Mendelssohn Bartholdy, Felix: Lieder und Duette
Liebe Freunde des Kunstliedes,
im alten Forum hatte ich erst einmal mit dem op. 19a angefangen, bevor ich mich ein erstes Mal mit der Bedeutung der Klavierlieder beschäftigte. Da ich nun einige Einspielungen mehr habe, vor allem die jpc-Sendung mit der 4. CD der bisher hervorragenden Gesamteinspielung erwarte, mit denen ich die bisherigen Besprechungen noch gerne ergänze.
Es gibt eine verbreitete abschätzige Haltung gegenüber diesem Teil seines Werkes, die mir nicht gerechtfertigt scheint.
In Eric Werners Monographie Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht Zürich/Freiburg i. Br. 1980 findet sich folgende Passage:
Alle Ästhetik und Spekulation kann aber den Tatbestand nicht ändern: die Lieder - es gibt deren über 80 - repräsentieren den schwächsten Teil von Mendelssohns Gesamtwerk. Die melodische Begabung, die hohe Geistigkeit, der ausgesprochen lyrische Charakter seines Talents, all dies schien einen Liederkomponisten großer Statur zu versprechen. Aber Mendelssohn ist, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen, in seinen Lieder durchaus mittelmäßig geblieben. Ein paarmal ist er sogar zu Banalitäten herabgesunken. Wie läßt sich diese Schwäche erklären? (Werner, S. 148f.)
Interessanterweise gehören gleich drei Lieder des op. 19a, einem noch relativ früh entstandenen Zyklus, nämlich "Das erste Veilchen", "Gruß" und "Neue Liebe" zu den Ausnahmen. Das sollte doch zu denken geben. Wenn man sich so auf den ästhetischen Richterstuhl setzt, so muss man doch fragen, was man und nach welchen Gesetzen man dieses
beurteilt. Werner hat eine bestimmte Vorstellung des Kunstliedes, die möchte er eingelöst haben. Mendelssohn entspricht nicht dieser Vorstellung, also wird er abgeurteilt. Aber die die Vorstellung Werners die Mendelssohns? Ist es die der Zeit Mendelssohns? Beides ist zu verneinen.
Die Lieder Mendelssohns waren im Biedermeier populär. Also benutzt man die Vorurteile gegenüber dem Biedermeier, um Mendelssohn zu treffen. Aber sind die Lieder nun tatsächlich seicht, sentimental, oberflächlich, biedermeierlich oder gar kitschig- so das Sündenregister, das Kunold aus der Literatur zusammen stellt.
Für keines der sechs Lieder des op. 19a trafen diese Vorwürfe zu. Dabei sind sie doch parallel zu dem ebenso angefeindeten op. 19 - den Liedern ohne Worte - entstanden, auch jene populäre Kompositionen, die sogleich eine ganze Anzahl von Nachahmern fanden.
Mendelssohn schrieb (um nun endlich mal die richtige Zahl festzuhalten) 102 Gesänge für eine Singstimme und Klavier (Kunold, S. 247), differierende Zahlen ergeben sich u.a. durch unveröffentlichte Lieder aus den Jahren 1820 bis 1823, 48 hat er selbst veröffentlicht, 17 Lieder erschienen mit Opuszahlen aus dem Nachlass, die 79 Lieder, die in den traditionellen Ausgaben zu finden sind, enthalten noch fünf Lieder von Fanny Mendelssohn, die damals ohne Namensnennung Fannys mitveröffentlicht wurden. Wenn man die Zahl der Lieder mit denen Schubert und Schumanns vergleicht, jenen beiden Komponisten, die ihm zeitlich nahestehen, so zeigt sich, dass die Liedkomposition nicht in
dem Maße für Mendelssohn Mittelpunkt der kompositorischen Auseinandersetzung war wie für den ihm vorangehenden Schubert oder den ihm folgenden Schumann. Dass er von der zeitlichen Korrespondenz auch eher mit Schubert als mit Schumann verglichen werden kann (Mendelssohn starb 1847), sei nur einmal im Vorübergehen festgestellt.
Der entscheidende Unterschied ist allerdings, dass Mendelssohn von anderen ästhetischen Voraussetzungen ausging, andere ästhetische Ziele hatte. Viele seiner Lieder sind als persönliche Gabe, als Geschenk an seine Freunde entstanden, sie sind für musizierende Dilettanten gedacht, nicht für den Konzertsaal.
Im nächsten Beitrag werde ich versuchen, die ästhetischen Vorstellungen der zweiten Berliner Liederschule darzustellen, mit der Mendelssohn persönlich eng verbunden war, und die Konsequenzen für seine Liederkompositionen.
Liebe Grüße Peter