Richard Wagner: Der fliegende Holländer - "vom Teufel verflucht", "menschliche Hybris"? Werkbesprechung

  • Ich finde Den Fliegenden Holländer äußerst spannend wegen der Frage, ob es um Erlösung, um Liebe oder um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse geht -- und die Frage, ob und wie die Erlösung funtkioneren kann, habe ich mir oft gestellt.

    Im Duett mit Senta sagt der Holländer:
    Die düstre Glut, die ich hier fühle brennen
    sollt ich Unseliger sie Liebe nennen?
    Achnein, die Sehnsucht ist es nach dem Heil:
    würd es durch solchen Engel mir zuteil.

    Parallel dazu erklärt Senta:

    Die Schmerzen, die in meinem Busen brennen,
    ach,dies Verlangen, wie soll ich es nennen?
    Wonach mit Sehnsucht es dich treibt, das Heil
    würd es, du Ärmster, dir durch mich zuteil.

    Sentas Bedürfnis ist, dass sie es sei, durch die der Holländer erlöst werde.

    Es geht weiter:

    Holländer:
    Wirst du des Vaters Wahl nicht schelten?
    Was er versprach, wie - dürft es gelten?

    ...

    Senta:
    Wer du auch seist, und welches das Verderben,
    dem grausam dich dein Schicksal konnte weihn,
    was auch das Los , das ich mir sollt erwerben,
    gehorsam werd ich stets dem Vater sein.

    Holländer:
    So unbedingt, wie? Könnte dich durchdringen
    für meine Leiden tiefstes Mitgefühl?

    Er sieht hier nicht die Möglichkeit der Erlösung druch Treue aus Liebe, sondern aus Mitgefühl.

    Nachdem Senta ihm glaubhaft ihren Willen und Fähigkeit zur Treue versichert hat, sagt eer Holländer:

    ... Hört es, mein Heil hab ich gefunden.
    ... Stärkt jetzt dies Herz in seiner Treu.

    Senta fragt sich daraufhin:
    ... Was ists, das mächtig in mir lebt?
    Was schließt berauscht mein Busen ein?
    Allmächtiger, was so hoch mich erhebet,
    lass es dir Kraft der Treue sein!

    Ich frage mich, was es ist, das Senta da fühlt. Ist es die Kraft der Treue durch Mitleid? Oder ist es eine Art Triumphgefühl, Euphorie, Selbstbestätigung, weil der Holländer in ihr seine Rettung sieht? Hat Senta ein Helfersyndrom? Wenn sie sagt: Oh welche Leiden! Könnt ich Trost dir bringen! -- ist das Mitleid, oder das Bedürfnis nach Selbstbestätigung?
    Mir scheint, sie suggeriert dem Holländer, sich allein aus Gehorsam ihrem Vater gegenüber aufzuopfern. Sie verschweigt, dass sie die Geschichte des Holländers kennt und längst den Wunsch geformt hat, ihm Erlösung zu bringen. Daraus schließe ich, dass das Bedürfnis nach Selbstbestätigung durchaus eine Rolle spielt und ihr auch bewusst ist. Zumal sie ja auch davor schon Erik gegenüber nicht ganz wahrheitsgemäß gegenüber ist, sondern auf sein Bitten hin, bei Daland für ihn ein gutes Wort einzulegen, weicht sie zunächst aus und gibt ihm zweideutige Antworten (Zweifelst du an meinem Herzen? Ich bin ein weiß nciht , was ich singe.). Erik gegenüber gibt sie hier schon vor, Teilnahme für das Schicksal des Holländers zu empfinden, sie spricht ihm gegenüber nicht offen aus, dass sie den Holländer erlösen möchte. Man kam sagen, Senta ist konfrontationsscheu. Erik appelliert an Sentas Mitgefühl (Mein Leiden, Senta, rührt es dich nciht mehr?) -- doch angesichts des viel größeren Leids des Holländers lässt Senta das kalt, sie wirft Erik vor, mit seinem Leiden zu prahlen (oh, prahle nicht! was kann dein Leiden sein?). Das heißt für mich, dass Senta nicht nur das Mitgefühl in Person ist, sondern dass auch hier zum Ausdruck kommt, dass ihre Selbstbestätigung umso größer ist, je größer das Leiden, von dem sie erlösen kann (viel Feind, viel Ehr?), dass es daher das große Leiden des Holländers ist, das seine Elösung für sie so sttraktiv macht.

