Ligeti, György: Glissandi (1957) und Artikulation (1958)

  • Ligeti, György: Glissandi (1957) und Artikulation (1958)

    Glissandi (1957)

    Nach Ende des Volksaufstandes in Ungarn floh György Ligeti im Spätjahr 1956 mit seiner späteren Frau Erna Spitz nach Wien und nahm später die österreichische Staatsbürgerschaft an. In den Jahren 1957-58 arbeitete er im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln.

    Die zeitgenössische Musik hatte sich längst in der seriellen Falle gefangen. Erinnern wir uns: So wie der Wunsch der Menschen nach Freiheit und Gleichheit, der sich etwa in den Revolutionen von 1789, 1848 und 1905/17 manifestierte, vorerst zu den Diktaturen des 20. Jahrhunderts führte, so führte auch die Aufhebung tonaler Bindungen wie Grundton, Tonika, Dominante nach einer kurzen Phase der Atonalität über die Zwölftonmusik in die Diktatur der seriellen Musik, die alle musikalischen Parameter dem Gesetz der Reihe unterwarf.

    Ligeti war einer derjenigen, die ihre Kritik an der seriellen Technik griffig in Worte fassen konnte. Er wies daraufhin, dass Musik mit serieller Struktur aus der Nähe zwar völlig geordnet sei, aber mit immer größer werdendem Abstand mehr und mehr als etwas Zufälliges erscheine: „[Dies ist] dem An- und Ausblitzen des Neonlichtnetzes einer Großstadt vergleichbar; die einzelnen Leuchtkörper werden zwar von einem Apparat genau gesteuert, die separat aufflammenden und verlöschenden Lichter aber bündeln sich zu einem statistischen Komplex. In größerer Entfernung verschwimmen diese Lichtkomplexe zu einer noch höheren Einheit, die wieder auf eigene Weise sinnvoll wird – so auch die Struktur dieser Musik beim mehrmaligen Anhören: Dann dringt unsere Wahrnehmung übers anfängliche Registrieren des Zufälligen hinaus, immer weiter vor bis zum Auffinden der größeren Zusammenhänge und Proportionen.“

    Ligeti fasst hier seine Interpretation und seine Kritik an der seriellen Musik gleichzeitig in einem einzigen Bild zusammen.

    Im Kölner Studio angekommen, galt sein Bemühen also nicht der quasi-seriellen Organisation des elektronischen Materials und erst recht erlag er nicht der Versuchung, die neuen Möglichkeiten möglichst effektvoll vorzuführen, wie ein Organist seine neue Orgel vorführt.

    Sein erstes Werk jener Zeit ist „Glissandi“, komponiert 1957. Wenn ich es richtig überblicke, ist es das erste Stück Ligetis nach seinem 1. Streichquartett „Métamorphoses nocturnes“ aus den Jahren 1953/54. Ligeti beschränkt sich materialseitig auf Sinustöne, Sinustonkomplexe und gefiltertes Rauschen.

    Hans-Christian von Dadelsen schreibt zu diesem Werk: „Glissandi gibt vielleicht das erste Beispiel, wie sich in einem scheinbar so kalten, technischen Medium menschliche Sprachgestik artikuliert. Die Technik ist hier nur ein Vorhang, hinter dem gleichsam eine vielstimmige Vokalmusik erklingt. […]“

    Ich muss zugeben, dass ich von Dadelsens Worte nicht nachvollziehen kann. Man muss allerdings wissen, dass von Dadelsen (unter anderem) Kompositionsschüler von Ligeti war. Was von Dadelsen schreibt, passt m. E. allerdings eher zur zweiten elektronischen Komposition Ligetis, der „Artikulation“.

