Die Liebende schreibt - op. 84/3
Nach all diesen düsteren Liedern ist es an der Zeit, auch einmal ein sonnendurchflutetes zu besprechen: "Die Liebende schreibt" auf ein Sonett von Goethe. Mendelssohn schrieb das Lied während seiner Schweizreise in 1831 und berichtete Fanny brieflich davon als etwas "tolles" (im ursprünglichen Sinne des Wortes, wohlgemerkt). So weit dieses Lied für "toll" zu erklären, würde ein moderner Hörer nicht gehen, aber für Mendelssohn war die Vorgehensweise bei diesem Lied schon außergewöhnlich, da das Schema sich weitgehend vom Strophenschema und somit den Idealen der von Mendelssohns Lehrer Zelter vertretenen "Norddeutschen Liedschule" löst.
Die Strophenfolge wie für ein Sonett typisch:
Ein Blick von deinen Augen in die meinen,
Ein Kuß von deinem Mund auf meinem Munde,
Wer davon hat, wie ich, gewisse Kunde,
Mag dem was anders wohl erfreulich scheinen?
Entfernt von dir, entfremdet von den Meinen,
Führ' ich stets die Gedanken in die Runde,
Und immer treffen sie auf jene Stunde,
Die einzige; da fang' ich an zu weinen.
Die Träne trocknet wieder unversehens:
"Er liebt ja", denk ich, "her in diese Stille,
Und solltest du nicht in die Ferne reichen?"
Vernimm das Lispeln dieses Liebewehens:
Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille,
Dein freundlicher zu mir; gib mir ein Zeichen!
Mendelssohn gestaltet daraus eine Art Gesangsszene mit Ähnlichkeiten zu einem Accompagniatorezetativ, wobei die Strophen nur teilweise wiederkehrend mit derselben Melodie unterlegt werden. Der Themenkopf aus der ersten Strophe erscheint z.B. in der zweiten Strophe erst in der dritten Zeile, nachdem in den ersten beiden Verszeilen ein verwandtes zweites Thema in Moll erklingt. Die zweite Strophe endet dann mit einem leidenschaftlichen Melisma auf "weinen". Auch die dreizeiligen Strophen greifen das thematische Material der ersten Strophe nur teilweise auf. Insgesamt ist dieses erst posthum erschienene Lied höchst originell und ungewöhnlich für Mendelssohn, wobei zu sagen ist, dass es reichlich sogenannte "untypische" Lieder bei Mendelssohn gibt. Ich hoffe, im Laufe dieses Threads einen gewissen Überblick über Mendelssohns Ausdrucksvielfalt im Lied vermittelt zu haben. Unabhängig von den oben besprochenen technischen Details ist dieses Lied eine wunderschöne Komposition und vielleicht trägt bei diesem Lied Mendelssohn den "Sieg" über Schubert davon, der dieses Lied ebenfalls auf gelungene Weise vertonte (D673).
Mendelssohn:
"
Es singt Barbara Bonney, deren frischer Sopran für dieses schwärmerische Lied wie gemacht ist.
Schubert:
"
Es singt Arleen Augér.