    Im dritten Akt kommt es zum Gespräch zwischen Senta und Erik, der ihr vorwirft, sie habe ihm die Treue gebrochen. Auch hier frage ich mich, wie es um Sentas Ehrlichkeit bestellt ist.
    Sie sagt zu Erik:
    Ich darf dich nicht sehen,
    nicht an dich denken - hohe Pflicht gebeuts.

    Möchte sie damit suggerieren, sie wolle Erik sehr wohl sehen und an ihn denken, aber die Pflicht, der Gehorsam dem Vater gegenüber, der von Erik soeben angesprochen wurde, erlaube es nicht? Liegt ihr tatsächlich an Erik, aber höhere Pflicht, die Erlösung des Holländers, lässt es nicht zur? Ist es bewusst doppeldeutig formuliert?

    Erik hakt nacht:
    Welch hohe Pflicht? Ists höh're nicht zu halten,
    was du mir einst gelobest, ewige Treue?

    Hat Senta Erik die Treue gelobt oder nicht? Wohl nicht mit Worten:
    Erik:
    Als sich dein Arm um meinen Nacken schlang,
    gestandest du mir Liebe nicht aufs Neu?
    Was bei der Hände Druck mich hehr durchdrang,
    sag, wars nicht Versicherung deiner Treu?

    War Senta sich dessen bewußt, dass Erik sich ihrer Treue sicher war? Hat sie ihm durch ihr Verhalten ein Treueversprechen suggeriert, hat sich aber wohlweislich bedeckt gehalten, da sie ja eigentlich von der Rettung des Holländers besessen war? Hat sie mit Erik nur gespielt? Oder hat sich Erik das Treueversprechen eingeredet und mehr in die Situation hineininterpretiert, als da war -- war es Sriks Wunschdenken? Für Sentas Umgebung schienen Senta und Erik ein Paar zu sein.

    Der Holländer, der das Gespräch belauscht hat, schlussfolgert, dass Senta Erik die Treue gebrochen habe und dementsprechend nciht zur ewigen Treue gegenüber ihm fähig sein könne.
    Bevor es zur Eheschließung, der Treueversicheurng vor dem Ewigen kommt, bricht der Holländer die Sache ab, um Senta vor dem Fehler zu bewahren, vor dem Ewigen ein Versprechen zu geben, das sie seiner Meinung nach nicht halten könne.
    Nun erst gibt Senta zu, den Holländer und seine Geschichte zu kennen, um ihm zu signalisieren, dass sie sich des ganzen Ausmaßes bewußt sei.

    Nach der Logik des Holländers hätte Senta vor dem Ewigen die Treue schwören müssen (Eheschließung), und hätte ihm dann bis in den Tod die Teue halten müssen, um ihn zu erlösen und selbst der Verdammnis zu entgehen. Ebenso ist in den Augen des Holländers Senta zu dieser Treue nicht fähig, auch die Ehe wurde noch nicht geschlossen. So kann die Erlösung also nicht funktionieren.

    Ich denke, es kommt darauf an, wie man den Charakter Sentas interpretiert -- ist ihr Selbstmord ein übersteigerter Akt der Selbstdarstellung, Helfersyndrom bis zur Selbstzerstörung (keine Erlösung, der Holländer irrt weiter)? Oder ist es schließlich doch ihre Anteilnahme, ihr Mitleid und ihr Tod als Selbstaufopferung, durch welche der Holländer erlöst wird?

    Ich kenne Wagners Schriften nicht sonderlich gut und weiß nicht, ob und inwieweit der Gedanke der Erlösung durch Mitleid bereits im Zusammenhang mit dem Holländer dort Erwähnung findet.


    (Ich bitte Tippfehler und unglücklche Formatierung zu entschuldigen, da ich den Beitrag auf dem Tablet verfasst habe).