    Sei es, wie es sei. Das Stück beginnt mit mehrstimmigen Glissandi, als ob Motoren anlaufen und mehrere Mobile (Autos, Flugzeuge?) starten. Andere kommen entgegen, bremsen, beschleunigen wieder. Die Intensität erhöht sich. Zunehmendes Hintergrundrauschen - Beschleunigung. Schließlich – bei 00:39 – ein neues Ereignis: Zwei Töne, die parallel zueinander schnell aufsteigen. Generalpause. Noch zwei aufsteigender Töne, selber Ambitus, andere Farbe. Noch ein Tonpaar, viel tiefer. Schnell fallende Töne, mehrere auf- und absteigende Glissandi, überlagernd. Hintergrundgeräusche, stark zunehmend, bei 01:24 ins pianissimo einbrechend.

    Ab 01:50 ein imaginäres Duett zweier Stimmen. Später unterbrochen durch Geräusche, die an „Flug“ erinnern. Ab 02:39 tieffrequente Glissandi in der Ferne, geräuschhaft. Schüsse in der Ferne? Geräusche kommen näher. 03:38: Das kann nur Schlachtlärm sein: Sirenen, Luftkampf, Flieger, Flak, vielleicht Laserkanonen. Es verschwindet in der Ferne, taucht sporadisch als Klangfetzen wieder auf.

    Ab 04:41 nochmal angedeutet eine Stimme aus dem imaginären Duett, weitere Fluggeräusche, hinweghuschend. Ab 05:30 wieder das imaginäre Duett. Bei 06:00 wieder pianissimo. Geräusche aus der Ferne, teilweise näher kommend. Ab 06:58 wieder die mehrstimmigen Glissandi vom Anfang des Stücks, zumeist abbremsend.

    Meines Wissens ist „Glissandi“ nur auf zwei CDs zu hören. Die Einspielung auf der linken CD wurde von György Ligeti selbst realisiert, die rechte scheint eine Neueinspielung zu sein. Wobei mich interessiert, ob das Equipment der 1950er Jahre noch verfügbar ist. Das wäre auch so etwas wie „historische Instrumente“ … Eventuell wurde aber auch nur das alte Band neu abgemischt.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Artikulation (1958)

    „Artikulation“ ist das zweite und bekanntere Stück unter den elektronischen Kompositionen Ligetis. Zur Einordnung in dessen Vita und zum ersten Stück „Glissandi“ siehe oben.

    Manche der neuen Klangformen im Studio für elektronische Musik in Köln erinnerten den Komponisten an Sprache oder zumindest so etwas Ähnliches. Er entschloss sich, ein imaginäres Gespräch zu komponieren – Reden eines Einzelnen, Dialoge, mehrstimmige Wortgefechte. An die Stelle der Semantik eines Gesprächs tritt die Klangfarbe. Man hört hohe und tiefe, laute und leise Stimmen, Besonnenes wie Affektreiches.

    Über diese fast programm-musikalische Idee hinaus hat er einen rein musikalischen Ansatz. Hören wir Ligeti selbst: „Zuerst wurden Typen mit verschiedenen Gruppenmerkmalen und verschiedener innerer Organisation gewählt: quasi körnige, brüchige, fasrige, schleimige, klebrige und kompakte Materialien. Dann wurde untersucht, welche Typen einer Verschmelzung fähig waren und welche sich abstießen. Die serielle Anordnung dieser Verhaltensweisen diente als Grundlage für den Aufbau der Form, wobei im Detail Kontrast der Typen und der Art ihrer Verquickung erstrebt wurde, in der Gesamtheit jedoch ein graduelles, irreversibles Fortschreiten von anfangs heterogenen Dispositionen zu einem Vermischen und Ineinanderaufgehen der gegensätzlichen Charaktere.“

    Ich finde interessant, dass Ligeti hier teilweise ähnliche Vokabeln zur Charakterisierung seines Material verwendet, wie im 2. Streichquartett von 1968: dort bezeichnet er seine „klingenden Gewebe“ als „zerfasert“, „fast flüssig“, „körnig“, „maschinell“.

