Gerard Mortier (1943-2014)

  • Gerard Mortier (1943-2014)

    Der vor wenigen Tagen verstorbene Belgier Gerard Mortier war eine der wichtigsten und einflussreichsten Figuren der klassischen Musikszene der letzten drei Jahrzehnte. Warum?

    Der promovierte Jurist Mortier hatte Erfahrungen an Opernhäusern in Düsseldorf/Duisburg, Hamburg und Paris gesammelt, bevor er 1981 seine erste Intendanz antrat: an der damals ziemlich heruntergewirtschafteten Brüsseler Oper. Dort versuchte er ein Konzept zu verwirklichen, das seinerzeit ungewöhnlich war: Die Werke sollten als geschlossene Konzeption aus Musik und Szene auf die Bühne gebracht werden, in langen Probenzeiten erarbeitet, wobei Regie, musikalische Leitung, Sänger und Dramaturgie von Anfang an zusammenwirken sollten. Abseits vom Starbetrieb, aber auch - was in den deutschsprachigen Nachrufen konsequent vergessen wird - vom Repertoirebetrieb, dessen kunstfeindliche Zwänge Mortier in Düsseldorf/Duisburg und Hamburg zu Genüge kennengelernt hatte. Er orientierte sich bei der Theaterästhetik teilweise wohl an der damaligen Gielen-Intendanz in Frankfurt, aber noch stärker an der Berliner Schaubühnentradition, aus der er vielfach Regisseure nach Brüssel holte: Peter Stein, Luc Bondy, das Ehepaar Karl-Ernst und Ursel Herrmann, Patrice Chéreau, Robert Wilson, dann auch Ruth Berghaus, Herbert Wernicke und Peter Mussbach. Im Zentrum des Repertoires standen für Mortier in erster Linie Mozart und die klassische Moderne. Entscheidend an dieser Brüsseler Opernreform beteiligt war der Dirigent Sylvain Cambreling, der bis zuletzt der engste künstlerische Weggefährte Mortiers geblieben ist und wohl auch dessen musikalische Vorlieben und Abneigungen (Puccini) mitgeprägt hat. Innerhalb weniger Jahre wurde die Brüsseler Oper von einem Geheimtip zu einem europaweit beachteten Modellfall. Berühmte Produktionen: Mozarts Lucio Silla (Chéreau/Cambreling), La finta giardiniera (Ehepaar Herrmann/Cambreling), Bergs Lulu (Berghaus/Cambreling), die Uraufführung von Zenders Stephen Climax (Mussbach/Cambreling), Janáceks Aus einem Totenhaus (Mussbach/Cambreling) und Wagners Ring (Wernicke/Cambreling, nach Bayreuther Muster innerhalb einer Woche herausgebracht). Die beiden letztgenannten Produktionen habe ich in Frankfurt gesehen, als Cambreling dort 1993 GMD wurde - sie haben meine Vorstellungen von einer geglückten Opernproduktion maßgeblich geprägt.

    Welchen Ruf sich Mortier erarbeitet hatte, zeigte sich, als man ihn 1991 zum Nachfolger Karajans als Intendanten der Salzburger Festspiele berief - das Amt hatte er zehn Jahre inne und verwandelte das Festival so, das man es zeitweise kaum wiedererkannte. Zunächst wurde das Repertoire erneuert: zahlreiche Stücke der klassischen Moderne, darunter z.B. mehrere Janácek-Opern wurden zum erstenmal auf die Salzburger Bühnen gebracht. Auch das Repertoire vor Mozart rückte stärker in den Mittelpunkt - dabei hielt die historische Aufführungspraxis Einzug in Salzburg, als Markstein galt Monteverdis Orfeo 1993 im Residenzhof, dirigiert von René Jacobs, inszeniert von Herbert Wernicke. Ein Leib- und Magenstück Mortiers wurde Messiaens Saint François d'Assise, der 1992 in der Felsenreitschule zu einem Sensationserfolg wurde - mit José van Dam in der Titelrolle, Peter Sellars als Regisseur, und Esa-Pekka Salonen als Dirigent. 1996 wurde die Produktion, diesmal mit Kent Nagano, wieder auf die Bühne gebracht. Und an jeder seiner späteren Wirkungsstätten (Ruhrgebiet, Paris, Madrid) hat Mortier Messiaens Oper, eine der größten organisatorischen Herausforderungen an ein Musiktheater, aufführen lassen. Bei den Regisseuren griff Mortier in Salzburg zunächst überwiegend auf sein altbewährtes Netzwerk zurück (Peter Stein hatte er zum Schauspielchef gemacht, dieser verfolgte dann allerdings ein anderes ästhetisches Konzept als Mortier und verkrachte sich mit ihm), blieb aber dabei nicht stehen: Christoph Marthaler kam seit 1996 hinzu (Katia Kabanova, Figaro - das waren Aufführungen!), ebenso verleitete er das katalanische Team La fura dels Baus zu ihrer ersten Opernregie (La damnation de Faust 1999 in der Felsenreitschule, damals atemberaubend - als die Katalanen später mehr und mehr auf Spektakel setzten, kehrte sich Mortier von ihnen ab).