  • dass Senta Erik die Treue gebrochen habe

    ja

    Zitat

    und dementsprechend nicht zur ewigen Treue gegenüber ihm fähig sein könne.

    m.E. muß man diese weitgehende Annahme nicht machen, die eine starke Abwertung der Senta durch den Holländer bedeuten würde.
    Es genügt anzunehmen, daß der Holländer sich der Treue Sentas nicht zu 100-100-100 Prozent sicher sein kann (aufgrund ihrer Untreue Erik gegenüber). Das allein bewegt ihn zum Verzicht auf Senta, die er nicht in die geringste Gefahr ewiger Verdammnis bringen will. Mit diesem Verzicht ist er dann "auf Augenhöhe" mit Senta. Wäre er sich sicher, daß Senta auch ihm eines Tages die Treue brechen würde, wäre der Verzicht in keiner Weise Verzicht, sondern konsequenter Abbruch des Versuchs (wenn auch des letzten).

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Der Holländer ist kein Fatzke, der sich gebauchpinselt fühlt, daß eine Senta ihren Freund seinetwegen verläßt. Er hält sich nicht für etwas Besseres, dem das natürlich nie passieren wird. Allein die Erkenntnis, daß Senta einmal untreu sein konnte, sagt ihm, daß er Senta nicht in die noch so geringe Gefahr einer Untreue ihm gegenüber bringen darf.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ja, ich stimme dir zu, er kann sich der Treue Sentas nicht sicher sein. Er hat die Erfahrung ja schon oft gemacht, dass ihm Treue geschworen und nicht gehalten wurde.

    Ich weiß nicht, ob es tatsächlich eine Abwertung Sentas durch den Holländer bedeutet, wenn dieser annimmt, sie könne die Treue nicht halten? Eher auf eigenen Erfahrungen beruhender Pessimismus oder Skepsis? Resignation? Enttäuschung?

  • Zunächst mal vielen lieben Dank für eure Rückmeldungen! :wink: Puh, da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll.

    Ich werde mich daher erst mal kurz fassen ...

    Zunächst liebt der Holländer Senta nicht. Aber dann erkennt er, daß er Senta liebt, und wird fähig, um ihretwillen auf sie zu verzichten. Und daran erkennt Senta wiederum, daß der Holländer sie liebt. So werden beide erlöst.


    Das könnte man so sehen, ja. :jaja1: Ich würde dennoch gern offen lassen, ob es sich hier tatsächlich um "Liebe" handelt oder nicht doch um Mitleid/ Altruismus. Womöglich wird ihm zum ersten Mal bewusst, was es bedeutet, wenn eine Frau sich ihm komplett aufopfert. Hinzu kommt, dass er ja resigniert hat, als er an ihrer künftigen Treue zweifelte. Vielleicht handelt er aber tatsächlich aus Liebe ... hm. Gibt es hierzu womöglich konkrete Äußerungen seitens Wagner? Weiß das jemand?

    Widmerpool:
    :thumbup: Sehr schönes und ausführliches Posting zum Thema. :wink: Ich würde lediglich noch hinzufügen, dass Sentas Beweggründe, dem Holländer zu folgen, auch damit zu tun haben können, dass sie einfach nur flüchten bzw. aus den Verhältnissen, in denen sie lebt, ausbrechen möchte. Ich sehe von ihrer Seite aus zudem sehr viel Mitleid dem Holländer gegenüber, aber das siehst du ja ähnlich.

    Zusammenfassend bin ich noch immer der Meinung, dass nicht zwangsläufig Liebe im Spiel war. Ich lasse mich aber gern eines Besseren belehren.

    "Welche Büste soll ich aufs Klavier stellen: Beethoven oder Mozart?" "Beethoven, der war taub!" (Igor Fjodorowitsch Strawinsky)



  • Ja, ich stimme dir zu, er kann sich der Treue Sentas nicht sicher sein. Er hat die Erfahrung ja schon oft gemacht, dass ihm Treue geschworen und nicht gehalten wurde.

