgebildete Hänssler-Doppel-CD mit der Capella Weilburgensis unter der Leitung von Doris Hagel angeschafft. Zu meiner Überraschung werden auf diesem Album zwar die Vier Ernsten Gesänge in der Orchesterfassung von Detlev Glanert dargeboten, nicht aber die Vier Präludien von Detlev Glanert. Das gesamte Detlev Glanert-Werk "Vier Präludien und Ernste Gesänge" aus dem Jahr 2005 gibt es somit nur in zwei (nicht drei) Einspielungen.

    Abgesehen hiervon werden die Vier Ernsten Gesänge aber von Klaus Mertens wundervoll gesungen, sodass ich die Anschaffung nicht bereue.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Beim Hören dieser Aufnahme dachte ich, ich sollte hier auf sie hinweisen, so gut gefällt sie mir. Goerne muss man nicht vorstellen, Eschenbach ebensowenig. Liederfahrung noch und noch, die man hört. Für erwähnenswert halte ich, dass Goerne es versteht, den Ernst und auch den Schmerz zu transportieren, aber dennoch stets mit einer weichen, warmen, im positiven Sinne einschmeichelnden Stimme singt. Ich höre ihm einfach gern zu.

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