    Ich habe zwei Aufnahme des Werkes. Die Aufnahme der linken CD ist im Kölner Studio für elektronische Musik unter dem Komponisten mit Unterstützung von Gottfried Michael Koenig und Cornelius Cardew entstanden, die rechte ist ein Remix des originalen Bandmaterials. Das Werk ist im Original quadrophonisch, und die beiden Einspielungen unterschieden sich signifikant in der Zuordnung der vier ursprünglichen Kanäle auf zwei. In der Wergo-Einspielung erklingen die „Tropfsteinhöhlenklänge“ zu Beginn des Stückes aus dem rechten Lautsprecher, in der Teldec/Warner-Einspielung aus dem linken. Vielleicht wurden aber auch nur die Kanäle irrtümlicherweise vertauscht. - Die Teldec/Warner-Version fand ich klangtechnisch besser.

    Das Cover der Wergo-CD zeigt einen Ausschnitt aus der beim Schott-Verlag erhältlichen Hörpartitur des Werkes, welche in Plakatgröße erhältlich ist (aus der Erinnerung ca. 120cm x 90cm). Ich hatte diese mal vor gut zwanzig Jahren, aber leider bei irgendeinem Umzug „verloren“. Man kann mit dieser Hörpartitur das Stück tatsächlich lesend nachvollziehen.

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  • witzig, vor allen Dingen, wenn man die "Noten" mitliest:

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    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
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  • witzig, vor allen Dingen, wenn man die "Noten" mitliest:

    Lieber Ingo,

    was genau findest Du an Ligetis "Artikulation" witzig? Was bringt Dich zum Lachen?

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Hier gibt es eine ziemlich instruktive Einführung. Das Stück stammt von 1958, kurz nachdem Ligeti Ungarn verlassen hatte. Die Partitur aus dem YouTube-Video wurde 1970 von dem Graphikdesigner Rainer Wehinger erstellt und von Ligeti autorisiert, aber wohl eher als Hörpartitur denn zur Ermöglichung anderer Umsetzungen.

    Ich hatte gerade das mir bislang unbekannte Stück zunächst als Aufnahme aus der Ligeti-Projekt-Box gehört, dann noch einmal mit der graphischen Begleitung via YouTube. Letztlich graphische Parallelkunst, die mMn durchaus bereichernd wirkt. Bemerkenswerte experimentelle Musik jedenfalls. Ob das oft "aufgeführt" wird?

  • Sehr interessant. Danke für den Thread. Danke auch für den Link zur in der Tat sehr informativen Einführung. Erste Gedanken:

    Altes Thema: Ist das noch Musik?

    Spontan nahm ich an, die zu sehenden Noten stammten von Ligeti. Stimmt nicht, siehe den vorherigen Beitrag.

    Der Klang und die Musik selbst klingt sehr alt. Witzig, dass "moderne" elektronische Musik aus den 50ern des letzten Jahrhunderts schneller altert als z. B. Barockmusik.

    Schön ist das nicht.

    Wäre interessant, das mit modernem Equipment neu einzuspielen.

    Witzig ist das Stück auch nach Ligeti bzw. es enthält Humor, siehe die Einführung.

    Klingt ein wenig nach C3PO unterhält sich mit R2D2.

    Artikulation: Sprache von Maschinen ohne Worte.

    Ingenieurs-Kram ohne Sinn für den Sinn von Musik.

    Quadrophenia.

  • genau so sehe ich es auch - er durfte ja nicht Mathe studieren ... Grins1

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  • was mich zum Lachen bringt ? Lustige Klänge, die auch sehr lustig und knuddelig in der Notation ausschauen.

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    Einmal editiert, zuletzt von Ingo Richter (2. Juni 2023 um 13:09) aus folgendem Grund: Korrektur wording: susschauen zu ausschauen korrigiert

  • Ob das oft "aufgeführt" wird?

    Elektronische Musik wird auch aufgeführt.

    Ein Spezialist dafür ist Thomas Gorbach:

    Das Wiener Akusmonium – The Acousmatic Project

    Ein Konzertsaal, der die elektronische Musik prominent im Programm hat, ist der "Echoraum" in Wien.

    echoraum

    Im Wiener Konzerthaus erklang Ligetis Artikulation letztes Mal diesen Jänner:

    Klangforum Wien / Press / Schwarz
    Wiener Konzerthaus - Friday, 13. January 2023, 18:00, Mozart-Saal
    konzerthaus.at

    übrigens mit einem Video von Max Gehmacher, zu dem im Netz dasselbe rauskommt, was oben Rainer Wehinger zugeschrieben wurde.