    Ich weiß nicht, ob es tatsächlich eine Abwertung Sentas durch den Holländer bedeutet, wenn dieser annimmt, sie könne die Treue nicht halten? Eher auf eigenen Erfahrungen beruhender Pessimismus oder Skepsis? Resignation? Enttäuschung?

    wie gesagt, ich würde das eigentlich anders formulieren. Der Holländer "nimmt nicht an, Senta könne die Treue nicht halten". Er sagt nicht "ach, die ist wie alle andern". Er kann sich nur nicht absolut sicher sein. Das erkennt er an der Untreue gegenüber Erik. Auch wenn er sich zu 99,9999 % der Treue Sentas sicher wäre, die 0,0001 % Möglichkeit der Untreue bewegt ihn zum Verzicht, weil er Senta auch nicht dieser geringen Gefahr (die ja aber zugleich eine unendliche Gefahr ist) aussetzen kann und will. Das ist keine Psychologie u.dgl., sondern pure Logik. Daß er aber diese Logik durchführt, zeigt, daß er Senta liebt. (Ich denke, er merkt selber daran, daß er Senta liebt). Wenn es ihm in diesem Stadium noch um sich selbst ginge, könnte er es ja versuchen, ob nicht Senta doch treu bleibt, mehr als schiefgehen kann es nicht, er hat nichts zu verlieren. Aber Senta.

    Das alles versteht Senta ganz genau, und sie erkennt, daß sie geliebt wird. Und folgerichtig will sie den Holländer deshalb zunächst zurückhalten, dann ihm nacheilen, und es gibt ihr schließlich die Entschiedenheit und die Kraft, sich ins Meer zu stürzen.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Entschuldige, dass ich jetzt erst dazu komme zu antworten.

    Ich stimme dir zu, dass ein Funke des Zweifels ausreicht, dass der Holländer Senta dem Risiko der Verdammung nicht aussetzen möchte.
    Aber dass er sie liebt? Diese Auffassung teile ich nicht -- m.E. hätte er jede andere an Sentas Stelle in diesem Augenblick bewahren wollen, was, und bin ich wieder bei dir, ein selbstloser Akt ist.
    Auch bei Senta sehe ich keine Liebe, sondern Mitgefühl und das Bedürfnis, Erlöserin zu sein. Ich sehe Senta als die "Verrückteste" der Frauengestalten bei Wagner.

    Ich war noch nicht auf den Gedanken gekommen, ob der selbstlose Akt des Holländers in irgendeinem Zusammenhang mit seiner Erlösung stehen könnte (oder ob er halt ein netter Kerl ist) -- wenn ich dich richtig verstehe, ist das die Voraussetzung. Das ist interessant, da muss ich drüber nachdenken.

  • Zunächst mal vielen lieben Dank für eure Rückmeldungen! :wink: Puh, da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll.

    Ich werde mich daher erst mal kurz fassen ...

    Das könnte man so sehen, ja. :jaja1: Ich würde dennoch gern offen lassen, ob es sich hier tatsächlich um "Liebe" handelt oder nicht doch um Mitleid/ Altruismus. Womöglich wird ihm zum ersten Mal bewusst, was es bedeutet, wenn eine Frau sich ihm komplett aufopfert. Hinzu kommt, dass er ja resigniert hat, als er an ihrer künftigen Treue zweifelte. Vielleicht handelt er aber tatsächlich aus Liebe ... hm. Gibt es hierzu womöglich konkrete Äußerungen seitens Wagner? Weiß das jemand?

    Widmerpool:
    :thumbup: Sehr schönes und ausführliches Posting zum Thema. :wink: Ich würde lediglich noch hinzufügen, dass Sentas Beweggründe, dem Holländer zu folgen, auch damit zu tun haben können, dass sie einfach nur flüchten bzw. aus den Verhältnissen, in denen sie lebt, ausbrechen möchte. Ich sehe von ihrer Seite aus zudem sehr viel Mitleid dem Holländer gegenüber, aber das siehst du ja ähnlich.

    Zusammenfassend bin ich noch immer der Meinung, dass nicht zwangsläufig Liebe im Spiel war. Ich lasse mich aber gern eines Besseren belehren.


    Huch, Newbie, dein Posting hatte ich übersehen (bin am Handy zugange).

