Festival "Jazz à Vienne" 2015

  • Festival "Jazz à Vienne" 2015

    Vom 26. Juni bis 11. Juli findet die 35. Ausgabe des Jazzfestivals in der Kleinstadt südlich von Lyon statt. 14 Doppel- bzw. Dreifachkonzerte im antiken römischen Theater (plus die 6fach besetzte Abschlußnacht), 20 Mitternachtskonzerte an zwei Lokationen sowie ein umfangreiches Nachmittagsprogramm in den Gärten der Kybele mit internationalen, französischen und lokalen Nachwuchskünstlern stehen zur Auswahl. Dazu ein umfangreiches Beiprogramm an diversen anderen Orten sowie voraussichtlich auch wieder viel spontan Organisiertes in Kneipen und auf Plätzen der Stadt. Alles außer den Konzerten im Théâtre antique übrigens kostenlos!

    Das offizielle Gesamtprogramm ist seit ein paar Tagen online: "http://jazzavienne.com.

    Es gibt relativ wenig "klassischen" Jazz; vieles geht in Richtung "Weltmusik", in diesem Jahr mit deutlichen Schwerpunkten auf afrikanische und arabische Musik. Dazu die etwas Jazz-fernen Abende mit Ausverkauft-Garantie, die für das Überleben des Festivals nicht unwichtig sind (in diesem Jahr ist das vor allem Sting).

    Ich werde von 28. Juni bis 6. Juli dort sein. Mein Programm sieht derzeit so aus:

    28.6.:
    Davell Crawford * Allen Toussaint

    29.6.:
    Dhafer Youssef * Natacha Atlas

    30.6.:
    Marcus Miller avec l'Orchestra National de Lyon (das kann interessant, aber auch furchtbar werden; wahrscheinlich beides!) - dazu im Nachtkonzert Aziz Sahmaoui & University of Gnawa

    2.7.:
    Cyrille Aimée * Tigran Hamasyan * Melody Gardot - im Nachtkonzert nochmal Cyrille Aimée

    3.7.:
    Stéphane Kerecki * Chucho Valdez * Gaetano Veloso & Gilberto Gil - im Nachtkonzert 3 Hammond-Organisten (darunter Rhoda Scott) plus Schlagzeug

    4.7.:
    Orchestra Baobab * Les Ambassadeurs (u.a. mit Salif Keita und Cheick Tidiane Seick) - im Nachtkonzert das Julia Sarr Trio

    6.7.:
    Thomas Enhco * Gil Evans Paris Workshop (eine Big Band unter Laurent Cugny) * Philip Catherine & Didier Lockwood & Richard Galliano Trio

    Ich freue mich sehr auf Tigran Hamasyan, auch Melody Gardot (was für ein Kontrastprogramm übrigens :juhu: ) könnte klasse werden; sie ist bisher als Soloauftritt angekündigt! Chucho Valdez hat mich vor zwei Jahren nicht soo sehr begeistert, war aber OK. Mit Veloso und Gil treten mal wieder zwei Helden meiner Jugend auf :D. Ich hoffe, es wird keine Enttäuschung! Angekündigt sind sie als Duo, ohne Band! Und dann natürlich das Trio Catherine/Lockwood/Galliano!

    Viele andere Künstler kenne ich bisher kaum oder gar nicht - kann jemand was zu denen sagen?

    Verpassen werde ich den großartigen Bassisten Avishai Cohen (muß mir aber auch nicht am selben Abend George Benson antun), die diesmal komplett französisch besetzte Jazz-Nacht und einen Abend mit den "Jazz Legends" Billy Hart, Brian Lynch, Donald Brown, Cecil McBee, Benny Golson, Eddie Henderson, Chico Freeman, George Cables (die ich aber auch nur zum Teil kenne). Ach ja, und Snarky Puppy werde ich auch diesmal wieder nicht hören. You Can't Always Get What You Want!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Nun bin ich also zurück von der 35. Ausgabe des Festivals Jazz à Vienne!

    Das Programm war, wie ich erfahren konnte, nach der Veröffentlichung im März recht heftig kritisiert worden: zu wenig Jazz auf dem Jazzfestival! Tatsächlich ist auch der Kartenvorverkauf vergleichsweise schleppend gewesen; nur der Abend mit Sting war bereits bei Drucklegung des Programmhefts ausverkauft. (Wir hätten als Abonnenten hingehen können, das Konzert lag aber außerhalb unseres Zeitrahmens).

