Wagner: Das Rheingold - Bayreuther Festspiele, 10.8.13
Um am Ende anzufangen: bis auf sehr wenige Buhrufer gab es nach dieser Rheingold-Vorstellung (der zweiten im Verlauf der Festspiele) fast einhellige Begeisterung beim Publikum. Das nur wenige Tage zurückliegende, minutenlange, hasserfüllte Duell zwischen Regisseur Castorf und einem Teil des Publikums nach der Götterdämmerung des ersten Bayreuther Ring-Durchgangs schien in weiter Ferne zu liegen.
Ich saß diesmal sehr weit vorne im Parkett und fand die gedeckelte, abgeblendete Akustik des Orchesters noch frappierender als bei weiter hinten liegenden Plätzen. Man muss nochmal in aller Deutlichkeit sagen, dass die Akustik und Klangbalance der Bayreuth-Aufnahmen und Radioübertragungen (offenbar immer mit Mikrophon im Orchestergraben) nichts, aber auch gar nichts mit der realen Akustik im Festspielhaus zu tun hat. Der immer etwas verschleierte Orchesterklang hat in meinen Ohren auch Nachteile, ermöglicht aber eine faszinierende Balance: das Orchester trägt die Sänger immer und überdeckt sie auch bei größeren dynamischen Entladungen nie. Da ein durchweg wortverständlich artikulierendes Sängerensemble am Werk war, konnte man Das Rheingold wirklich einmal als Konversationsstück mit Musik erleben.
Maßgeblich daran beteiligt waren das Dirigat von Kirill Petrenko und das wunderbare Spiel des Orchesters: meist flüssige Tempi mit behutsamen Modifikationen, auch das große Ritardando nach dem Raub Freias kam sehr zurückhaltend und verlor nie ganz den Bewegungsimpuls des Anfangs (Über Stock und Stein zu Tal stapfen sie hin…). Nur die Erda-Szene wurde als Adagio-Insel herausgenommen und mit zusätzlich verschleiertem Legato-Klang ausmusiziert. Sonst transparenter Klang mit sehr geschärften Akzenten, oft holzbläserbetont. Die Leitmotive knallt Petrenko nicht heraus, sondert bindet sie in den Fluss ein, lässt sie manchmal – wie beim ersten Erscheinen des Walhall-Motivs – nur sehr diskret aus dem Gesamtklang hervorleuchten. Bei den Zwischenspielen und einigen anderen Höhepunkten (Auslieferung des Horts in der vierten Szene) drehte das Orchester heftig auf, wobei die rhythmische Grundierung stets präsent blieb. Perfekte Koordination zwischen Graben und Bühne.
In jeder einzelnen Partie mag man im Lauf der Interpretationsgeschichte schon bessere Leistungen gehört haben – insgesamt aber war das vokal und darstellerisch ein beeindruckender Auftritt des Sängerensembles. Martin Winkler, ein großartiger Darsteller, verfügt als Alberich nicht ganz über die notwendigen Reserven für die exponierten Passagen seiner Partie, leistete sich auch ein oder zwei Hänger in der dritten und vierten Szene, überzeugte aber insgesamt durch restlosen Einsatz. Von Wolfgang Koch war ich mehr als positiv überrascht: seine Alberich-Stimme war mit der Wotan-Partie kein bisschen überfordert. Die ariosen Passagen (Abendlich strahlt…) kann man balsamischer singen, aber die enorm nuancenreiche Gestaltung, die verschiedenartige emotionale Färbung der Wörter und Phrasen war sensationell. Nur bei den cholerischen Spitzen hatte Koch etwas zu oft die Angewohnheit, einzelne Töne herauszubellen. Am Loge von Norbert Ernst gibt es kaum etwas zu kritisieren, er bewältigte die Partie souverän und phrasierte differenziert, es fehlte mir aber doch etwas an scharfer Charakterisierung. Grandios die beiden Riesen: der kantable Günter Groissböck als Fasolt und der gefährlich dunkle Sorin Coliban als Fafner. Sehr gut Claudia Mahnke (Fricka), fantastisch Burkhard Ulrich (Mime), der seiner kurzen Partie richtige Kabinettstückchen abgewann. Ansonsten gute (Erda, Rheintöchter) und ordentliche (Freia, Donner, Froh) Leistungen, allesamt rollendeckend.