    Nicht alles gelang Mortier in Salzburg, er ging oft künstlerische Kompromisse ein, manche Mozart-Aufführungen missglückten - und seine Achillesferse waren oft die Sängerbesetzungen: Mortier verweigerte sich nicht ganz, aber doch teilweise dem Starprinzip, was nicht immer gutging. Die österreichischen Medien prügelten regelmäßig in fast schon unanständiger Weise auf ihn ein, dort pflegte man auch Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den großen deutschen Feuilletons, die in der Regel auf Mortiers Seite standen. Es ging hoch her und Mortier, der gut einstecken, aber noch besser austeilen konnte, trug dazu bei: in seinen berüchtigten Scharmützeln mit den Wiener Philharmonikern zum Beispiel, die so manchem Österreicher den Schaum vor den Mund trieben. Im Rückblick war das eine aufregende Zeit, gegen die beispielsweise der reibungslose, auf Hochtouren laufende Starbetrieb der letzten Salzburger Spielzeiten unter Pereira merkwürdig hohl wirkt. Ein echter Glücksgriff war (der vor einem halben Jahr verstorbene) Hans Landesmann als Konzertchef der Festspiele in der Mortier-Ära.

    Von 2002 bis 2004 war Mortier dann der erste Intendant der Ruhrtriennale, was viele überrascht hat. Mortier wollte etwas ganz anders, neue Theater- und Musiktheaterformen ausprobieren - und mit den Stücken von Alain Platel gelang ihm das auch. Da war er schon sehr weit weg von der früher bevorzugten Schaubühnenästhetik - sein Experimentiergeist war ungebrochen. Ich erinnere mich an fantastische Aufführungen von Messiaens Saint François in der Bochumer Jahrhunderthalle (Cambreling dirigierte in einem Bühnenbild von Ilya Kabakov), an eine wundebare Dramatisierung von Schuberts Müllerin von Christoph Marthaler in Dortmund und an eine ziemlich grässliche Zauberflöte (La fura dels baus, Dörte Lyssewski rezitierte statt der Dialoge bedeutungsschwanger aufgeblasene Banalitäten einer Autorin, deren Name mir zum Glück entfallen ist - solche Ausrutscher gehörten bei Mortier dazu). Mortier hatte sich wohl im Ruhrgebiet ein aufgeschlosseneres Publikum erwartet als in Salzburg (ich hätte ihm gleich sagen können, dass er sich da irrt...) - jedenfalls trennten sich NRW und er nach den ersten drei Jahren wieder.

    Mortier übernahm 2004 für fünf Jahre die Pariser Oper. Aber nicht alles glückte: Mortier, der das Prinzip Koproduktion in der Opernbranche maßgeblich vorangetrieben hatte, recycelte jetzt viel und machte sich zudem mächtige Medien (Le monde) zum Feind. Auch hier gab es gewaltige Kräche - aber eben auch die Durchsetzung von Regisseuren wie Dmitri Tcherniakov und Krysztof Warlikowski, die erste Opernregie von Michael Haneke sowie geglückte Aufführungen wie etwa Marthalers Wozzeck.

    Der Versuch, zusammen mit Nike Wagner die Bayreuther Festspiele zu übernehmen, scheiterte 2008. Im gleichen Jahr wollte Mortier die Leitung der New York City Opera antreten. Als dem Haus aber durch die Finanzkrise quasi über Nacht sein Budget abhanden kam, machte er einen Rückzieher.

    So landete Mortier dann 2010 am Teatro Real in Madrid. Eher ein Haus der zweiten Reihe, in gewisser Weise eine Parallele zu Mortiers Amtsantritt in Brüssel 1981. In Madrid musste Mortier aber mit heftigen Sparmaßnahmen im Kontext der spanischen Wirtschaftskrise kämpfen, außerdem mit einem eher auf Repräsentation geeichten Verständnis von Oper. Obwohl seine Intendanz bis 2016 laufen sollte, wurde der krebskranke Mortier letztes Jahr von seinem Amt entbunden und Joan Matabosch vom Liceu in Barcelona als sein Nachfolger benannt. Matabosch stellte sich allerdings überraschenderweise loyal hinter Mortier und dessen Pläne. Vor wenigen Wochen konnte Mortier noch die von ihm initiierte Uraufführung der Veroperung von Brokeback Mountain durch Charles Wuorinen miterleben.

    Die meistbeachtete und tatsächlich weltweit gefeierte Premiere in Madrid erinnerte ein wenig an Mortiers Brüsseler Anfänge: eine Mozart-Oper, diesmal Così fan tutte, Cambreling als Dirigent, Michael Haneke als ein Regisseur, der nirgendwo sonst Oper inszenierte, ein junges Sängerteam ohne Stars - und eine sehr lange, intensive Probenzeit. Das Ergebnis kann man inzwischen auf DVD bewundern.

    Mortier war sich wohl selbst nicht immer sicher, ob die Sache, für die er mit höchstem Engagement kämpfte (die Oper, das Musiktheater) noch eine Zukunft hat. Aber er hat viel dafür getan. Leute, die bei Mortier gelernt haben oder in seinem Einflussbereich großgeworden sind, haben inzwischen an vielen europäischen Opernhäusern wichtige Posten - Eleonore Büning hat in ihrem Nachruf in der FAZ einige davon aufgezählt. Dazu zählen Intendanten wie Bernd Loebe (Frankfurter Oper), Louwrens Langevoort (Kölner Philharmonie), Peter de Caluwe (Brüsseler Oper), Serge Dorny (Opéra de Lyon, beinahe Dresden) und Thomas Wördehoff (Ludwigsburger Festspiele), Viktor Schoner (Künstlerischer Betriebsdirektor der Bayerischen Staatsoper) und natürlich Sylvain Cambreling als GMD in Stuttgart sowie Markus Hinterhäuser als designierter Intendant der Salzburger Festspiele.


    Viele Grüße

    Bernd

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