Mendelssohn Bartholdy: Klavier solo

  • Bei einer "richtigen" Fuge hat man ein hörbares Nacheinander-Einsetzen der Stimmen mit dem Fugenthema.

    Mit diesem Aspekt kann die Prügelszene m. E. dienen.

    Primäres Thema ist das, was im fünften Takt der siebten Szene des zweiten Aufzugs mit den Tönen a'-a'-a'-d"-a'-a'-a'-d"-a'-d"-a'-... beginnt, alles Sechzehntelnoten bis auf die erste (Achtelnote). Fünf Takte lang.

    Nach viereinhalb Takten folgt die zweite Stimme, beginnend auf d'. (Alle Beantwortungen sind übrigens real.) Vier Takte später folgt die dritte Stimme auf h', weitere fünfeinhalb Takte später der Bass, beginnend auf a bzw. A. Soweit die Exposition.

    Erkennbar ist, dass die typische Quart-Quint-Folge nicht berücksichtigt wurde, was je nach Definition eventuell schon die Bezeichnung "Fuge" verhindern mag. Bei Brahms ("Warum ist das Licht gegeben") und Bartók ("Musik für ...", erster Satz) muss man dann ebenfalls andere Bezeichnungen wählen.

    Das Thema hat einen obligaten Kontrapunkt, der stets mit dem Thema erscheint, beim ersten Auftreten gespielt von Celli und Bässen. - Wegen dieses obligaten Kontrapunktes wird die Fuge bzw. das Fugato auch als Doppelfuge bzw. Doppelfugato bezeichnet.

    Eine erste Durchführung beginnt auf dem Wort "Streit" der Meistersinger, welche Motive aus Beckmessers geplantem Werbelied als c. f. zur Fuge bzw. zum Fugato singen. Die Durchführung beginnt mit einem Themeneinsatz auf d", fünfeinhalb Takte später folgt einer auf h".

    Die nächste Durchführung beginnt mit einer wohl aus dramaturgischen Gründen verzerrten Fassung des Themas, beginnend auf d", dem weitere verzerrte Einsätze folgen.

    Das Thema erscheint nicht mehr in seiner originalen Gestalt, sondern mit weiteren verzerrten Formen und Fragmenten, entsprechend der immer turbulenteren Szene ("wachsender Tumult" heißt es in einer Szenenbeschreibung). Anstelle einer Engführung setzt Wagner eine in Quarten übereinander geschichtete Folge von Tönen im Rhythmus des Themenkopfes, e" - a" - d''' - g''' - c4 mit mindestens so zuspitzender Wirkung wie eine Engführung.

    Ob man das nun Fugato oder Fuge nennt, hängt von der zugrundeliegenden Definition ab.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Liebe Mendelssohn Freunde,


    der Diskurs ist ja durchaus spannend, aber ich glaube, der Threadtitel beschäftigt sich mit dem Werk Mendelssohns-Bartholdy für Klavier solo ;)


    Für die Moderation:


    Caesar73

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Danke! Ich hätte keine anderen Komponisten erwähnen sollen, dann wäre die Diskussion in der richtigen Bahn geblieben. Um noch einmal meine Position zur h-Moll Fuge aus op. 35 zu erklären: Ich halte das Stück aufgrund des pochenden Themas mit den vielen Themeneinsätzen für turbulent. Turbulent heißt genau genommen: unruhig, stürmisch. Meiner Beobachtung nach haben die Stücke, welche Mendelssohn mit "con brio" versieht, alle diesen stürmischen Charakter. Ich finde daher die gemessene, akademische Spielweise, wie sie hier zu hören ist, nicht adäquat, auch wenn das Tempo stimmt.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Tja. Aber immerhin ist dazu noch zu sagen, dass die »Analyse«, die da oben geboten wird, einigermaßen lächerlich ist. Die Einsätze erfolgen nacheinander auf verschiedenen Tonhöhen, die Stimmen setzen danach aber aus. Es ist kein mehrstimmiges kontrapunktisches Gebilde, sondern wenn man genau hinsieht, ein zweistimmiges, das durch nichtthematische und also nicht zur »Fuge hörende« Einwürfe der Singstimmen ergänzt wird. Die Basis ist der Cantus firmus, der von dieser zweistimmigen Struktur umspielt wird. Es gibt keine Möglichkeit, wie man daraus eine Fuge machen kann, ebenso wenig wie es die Möglichkeit gibt, dem Stück zu entnehmen, dass die Lehrbuben den Stadtschreiber verprügeln und die anderen zuschauen. Da ist lediglich der Wunsch der Vater des Gedankens. Und das ist keine gute Basis für eine rationale Diskussion.