Das Bühnenbild von Aleksandar Denić ist ein sehr detailrealistischer und gleichzeitig leicht surrealer architektonischer Komplex: ein Konglomerat aus Tankstelle mit Bar, Motel und Terasse mit Swimmingpool an der Route 66. Per Drehbühne wird jeweils eine der drei Seiten in den Vordergrund gerückt (Swimmingpool in Szene 1, Motelkomplex in 2 und 4, Tankstelle in 3), wobei die beiden jeweils anderen Ansichten seitlich präsent bleiben. Große Teile der vierten und vor allem der zweiten Szene spielen sich in einem ziemlich kleinen Motelzimmer ab, in dem die Protagonisten regelrecht zusammengepfercht werden – was manchen Rezensenten unglücklich erschien, fand ich besonders gelungen. Überhaupt hat die Regie von Frank Castorf sehr gegensätzliche, manchmal auch ratlose Reaktionen hervorgerufen: Wo bleibt das von Castorf angekündigte Drama ums Öl? Warum erzählt der nicht die Geschichte und verzettelt sich in Nebenhandlungen? Warum der vermeintliche visuelle Overkill durch Filmszenen auf einer großen Leinwand, die über dem Motelkomplex aufgespannt ist?
Die Figuren und Typen sind scharf gezeichnet: Alberich, der nur selten aufbegehrende und meist devote Kleingangster, der schließlich Wotan seinen Ring fast freiwillig auf Knien darbietet. Wotan, wesentlich höher in der Gangsterhierarchie, sexuell promiskuitiv im höchsten Maße (Fricka, Freia, Rheintöchter, Erda), herrschsüchtig, cholerisch, arrogant, nicht immer souverän. Die Riesen: Proleten in Blaumännern, Fafner räumt gleich bei seinem ersten Auftritt den gesamten Alkoholvorrat der Bar mit seinem Schlagstock ab. Loge eher traditionell-schmierig in mephistophelisch-billigem Rot. Donner und Froh: Abziehbilder aus der Gangsterkomödie. Die Frauen: grundsätzlich blond, nur nach Habitus und Status etwas differenzierte männliche Projektionen. Teilweise inszeniert Castorf in bester Tradition psychologisch-realistisch und sehr körperbetont. Dann wird der Bühnenrealismus aufgebrochen: Wotan und Loge führen Alberich und Mime bereits zu Anfang der dritten Szene als Gefangene mit Papiertüten über dem Kopf heran (Fesseln gibt’s an diesem Abend eigentlich nur metaphorisch), Alberich darf dann aber doch aufbegehren: eine fantastische Szene, wenn er Wotan seine Welteroberungspläne entgegenschleudert, dieser erst cool, dann zunehmend nervös an seiner Zigarette nestelt und schließlich die Fassung verliert. Am Beginn der vierten Szene ist Alberich nicht gefesselt: die drei Männer liegen nebeneinander in Liegestühlen, Wotan und Loge ganz relaxed, Alberich wütend, aber eben doch schon gebrochen.
Eine konsistente Geschichte erzählt Castorf nicht, liefert eher Bruchstücke aus verschiedenen Perspektiven. Diese wirken manchmal lässig, manchmal nachlässig, manchmal (wie bei Erdas Auftritt als erotische Verführungsszene einer Unterweltdiva) brillant inszeniert. Manche Ausstattungsdetails sind ganz konventionell: es gibt einen Ring, einen Tarnhelm, Gold in verschiedenartiger Form (meist als Barren), einen „Speer“ aber nur einmal als kümmerliches, aus der Architektur herausgerissenes und gleich wieder weggeworfenes Bruchstück. Anderes passt ins Ambiente, wie der historische Benz, mit dem Wotan zum Dreier mit Fricka und Freia vorfährt und den später die Rheintöchter klauen. Walhall nur einmal kurz als Hochhausprojektion auf der Leinwand. Dort auch – zur Gaudi des Publikums – Projektionen einer realen Giftschlange und einer realen, backenaufblasenden Kröte zu den Verwandlungen, die Alberich in einem merkwürdig archaischen Wohn- bzw. Tresorwagen durchführt.