    Dass bei Senta das Ausbrechen aus ihren Verhältnissen mithineinspielen könnte, sehe ich auch so. Man könnte nun nach Freud in Sentas Kindheit forschen, worin ihr Helfersyndrom begründet liegt. Und da spielt sicher die Beziehung zu ihrem Vater eine Rolle, für dessen materialistisches Weltbild sie ein Mittel zum Zweck ist, sich zu bereichern. Aus Rebellion sucht sie sich den Jäger aus, und sucht Selbstbestätigung im übersteigerten Altruismus.

    Ich habe spaßeshalber den Wiki-Artikel zum Helfersyndrom gelesen, und die Beschreibung, "schwaches Selbstwertgefühl, Erstreben eines Ideals, das bei den Eltern vermisst wurde", trifft doch ganz gut aus Senta zu. ;)

  • Widmerpool:

    Ja, das klingt sehr plausibel. :thumbup: Daaland, der unsensible Grobian, hat sicher seinen Beitrag dazu geleistet, dass seine Tochter nur noch flüchten möchte und den Holländer idealisiert ...

    "Welche Büste soll ich aufs Klavier stellen: Beethoven oder Mozart?" "Beethoven, der war taub!" (Igor Fjodorowitsch Strawinsky)



  • dass seine Tochter [...] den Holländer idealisiert ...

    tut sie das eigentlich? Der Holländer ist doch genau das, wovon sie träumt, oder?

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Daaland, der unsensible Grobian

    So etwas verwirrt mich immer. Kann es wirklich sein, dass Opernfreunde keine Musik hören? Oder kann es sein, dass sie sie zwar hören, ihr aber nichts entnehmen? Oder ist es möglich, dass jemand hört, was Daland singt, und ihn für einen Grobian hört? Anders gefragt: Ost es ernstlich möglich zu überhören, wie zärtlich er seine Tochter liebt?


    Aber dass er sie liebt? Diese Auffassung teile ich nicht

    Ich denke, hier ist keine Auffassung nötig. Man muss das Stück nur lesen. Schließlich äußert er sich zu diesem Punkt ja selbst sehr klar und unmissverständlich. Da bleibt nicht viel Raum für Spekulationen.

    Übrigens lohnt es, immer wieder mal nachzuschauen, was im Stück – das aus Text und Musik besteht – steht. Dass er liebt, ist keine Bedingung der Erlösung. Er muss eine Frau finden, die ihm bis in den Tod treu ist. Mehr steht nicht drin. Bisher ist das immer schiefgegangen, aber Senta ist nun dieses Frau, was er allerdings nicht begreift.

    Ob er sich im Laufe des Tages noch in Senta verliebt, kann man aus dem Stück nicht entnehmen. Da kann man zwar viel freischwebend spekulieren, aber man hat nichts davon, weil es sich nicht belegen lässt. Anscheinend ist das egal (sonst wäre es deutlich abzulesen). Um Sentas Verdammnis nicht zu wollen, muss er sie nicht lieben. Ebenso wenig lässt sich daraus, dass er ihre Verdammnis verhindern will, schließen, dass er sie liebt, denn sonst müsste man annehmen, dass er sie von Anfang an liebt, denn schon im Duett äußert er, dass er das nicht will. (Was übrigens wohl damit zusammenhängt, dass er das nicht mehr ertragen kann, nachdem er für die ewige Verdammnis so vieler verantwortlich ist. Es ist nämlich tatsächlich möglich, wenn auch heute nur noch schwer vorstellbar, dass man sich für andere verantwortlich fühlt, ohne unmittelbar einen Nutzen daraus zu ziehen.)


    tut sie das eigentlich? Der Holländer ist doch genau das, wovon sie träumt, oder?

    Wäre er das, würde er ihr nicht misstrauen, und das Stück würde anders ausgehen.

  • Mal ganz allgemein: Dass Eltern ihre Kinder zärtlich lieben und ihnen dennoch (vielleicht unbewusst) seelisch Schreckliches antun, muss kein Widerspruch sein.

    So ist es, liebe Amaryllis.


    Argonaut:

    ...