  • Um noch einmal meine Position zur h-Moll Fuge aus op. 35 zu erklären: Ich halte das Stück aufgrund des pochenden Themas mit den vielen Themeneinsätzen für turbulent. Turbulent heißt genau genommen: unruhig, stürmisch. Meiner Beobachtung nach haben die Stücke, welche Mendelssohn mit "con brio" versieht, alle diesen stürmischen Charakter.

    Wo "pocht" denn dieses Thema? Damit kannst Du eigentlich allenfalls den ersten Takt mit der punktierten Repetition meinen. Allerdings spielt gerade Christian Chamorel diese Repetitionen so weich (sogar beinahe legato), dass von einem "pochenden" Charakter kaum gesprochen werden kann (z.B. Roberto Prosseda artikuliert diesen Themenbeginn wie auch das ganze Stück unvergleichlich deutlicher). Und "unruhig, stürmisch" ist seine Darstellung gerade nicht, sondern schnell. "Unruhig, stürmisch" wäre z.B., wenn man den zur Septim und None aufsteigenden Sechzehntel-Ketten eine deutliche Richtung geben würde, dann vielleicht die folgende Sechzehntel-Pause hörbar abreißen ließe, wenn man zeigen würde, dass die Spitzentöne synkopisch versetzt sind usw.. Bei Chamorel schnurren die Töne statt dessen einfach schnell durch, selbst die am Anfang noch getrennt artikulierten Achtel, werden umso weicher, je dichter der Klaviersatz wird. Der Ablauf wird nur an zwei Stellen unterbrochen, die allerdings wohl eher versehentlich passiert sind: Erstens zieht er nach dem vergleichsweise gemessenen Beginn plötzlich kurz vor dem zweiten Themeneinsatz das Tempo völlig unmotiviert an (klingt für mich nach einem Schnittfehler, bei dem zwei im Tempo inkompatible Takes zusammengeschnitten wurden), und zweitens gibt es einen merkwürdigen Stolperer am Beginn von Takt 17. Ansonsten ist es, wie Du geschrieben hast:

    Chamorel setzt voll auf den Parameter Geschwindigkeit (wobei er aber nicht schludert) zulasten anderer Parameter (was dann nicht anders geht)

    Der "Parameter Geschwindigkeit" generiert aber für sich genommen keinen Charakter, keinen Ausdruck. Ich finde Chamorels Tempo nicht per se falsch oder schlecht, aber ich vermisse eine hörbare gestalterische Idee, einen erkennbare Aussage, eine individuelle Charakterisierung. Das finde ich gerade bei diesen nicht unproblematischen Stücken extrem wichtig, weil sie sonst in Gefahr sind, wie neutrale kontrapunktische Studien zu klingen. Chamorel versucht das mit einem rasanten Tempo zu übertünchen, aber dahinter bleibt doch dieselbe Leere deutlich hörbar. Ein schnelles Tempo hat für sich genommen nur einen Vorteil: dass die Sache schneller vorbei ist :) .

  • Die von Dir beschriebene Beschleunigung habe ich gestern beim nochmaligen Hören auch deutlich herausgehört, und sie hat mir gefallen (ich hoffe, dass es kein Schnittfehler ist! ;) ). Ich vermeine auch herauszuhören, dass Chamorel bei den Fugeneinsätzen nicht wirklich absetzt, und die neu einsetzende Stimme einfach "übernehmen" lässt, sondern dass sich die neu einsetzende Stimme gegen die alte sozusagen durchsetzen muss, was durch ein Crescendo bzw. Decrescendo erfolgt. Dadurch ensteht für mich der Eindruck eines "Konflikts" zwischen den zwei Stimmen, der für mich gut zum gehetzten Eindruck passt. Und erfolgen die Themeneinsätze nicht mit steigender Vehemenz? Am Anfang klingt das Thema recht weich vorgetragen, ich stimme zu, aber die Heftigkeit nimmt zu.

    Prosseda werde ich mir heute wieder zu Gemüte führen.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Ich habe mir jetzt mal über IMSLP die Noten angesehen, und es ist frappant, wie klein die Zahl der Dynamikanweisungen gerade in der h-Moll Fuge ist. Nur an ganz wenigen neuralgischen Stellen, und jeweils zu Beginn und am Ende, wird etwas vorgeschrieben. Bei den anderen Fugen gibt es zahlreiche Anweisungen.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

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