Zentral für die Inszenierung ist die bereits erwähnte große Leinwand, auf die Verschiedenes projiziert wird: Detailaufnahmen der Figuren und ihrer Handlungen, in Echtzeit von einem mal mehr, mal weniger sichtbaren Kameramann gefilmt. Dann kontrastierende Szenen, z.B. am Schluss die schwimmenden und tauchenden Rheintöchter, ein durchaus berührendes Bild. Die Einbeziehung des Films ist ein großes, wenn nicht das große Thema des Theaters in den letzten 10-20 Jahren. Entsprechend haben viele Rezensenten auch wieder nur müde abgewinkt. Zu Unrecht, wie ich finde: zum einen ist das ganz pragmatisch ein prima Service für Zuschauer in den hinteren Reihen, die aus der Entfernung von dem Geschehen im Motelzimmer wenig mitbekämen, wenn ihnen die klaustrophobische Atmosphäre nicht per Leinwand vermittelt würde: die beiden Riesen, die permanent Freia angrabbeln, was Donner und Froh wiederum zu hilflosem Pistolengefuchtel veranlasst usw. Zum anderen gelingen die Zooms erstaunlich gut, verweisen auf Filmgeschichte in der Film-noir- und Gangsterkomödientradition.
Die Sänger erweisen sich dabei in Körpersprache und Physiognomik als brillante Schauspieler. Längere Teile der zweiten Szene, während der Verhandlungen Wotans mit den Riesen, steht dabei die gequälte Freia im Mittelpunkt: sie versteckt sich, leidet Todesangst (Zoom auf ihr Gesicht), bewaffnet sich hilflos mit einem Kissen, packt in höchster Eile ihren Koffer, versucht mit Wotans Mercedes zu fliehen, findet den Autoschlüssel nicht, wird gewaltsam ins Motelzimmer zurückgebracht. Später scheitert ein zweiter Fluchtversuch mit ihren Brüdern schon im Ansatz, weil dem tolpatschigem Froh die Pistole in den Swimmingpool fällt, Freia prügelt verzweifelt-stumpfsinnig auf ihren blöden Bruder ein… Später warten dann im Motelzimmer die Rheintöchter auf Wotan. Sie sind anscheinend mit ihm zum Gruppensex verabredet, ihr Partner ist aber durch die langwierigen Verhandlungen mit den Riesen gebunden. Die Rheintöchter langweilen sich, sind genervt, durchsuchen das Zimmer, finden Freias Fluchtkoffer und darin den zuvor von dieser vermissten Autoschlüssel und setzen sich dann mit Wotans Benz ab. Der Tankwart/Barkeeper (gespielt von Castorfs Regieassistent) kann nur noch wütend hinterherlaufen. Dies alles, während rundherum Wotan, Loge und die Riesen miteinander streiten… Auch Mime rückt stärker in den Mittelpunkt als gewohnt: zuerst erscheint er entstellt, als groteske Figur mit blutverschmiertem Gesicht. Nach Alberichs Niederlage ist er plötzlich ein freundlicher Mann mit Brille, der Sänger Burkhard Ulrich eben. Ihm gehört das Zwischenspiel nach der dritten Szene: er holt an einem Fahnenmast die Südstaatenflagge ein, hisst die Regenbogenfahne und macht es sich in der alternativen Lebensform von Alberichs Tresorwagen richtig gemütlich.
Nicht immer gelingt diese virtuose Parallelführung von Nebenhandlungen, oft läuft es eindimensionaler und konventioneller ab. Aber in den besten Momenten hat man als Rezipient durch Bühne und Leinwand, durch die verschiedenen Handlungsstränge, durch Orchester und Gesang eine enorme Fülle von synchronen Eindrücken zu verarbeiten, wie ich das schon lange nicht mehr erlebt habe. Ich bin mal gespannt, ob dieser Ring abgefilmt werden wird: ich wüsste nicht, wie – das synchrone Verfolgen des Geschehens auf Bühne und Leinwand ist konstitutiv für diese Inszenierung, die Leinwand ist selbst schon Kommentar zu der filmischen Verwertung des Mediums Theater.
Am Schluss müssen die Götter auf die Dächer von Tankstelle und Motel steigen, weil das Zimmer durch die übel zugerichtete Leiche Fasolts blockiert ist (was uns durch die penetrant auf die Leiche gerichtete Kamera verdeutlicht wird). Donner und Froh veranstalten ein bisschen Neonlichtzauber, letztlich stehen die Götter aber isoliert herum wie in einer Edward-Hopper-Szenerie, während der Tankwart die gesamte Tankstelle mit Benzin einnässt – die Götterdämmerung ist in Reichweite.
Auch wenn ich mir nach Berichten und Rezensionen gut vorstellen kann, dass Castorfs Arbeit in den drei folgenden Teilen des Rings nicht so gut funktioniert, - und auch wenn ich selbst am Radio gehört habe, dass spätestens mit der Götterdämmerung wieder das bescheidene vokale Niveau des Thielemann-Dorst-Rings erreicht wird: dieses Rheingold ist musikalisch und szenisch durchaus ein Wurf.
Viele Grüße
Bernd