    Geblieben ist das umfangreiche kostenlose Beiprogramm, durch das sich Jazz à Vienne von den meisten anderen Festivals dieser Art unterscheiden dürfte; es wurde sogar noch ausgeweitet: jetzt gibt es auch schon zur Mittagszeit einen Set mit Nachwuchkünstlern auf der Bühne im Forum der alten Römermetropole; danach ab 16:00 fünf weitere Sets bis gegen 23:00 Uhr (sonntags einer weniger). Zum offiziellen Festivalprogramm gehören nach wie vor noch eine (anmeldungspflichtige) Académie mit Seminaren (Ateliers) und Master Classes sowie zu Beginn die für die Schulen der Region reservierte und immer vollbesetzte Création Jeune Public im Théâtre antique, diesmal mit einem Carnaval Jazz des Animaux mit der Amazing Keystone Big Band. Geblieben sind auch die Nachtkonzerte im zum Club de Minuit umbenannten kleinen Stadttheater von Vienne und im JazzMix genannten Spiegelzelt am Rhôneufer, sowie einzelne Konzerte im Gallo-Römischen Museum auf der anderen Rhôneseite. Außerdem die Jazz Parades in den Straßen der Stadt, die Caravan'Jazz, mit der eine Band in den kleineren Gemeinden rund um Vienne Konzerte gibt und eine Literaturreihe mit Lesungen, z.T. auch musikbegleitet (Lettres sur cour).

    Neben diesem offiziellen Programm des Festivals gibt es noch (ich glaube, das wird von der Kommune organisiert) drei weitere winzige Bühnen in der Altstadt mit je drei Nachmittagskonzerten (fast täglich). Und natürlich das ganz und gar inoffizielle "Programm": vor allem freitags und samstags nachts gibt es soviel Musik in der Stadt, daß eine Band kaum außerhalb der Hörweite der nächsten spielt (Jazz, Blues, Rock, Chanson etc.).

    Man kann in Vienne jeden Julianfang also problemlos fünfzehn Tage lang nahezu rund um die Uhr Musik hören, ohne irgendwo einen Centime Eintritt zu zahlen. Das so entstehende Flair, das die Stadt während des Festivals hat, ist für uns - neben dem unvergleichlichen Ambiente im Théâtre antique - der Hauptgrund, wenigstens jedes zweite Jahr hinzufahren. Für mich war es diesmal der vierte Besuch. Soviel vorab: es gab ausreichend Jazz auf dem Jazzfestival, es war in der Regel gut besucht, es war (natürlich) nicht alles toll, aber der Besuch hat sich wieder sehr gelohnt!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Sonntag, 28. Juni

    Das Festival begann mit drei Abenden unter dem Motto "Week-end Nouvelle-Orléans", von dem wir den letzten am Sonntag abend gesehen haben. Wie häufig an den Sonntagen ist das Théâtre antique nur schwach besetzt, die mittleren und höheren Ränge sind sogar abgesperrt, wohl um den Künstlern nicht den Anblick von überall in einem halbleeren Auditorium verstreuten Besuchern zu bieten. Am Ende wird es aber doch etwas voller, und wir ziehen auf unsere Lieblingsplätze knapp über Bühnenhöhe um (da gibt's immer noch das Gratisschauspiel mehr oder weniger perfekter Sonnenuntergänge über den Hügeln des Pilat :thumbup: ).

    Zu Beginn spielte der Pianist und Sänger Davell Crawford ein Programm unter dem Motto To Fats with Love. Begleitet von einer von einer nicht immer hundertprozentig sattelfesten Band (insbesondere - ausgerechnet! - der Bassist mE nicht auf professionellem Niveau) brachte er ein Repertoire rund um diverse Hits von Fats Domino (Ain't that a Shame, Blueberry Hill, I'm Walkin' u.a.) und spielte dazu ein vielleicht nicht sonderlich virtuoses, aber sehr stilsicheres Stride-Piano, dabei in seinem Spiel und in den Arrangements immer auf Fats' Frühzeit als Blues- und Boogie-Woogie-Pianist zurückgreifend; oft erinnert er in seinem Spiel auch an Jelly Roll Morton. Passend dazu spielten die Bläser (Trompete, Klarinette, Alt- und Tenorsaxophon) ihre Soli nur teilweise alleine; häufig spielten sie einige Chorusse als kollektive Improvisation, gemeinsam und gegeneinander. Damit wurde eine Brücke geschlagen vom frühen New Orleans Jazz zur Rock'n Roll-nahen Popmusik Fats Dominos - hat mir immer wieder gut gefallen! Die vermutlich vorgesehene Zugabe (I Hear You Knocking; hatten wir beim Anstehen noch als Soundcheck gehört) wurde spontan vertauscht mit einem Song über das Katrina-Desaster vor annähernd 10 Jahren, womit Crawford seine Mitmusiker offensichtlich etwas überraschte, aber das Publikum schnell zum Mitsingen animieren konnte. Insgesamt ein netter Set!