    :/

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Im Gegensatz zu seinen seriellen Avantgarde-Kollegen hat Ligeti (der da nie richtig dazugehörte) ja immer eine publikumswirksamere Musik geschrieben, und so unterscheidet sich auch Artikulation deutlich von den übrigen Produktionen des wdr-Studios:

    Various - Cologne - WDR: Early Electronic Music
    Auf Discogs können Sie sich ansehen, wer an 2005 CDvon Cologne - WDR: Early Electronic Music mitgewirkt hat, Rezensionen und Titellisten lesen und auf dem…
    www.discogs.com

    Der "Altmeister" Eimert beschäftigt sich mit Weltraum- und Glockenassoziationen, Ligetis Generation in der Regel mit abstrakten Themen, lediglich Hambraeus mit dem Timbre von Doppelrohrblattinstrumenten.

    Ligeti hingegen versucht, die Maschine "sprechen" zu lassen.

    In der wdr-Köln Kompilation der 50er-Jahre fehlt Stockhausen, der Hauptmeister. Von den Vorhandenen sind im Bereich elektronischer Musik Koenig und Pousseur wichtig geblieben, die meisten haben der elektronischen Musik schnell den Rücken gekehrt.

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  • Es ist einfach eine unterhaltsame kleine Klanglandschaft, die mir jedenfalls eben ein Lächeln auf die Lippen zaubert und somit Freude bereitet.

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  • Danke für den Thread, Ingo. Sehr interessant! :thumbup: Wirklich erstaunlich experimentell Musik (für 1958).

    "Welche Büste soll ich aufs Klavier stellen: Beethoven oder Mozart?" "Beethoven, der war taub!" (Igor Fjodorowitsch Strawinsky)



  • Grundsätzlich gibt es zum Werk schon einen Thread, der auch einige Hintergründe zur Entstehung aufzeigt und das Schwesterwerk "Glissandi" gleich mit berücksichtigt.

    Ligeti, György: Glissandi (1957) und Artikulation (1958)

    So schön, wie ich es finde, dass man sich mit der Musik dieser Epoche beschäftigt, so sehr fände ich es sinnvoll, wenn man sich die kleine Mühe machte, dies vorher zu prüfen. bevor die Mods nachher die Threadlandschaft wieder zurechtbasteln müssen.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Grundsätzlich gibt es zum Werk schon einen Thread, der auch einige Hintergründe zur Entstehung aufzeigt

    Mist, da hätte ich auch auf die Suche im Forum gehen können, bevor ich auf Wikipedia verlinke :versteck1:

    Wäre natürlich sinnvoll, die Beiträge hier in Deinen Thread zu verschieben. Immerhin ist das Inhaltsverzeichnis noch nicht angepasst!

  • So schön, wie ich es finde, dass man sich mit der Musik dieser Epoche beschäftigt, so sehr fände ich es sinnvoll, wenn man sich die kleine Mühe machte, dies vorher zu prüfen.

    Ein Tip: Wenn man in der Adreßzeile oben "ligeti site:capriccio-kulturforum.de" eingibt, listet Google alle möglichen Ligeti-Threads in Capriccio auf.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ein Tip: Wenn man in der Adreßzeile oben "ligeti site:capriccio-kulturforum.de" eingibt, listet Google alle möglichen Ligeti-Threads in Capriccio auf.

    Vielen Dank! Und wenn man dies verfeinert zu "allintitle:ligeti site:capriccio-kulturforum.de", dann spuckt die Suchmaschine aller Suchmaschinen sogar nur diejenigen Threads aus, bei denen Ligeto im Titel steht (und nicht nur irgendwo im Text vorkommt). :wink:

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  • Ja. Ich bestelle in der Pizzeria auch immer einen Chianto. (" ... wenn ich mehrere wollte, hätte ich das gesagt!!") Grins1

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