    Holländer
    Hast du eine Tochter?
    Daland
    Fürwahr, ein treues Kind.
    Holländer
    Sie sei mein Weib!
    Daland
    Wie? Hör ich recht? Mein Tochter sein Weib?
    Er selbst spricht aus den Gedanken . . .
    Fast fürcht' ich, wenn unentschlossen ich bleib',
    er mueßt im Vorsatze wanken.
    Wueßt ich, ob ich wach' oder träume?
    Kann ein Eidam (= Schwiegersohn) willkommener sein?
    Ein Tor, wenn das Glück ich versäume!
    Voll Entzücken schlage ich ein.

    ...


    [Daaland zu Senta]
    Mögst du, mein Kind,
    dem Manne freundlich dich erweisen!
    Von deinem Herzen auch
    spricht holde Gab' er an;
    Reich' ihm die Hand, denn Bräutigam
    sollst du ihn heißen:
    stimmst du der Vater bei,
    ist morgen er dein Mann.
    Sieh dieses Band, sieh diese Spangen!
    Was er besitzt, macht dies gering.
    Muß, teures Kind, dich's nicht verlangen?

    ...

    Wie "sensibel" von Daaland ... ;) Ist mir völlig entgangen ... Tssssk! Er lernt jemanden kennen, der reich ist/ Schätze hat und gleich am Folgetag soll seine Tochter ihn ehelichen. Sie kennen sich also nicht/ kaum und sollen bereits heiraten. Schaut so die "Liebe" eines fürsorglichen, sensiblen Vaters aus? Wohl kaum. Dass er seine Tochter "zärtlich" liebt, sehe ich hier ganz und gar nicht. Ich empfinde ihn eher als manipulativ und dominant. Aber das ist natürlich ... Ansichtssache.

    "Welche Büste soll ich aufs Klavier stellen: Beethoven oder Mozart?" "Beethoven, der war taub!" (Igor Fjodorowitsch Strawinsky)



  • Wäre er das, würde er ihr nicht misstrauen, und das Stück würde anders ausgehen.

    ok, ich hätte Newbie69 besser gleich fragen sollen, worin sie die Idealisierung sieht.

    Das "Mißtrauen" des Holländers würde ich allerdings als keinerlei Manko ansehen. Es hat ja nicht das geringste zu tun mit dem Mißtrauen des Eifersüchtigen, der fürchtet, sein Ego könnte angekratzt werden, sondern ist einzig und allein der Sorge um Senta geschuldet.

    Zitat

    Ich denke, hier ist keine Auffassung nötig. Man muss das Stück nur lesen. Schließlich äußert er sich zu diesem Punkt ja selbst sehr klar und unmissverständlich. Da bleibt nicht viel Raum für Spekulationen.
    Übrigens lohnt es, immer wieder mal nachzuschauen, was im Stück – das aus Text und Musik besteht – steht. Dass er liebt, ist keine Bedingung der Erlösung. Er muss eine Frau finden, die ihm bis in den Tod treu ist. Mehr steht nicht drin. Bisher ist das immer schiefgegangen

    ... es läge immerhin recht nahe anzunehmen, es sei bisher deshalb schiefgegangen, weil die Liebe fehlte ... was nicht verwundern würde, wenn er's die früheren Male auch so angegangen ist wie jetzt - mit einer Kiste Geld beim Erziehungsberechtigten vorpreschen.

    Zitat

    aber Senta ist nun dieses Frau, was er allerdings nicht begreift.

    Ob er sich im Laufe des Tages noch in Senta verliebt, kann man aus dem Stück nicht entnehmen. Da kann man zwar viel freischwebend spekulieren, aber man hat nichts davon, weil es sich nicht belegen lässt. Anscheinend ist das egal (sonst wäre es deutlich abzulesen). Um Sentas Verdammnis nicht zu wollen, muss er sie nicht lieben. Ebenso wenig lässt sich daraus, dass er ihre Verdammnis verhindern will, schließen, dass er sie liebt, denn sonst müsste man annehmen, dass er sie von Anfang an liebt, denn schon im Duett äußert er, dass er das nicht will. (Was übrigens wohl damit zusammenhängt, dass er das nicht mehr ertragen kann, nachdem er für die ewige Verdammnis so vieler verantwortlich ist. Es ist nämlich tatsächlich möglich, wenn auch heute nur noch schwer vorstellbar, dass man sich für andere verantwortlich fühlt, ohne unmittelbar einen Nutzen daraus zu ziehen.)


    mal hintangestellt, wann die Liebe entstehen würde - in zwei Visionen werden uns Senta und der Holländer als Liebespaar vorgestellt, in Eriks Traum und in der Verklärung am Ende. Täuschen diese Visionen?