    Im der zweiten Hälfte des Abends spielte, auch er ein singender Pianist, der vor allem als Produzent und Popsong-Komponist bekannte Allen Toussaint, begleitet von einer nun deutlich sattelfesteren Band (Gitarre, Bass und Schlagzeug). Allen Toussaint spielt ein typisches New Orleans Stride Piano mit durchaus eigenem Stil und erweist sich dabei als versierter Pianist und guter Sänger mit angenehmer, für einen Fünfundsiebzigjährigen ausgesprochen intakter Stimme. Allein, so recht will, anders als bei Davell Crawford, keine Stimmung aufkommen, zumal er auch nicht sonderlich versucht, Kontakt zum Publikum aufzubauen. Man kann sich nicht beklagen, alles wird souverän und fetzig gespielt, aber der Funke springt nicht über! Erst als Toussaint den wohl bekanntesten Hit aus seiner Feder, Southern Nights (ein Hit für Glen Campbell 1979), spielt, wird das Publikum ein wenig munterer (das kennt man halt). Und das hat alles natürlich auch nichts mehr mit Jazz zu tun! Ich selbst ertappe mich schon bald dabei, daß ich bei jeder Nummer denke, jetzt dürfe es aber die letzte sein. Eine Zugabe erklatscht sich das Publikum am Ende noch, dann ist der erste Festivalsonntag zu Ende (kein Nachtprogramm sonntags und montags!).

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Montag, 29. Juni

    Den Auftakt machte an diesem Abend der tunesische Oud-Spieler und Sänger Dhafer Youssef mit seiner Band. Youssefs Jazz ist zum einen stark von der Folklore seiner Heimat beeinflußt, zum anderen von elektronischer Musik. Er ist ein versierter Oud-Spieler, weit auffälliger ist allerdings sein Gesang, den er überwiegend instrumental einsetzt; nur gelegentlich scheint er auch Worte zu artikulieren (aber ich bin des Arabischen in keiner Weise mächtig). Dabei verfügt er über einen ganz und gar außergewöhnlichen Stimmumfang - er reicht vom G bis zum h'', das sind fast dreieinhalb Oktaven! Er erreicht das (meine Vermutung) über eine besondere Stimmtechnik; auffällig ist, daß er bei besonders hohen Tönen (in der zweigestrichenen Oktave) einen Finger an die Nase hält (ob er dabei ein Nasenloch zuhält oder gegen das Jochbein drückt, konnte ich nicht erkennen). Auffällig auch, daß er sich bei diesen Tönen vom Mikrofon entfernt, und zwar außergewöhnlich weit, z.T. sicher zwei Meter.

    Dabei mischt sich die Stimme mit den elektronisch verfremdeten Gitarrentönen von Eivind Aarset. Der ursprünglich vom Metal her kommende Gitarrist spielt seit Jahren Jazz in den unterschiedlichsten Varianten und ist als eigener Bandleader vor allem auch ein Vertreter elektronischer Musik. In der Sonnenuntergangsstimmung im Rund des Théâtre antique in Vienne erzeugte die mit großer dynamischer Bandbreite gespielte Musik eine ganz und gar unwirkliche, archaische Stimmung, zumal sich in die Musik teilweise noch das Schreien der Mauersegler mischte, die um diese Zeit über dem Theater auf die letzte Mückenjagd des Tages gingen. Ich empfinde es so, daß von dieser Musik eine große Wärme und gleichzeitig eine eigentümliche Kälte ausgeht (und kriege beim Schreiben wieder ein wenig Gänsehaut) - phantastisch im eigentlichen Wortsinn!

    Dazwischen mehr oder weniger ausgedehnte Soli vom Bandleader an der Oud, Aarset an der (dann weniger verfremdeten) E-Gitarre und den hervorragenden Begleitern Kristjan Randalu (Klavier), Ferenc Nemeth (Bass) und Phil Donkin (Schlagzeug); der ebenfalls ausgezeichnete Perkussionist wird (wie auch Aarset) im Programmheft leider nicht genannt.

    CD-Empfehlung:

    Hier mischt sich Youssefs Gesang auch noch mit der Trompete von Nils Petter Molvær, und seine Oud mit dem Qanun von Aytaç Dogan.

