Was ist, was will und was kann das Musical?
Wenn sich in einer Kunstform eine neue Entwicklung anbahnte, galt diese den wertkonservativen Vertretern des Wahren, Schönen, Guten fast immer als minderwertig. Das war schon zu Zeiten von Glucks Reformopern so, wobei diejenigen, denen es, wie auch Wagner, um eine Veredelung der Gattung zu tun war, und die dafür gleich runde Konzepte vorlegten, sogar noch relativ gut dran waren. Wer aber „nur“ das Publikum unterhalten wollte, durfte sich unweigerlich einer nachhaltigen Geringschätzung sicher sein. Das galt für die Buffoeinlagen eines Pergolesi nicht anders als für die, von diesem selbst gering geschätzten, Komödien Donizettis und seit Wagner sowieso für alles, was nicht gleich nach dem Höchsten strebte.
So traf nach Dittersdorf oder Lortzing auch Größen wie Offenbach, Sullivan, Suppé oder Strauß der immer gleiche Vorwurf der bloßen Unterhaltung, den sie sich oftmals sogar zu eigen machten, wenn sie ihre Operetten entweder gleich als Opern ausgaben, wie William Balfe sein THE BOHEMIAN GIRL, oder indem sie sich immer wieder an anspruchsvolleren Werken versuchten. Bezeichnenderweise gehörten die meist zu ihren weniger gelungenen Werken. Bei vielen Anhängern der klassischen Musik wiederholt sich diese Erfahrung, wenn sie über Musicals sprechen oder sie als geringwertigen Zweig der Unterhaltungsindustrie ignorieren. Meist ist – neben einem vorgeprägten ästhetischen Kanon - eine fundierte Unkenntnis des Neuen die bröcklige Basis solcher Urteile. Die Verächter von Musicals kennen meist nur eine Handvoll der gängigsten Werke, die bekanntlich nicht immer die besten Vertreter ihrer neuen Gattung sein müssen.
Wer aus der bloßen Kenntnis von Werken wie, sagen wir, MY FAIR LADY, WEST SIDE STORY und HAIR ein Urteil über das Musical allgemein fällt, hat zwar nicht die schlechtesten Beispiele erwischt, verhält sich aber, wenn er sie als Grundlage einer Verurteilung heran zieht, ähnlich wie derjenige, der eine komplette Verurteilung der Oper als anspruchsvolle Musik auf die Basis eines einmaligen Erlebnisses von, sagen wir, THE PHANTOM OF THE OPERA und BLACK RIDER stützt, weil er nicht nur von Monteverdi nie etwas gehört hat, sondern nicht einmal von Verdi. Ich finde es deshalb überfällig, eine Lanze für diese noch weitgehend verkannte Gattung des Musiktheaters zu brechen. Da ein Großteil der (Vor-)Urteile ersichtlich auf Unkenntnis beruht, fange ich mit ein paar grundlegenden Thesen und Informationen an.
1. Das Musical ist keine fünfzig Jahre jünger als die Operette und ereichte seine erste Blüte, als der Niedergang der Operette begann. Man kann es also ohne Weiteres als deren legitimen Erben bezeichnen.
2. Das Musical hat mindestens so viele große Komponisten, Werke und Glanznummern hervor gebracht wie die Operette, und das sage ich als jemand, der die Operette einigermaßen kennt und durchaus schätzt.
3. Das Musical ist die heute lebendigste Form des Musiktheaters.
4. Zu allen Zeiten gab es erfolgreiche Werke, für die die Nachwelt bestenfalls ein mildes Lächeln übrig hat, weil sie außer der einen oder anderen eingängigen Melodie nichts Besonderes beinhalten. Die Mehrzahl der neueren Musicals, auf die sich das Negativurteil Vieler stützt, gehört in diese Gattung. Es gibt aber auch andere Musicals, die viel höhere Ansprüche haben und einlösen. Naturgemäß sind die relativ neueren Datums, aber deswegen sollte man die reichen Musicals der ersten Jahrzehnte nicht gering schätzen. Auf ihnen basiert das, was wir heute bewundern können.