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Eriks Traum drückt seine Ängste aus und beruht auf Eifersucht.

    Die Verklärung am Ende -- da kommt es m.E. drauf an, ob man den musikalischen Erlösungsschluss miteinbezieht. So schön ich ihn finde, ziehe ich die Fassungen ohne vor, weil es für mich schlüssiger ist, wenn das Stück mit dem Holländermotiv endet, so wie es auch beginnt: der Holländer irrt weiter, die Erlösung ist in Frage gestellt.
    Der Erlösungsschluss ist für mich ein afterthought.

  • Aber dass er sie liebt? Diese Auffassung teile ich nicht -- m.E. hätte er jede andere an Sentas Stelle in diesem Augenblick bewahren wollen

    nachdem er bei zahllosen Vorgängerinnen diese nicht bewahrt hat? Argonauts Annahme eines kumulativen schlechte Gewissens:

    (Was übrigens wohl damit zusammenhängt, dass er das nicht mehr ertragen kann, nachdem er für die ewige Verdammnis so vieler verantwortlich ist

    leuchtet mir auch nicht ein, dann würde ich ein wenig mehr Ausdruck dieses schlechten Gewissens erwarten als die karge Zeile:

    Zahllose Opfer fielen diesem Spruch durch mich!

    Dutzende (oder so) läßt er in die Hölle fahren, aber bei seiner letzten Chance - ists genug, ohne daß es einen Anlaß in der Person der Senta hätte?

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Senta hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Versprechen vor dem Ewigen abgelegt -- bei ihren Vorgängerin ist dem Holländer Zweifel an deren Treue erst nach dem Eheversprechen gekommen bzw. haben sie sich untreu erwiesen. Da war es zu spät.

    Und ist Senta wirklich seine letzte Chance? Oder macht er sich hier nur besonders große Hoffnungen, weil Daland Sentas Treue betont (Hast du eine Tochter? -- Fürwahr, ein treues Kind.) und der Holländer von Sentas treuer Ergebenheit ihrem Vater gegenüber auf ihre Treue als Ehefrau schließt (Wohl, Fremdling, hab ich eine schöne Tochter, mit treuer Kindeslieb ergeben mir... - Dem Vater stets bewahr' sie ihre Liebe! ihm treu, wird sie auch treu dem Gatten sein.) bzw. darauf hofft, dass Senta ihrem Vater zuliebe als Ehefrau treu sei?

  • Wie ist das eigentlich mit diesem Gelöbnis vor "dem Ewigen" gemeint? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass das die kirchliche Eheschließung meint, also das Gelöbnis vor Gott. Möglicherweise ist "der Ewige" doppeldeutig und bezieht sich (auch?) auf Satan, der für die Verdammnis zuständig ist?

  • Wie ist das eigentlich mit diesem Gelöbnis vor "dem Ewigen" gemeint? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass das die kirchliche Eheschließung meint, also das Gelöbnis vor Gott. Möglicherweise ist "der Ewige" doppeldeutig und bezieht sich (auch?) auf Satan, der für die Verdammnis zuständig ist?

    da es sich ja offensichtlich um einen besonderen Akt handeln muß und die beiden sicherlich nicht vorhatten, eine Teufelsmesse zu feiern, würde ich von ersterer Annahmne ausgehen.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Und ist Senta wirklich seine letzte Chance?

    wenn ich recht sehe, sagt der Holländer das dreimal:

    Verloren! Ach! verloren!
    Ewig verlor'nes Heil!


    In See! - In See für ew'ge Zeiten!

    Leb' wohl! Fahr' hin, mein Heil, in Ewigkeit!

    das klingt nicht so, als würde er nach sieben Jahren einen weiteren Versuch starten (wollen oder können?)

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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