    ***

    Die zweite Hälfte des Abends bestritt die ägyptisch-britische Sängerin Natacha Atlas mit ihrer Band und dem libanesischen Trompeter Ibrahim Maalouf als Gast. Hinzu gesellte sich für einige Nummern der aus Vienne stammende Posaunist Robinson Khoury, den ich hier vor 6 Jahren schon mal auf der Nachwuchsbühne gehört habe.

    Natacha Atlas' Musik wird man wohl am ehesten der sog. Weltmusik zuordnen können (sie macht aber auch Pop, Rap und Drum & Bass); neben Maalouf und Khoury kommen aber auch die Mitglieder ihrer eigenen Band offensichtlich vom Jazz her, was eine durchaus hörenswerte und interessante Mischung ergab. Im Vordergrund neben der Sängerin natürlich der Trompeter, der den überwiegenden Teil der Soli bestritt (dabei aber leider den Geiger Samy Bishai etwas an den Rand drängte). Maalouf spielt eine Vierteltontrompete mit einem vierten Zusatzventil, das er mit dem linken Zeigefinger bedient; er nutzt das, um orientalische Skalen spielen zu können, aber auch, um die typischen Gesangsverzierungen, so wie die Atlas sie sang, nachahmen zu können. (Das Instrument wurde auf Veranlassung seines Vaters Nassim Maalouf, einem Maurice-André-Schüler, bei Selmer gebaut.) Schöne moderne Jazz-Begleitung sowie gute Soloarbeit auch von der Pianistin Alcyona Mick, unauffälligere aber solide Begleiter Andy Hamill (Bass) und Vasilis Sarikis (Schlagzeug und Perkussion).

    Ibrahim Maalouf hat seit einigen Jahren ohnehin Heimspiel in Vienne, und als für die Zugaben der Lokalmatador Sebastian Khoury nochmal die Bühne betritt, kommt ordentlich Stimmung im gut besetzen Théâtre antique auf.


    Der Abend wurde von France Inter live gesendet; kleine Ausschnitte aus dem Konzert gibt es hier:

    "http://culturebox.francetvinfo.fr/festivals/jazz…-maalouf-223053

    (unten auf der Seite auch ein Ausschnitt von Dhafer Youssef).

    Möglicherweise findet sich demnächst auch für gewisse Zeit ein offizielles Video im Netz.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Danke, werden noch kommen! Ist im Moment alles irgendiwe sehr eng bei mir.

    Nachtrag zu Sebastian Khoury:

    Der ist aus der örtlichen Musikschule hervorgegangen, mit deren Big Band ich ihn hier vor 6 Jahren gehört hatte. Beim ebenfalls zu Jazz a Vienne gehörenden Musikwettbewerb REZZO Focal ("http://www.jazzavienne.com/rezzo-focal) hat seine aktuelle Band Uptake 2014 gewonnen. Damit verbunden sind u.a. eine CD-Produktion sowie der Startauftritt bei der Schlußnacht von Jazz a Vienne des Folgejahres. Die Band hat also am 11. Juli im Theatre antique gespielt, da war ich aber nicht mehr da.

    Es gibt in Frankreich auf niedriger Ebene, also lokale Musikschulen, wohl eine sehr gute Breitenförderung, wie mein in Frankreich lebender Freund nicht müde wird zu erwähnen. Das "noch" davor vergißt er allerdings neuerdings auch nicht! Vienne ist ein Städtchen von gut 30.000 Einwohnern mit einem Conservatoire, das eine Big Band auf die Beine gestellt kriegt! Findet man sowas in Deutschland?

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Na, bloß kein' Stress. Aber hört sich sehr interessant an, auch so mit den Infos zu Hintergrund und Ambiente. Vienne war überhaupt nicht auf meinem Radar, bevor ich nicht vor einiger Zeit Deine Postings gesehen hatte (hab erst gedacht "Wien – häh? Und warum auf Französisch?" :P).

  • Dienstag, 30. Juni - Teil 1

    Marcus Miller avec L'Orchestre national de Lyon

    Zugegeben, ich war skeptisch, als ich von dieser Zusammenstellung las! Der Crossover zwischen Jazz und dem, was man so Klassik nennt, geht - in meinen Ohren - zumeist daneben. Würde der Bassgitarrist und Bassklarinettist Marcus Miller der Versuchung entgehen, aus der Orchesterbeteiligung eine musikalisch flache Show zu machen?