5. Das Musical steht nicht zuletzt deshalb bei uns in Misskredit, weil die meisten deutschen Theater und ihre Ensembles den besonderen Anforderungen der Gattung nicht gewachsen sind, während die Spezialtheater sich auf ein Repertoire stützen, das mit Musik vie weniger als mit dem Showbusiness zu tun hat.
Ich werde diese Thesen im weiteren Verlauf des Threads noch eingehend begründen, fange aber hier zunächst einmal an mit der
Nr. 1: Wie alt ist das Musical eigentlich und wie entstand es?
Das Musical, eine Kurzform des ursprünglichen Begriffs „Musical Comedy“, d. h. musikalische Komödie, entstand um die vorletzte Jahrhundertwende als Protest gegen die Dominanz der europäischen Operette auf den renommierten Theaterbühnen Amerikas. Diese waren nämlich den Schlagerfabrikanten der sogenannten Tin Pan Alley, von der aus die Musikverleger New Yorks die Stars der damaligen Unterhaltungsmusik belieferten, verschlossen geblieben. Angeführt von dem geschäftstüchtigen George M. Cohan, forderten sie deshalb spezifisch amerikanische Themen und Kompositionen. Das Resultat waren zahlreiche patriotische Revuen, die in eigens entlang dem New Yorker Broadway dafür geschaffenen Theatern gegeben wurden. In dezidiertem Gegensatz zu den weiterhin beliebten Operetten, ersetzten sie oft die Handlung durch Conférenciers und Nummerngirls, präsentierten aber um so mehr aktuelle Schlager.
Nur allmählich erkannten die Produzenten dieser Revuen den Wert guter Autoren, die sie in Ermangelung erfahrener Librettisten aus England importierten. Da diese ihr Metier im Gefolge der „Savoy Operas“ - eigentlich Operetten - von Gilbert und Sullivan gelernt hatten und die Komponisten häufig oder als deutschsprachige Emigranten waren, die von den gängigen Stücken der Bühnen von Wien und Berlin geprägt waren, blieben ihre „neuen“ Stücke den zeitgenössischen Operetten zum Verwechseln ähnlich, so dass sich ihre "Musicals" fast nur noch in ihrer amerikanischen Thematik von diesen unterschieden. Während musiktechnisch ausgebildete Komponisten früher Musicals wie etwa Jerome Kern im wesentlichen der Operette treu blieben, entwickelten einstige Schlagerkomponisten wie George Gershwin, Irving Berlin, Cole Porter und Harold Arlen erst allmählich eine eigene Musiksprache, die aber auf populäre Entertainer zugeschnitten blieb, welche die zunehmend ambitionierten Texte und Tanzelemente des Musicals über die Rampe bringen konnten.
So kennzeichnet es den Unterschied zwischen Operette und Musical, dass Letzteres am besten von sängerisch begabten Schauspielern und Tänzern dargeboten werden kann, während die Operette ausgebildete Stimmen verlangt, die auch in komplexeren musikalischen Ensembles bestehen können. Nicht zuletzt deshalb misslingen viele Aufführungen von Musicals mit Opernsängern, da diese den spezifischen Spielcharakter des Musicals oft mit einer unidiomatischen, primär der Produktion glanzvoller Töne verpflichteten, Interpretation verfälschen und in der Regel nur in Musicals bestehen können, die eigentlich Operetten sind, wie etwa MY FAIR LADY, CANDIDE oder THE PHANTOM OF THE OPERA.
In diesen und nicht wenig anderen sogenannten Musicals, die nur deshalb so genannt werden, weil sie aus Amerika kommen oder in Musicaltheatern aufgeführt werden, hat sich die Operette als Spielart des Musicals erhalten und ist keineswegs so tot, wie man gerne unterstellt.
Zur Unterscheidung zwischen Operette und Musical, womöglich sogar zu der zwischen neuem Musical und der Oper wird es aber einen eigenen Thread geben müssen, der vielleicht der in diesem Zusammenhang interessanteste wird.
Rideamus
Anmerkung: Der Artikel basiert auf einem Artikel, den ich für ein geplantes Lexikon schrieb, und der in einer früheren Fassung bereits publiziert, von mir aber für dieses Forum überarbeitet und erweitert wurde.