    Ich war unterm Strich doch recht positiv überrascht von dieser métissage - vielleicht, weil die Musik im wesentlichen doch Jazzmusik blieb, zu der das Orchester eine Klangnuance beisteuerte; und das gelang zumeist recht gut! Der Set begann mit B's River von der letzten Miller-CD, einem Stück, das afrikanische Musiktradition aufgreift. Miller spielt hier die Gimbra, eine tiefe Kastenlaute, die er als Vorläufer der Bassgitarre empfindet. Das mit diesem Instrument gespielte Riff verdoppelten die Streicher im Pizzicato, während die Bläser in Big Band-Manier dagegen gesetzt waren. Bei Millers Version des alten Temptations-Hit Papa Was a Rolling Stone spielte das Orchester ein gegenüber dem (auch mit Orchester versehenen) Original harmonisch erweitertes Material, während Miller auf dem Bass die "lead vocals" brachte - sehr gelungen! Bei Tutu ersetzte das Orchester die für die 80er-Popmusik typischen ekligen Trevor-Horn-Tusche auf dem Synthesizer, wozu Lee Hogans eine wundervolle Trompete spielte, die für den Moment Miles glatt vergessen ließ. Auch durchaus akzeptabel der Ausflug auf die andere Seite: Je crois entendre encore (aus Georges Bizets Oper Les pêcheurs de perles), bei dem Miller sich mit Edouard Sapey-Triomphe (Solocellist des Orchesters) für die Melodielinie abwechselte. Das gibt's auf CD ohne Orchester und klang an diesem Abend doch erheblich weniger klischeebeladen. Schließlich Gorée, ein Stück (von der vorletzten CD Renaissance) über die Verschleppung und Versklavung der Afrikaner, mit dem Miller begonnen hatte, nach den Wurzeln "seiner" Musik zu suchen; hier bildet das Orchester den Background für Miller an der Bassklarinette, und die tiefen Streicher übernahmen dabei das (sonst auf die Keyboards übergehende) Bassfundament.

    Im Zentrum des gesamten Abends standen Titel von Millers jüngster CD Afrodeezia, auf der er mit den Wegen der Sklavenrouten auch dem Weg hin zum Jazz nachspürt*. Dazu gehört auch die oben erwähnte Gimbri, ein Instrument der sufischen Gnawa-Tradition. Diese heute vor allem in Marokko gepflegte Musik kam ursprünglich aus Zentral- oder Westafrika; das Instrument erhielt Miller bei einem Aufenthalt beim jährlichen Gnawa-Fest im marokkanischen Essaouira als Geschenk.

    Es hatten nur drei Stunden Probe für Band und Orchester zur Verfügung gestanden; für ein Spitzenorchester wie das ONL vermutlich nicht ungewöhnlich - innerhalb seines typischen Repertoires! Hier mußte es sicherlich nichts technisch sonderlich Schwieriges bewältigen; aber daß es einem europäischen Symphonieorchester heutzutage so problemlos gelingt, sich in die doch ganz andere rhythmische Phrasierung des Jazz zu begeben, finde ich doch bemerkenswert. Applaus auch für den Dirigenten Damon Gupton und für den ungenannten Arrangeur (möglicherweise war Gupton das ja auch).


    In der zweiten Hälfte des Konzerts machte die Band nun ohne Orchester weiter, und die Soli der Musiker wurden ausgreifender. Seine Standard-Band seit über drei Jahren besteht aus noch ziemlichen jungen Musikern, so wie Miller selbst bei Miles Davis' Comeback 1981 einer der blutjungen Musiker von Miles' Band war. Herausragend Alex Han am Saxophon, der sich manchmal die Seele aus dem Leib zu blasen schien und der mit seinen zum Teil sehr ausladenden (aber immer spannend bleibenden) Soli das Auditorium zum kochen brachte. Nicht viel anders Adam Agati an der E-Gitarre, der in seinen Soli gerne auch mal vom klassischen Jazzgitarrenspiel unvermittelt ins Rock-Idiom wechselt, oder umgekehrt. Der exzellente Trompeter Lee Hogans wurde schon genannt. An den Keyboards der erst 22jährige Brett Williams (der bei Aufnahme von Renaissance also erst 19 war!), der den Bass übernimmt, wenn Miller Solo spielt, bei seinen Soli auf den elektrischen Keyboards ein wenig an Joe Zawinul erinnert und vor allem mit seinem modernen Klavierspiel in Erinnerung bleibt. Am Schlagzeug der versierte Louis Cato, der ein wenig im Hintergrund blieb, nicht zuletzt wegen des Gastauftritts von Mino Cinelu an den Percussions - mit ihm hatte Miller zuletzt 1982 bei der Aufnahme von Miles' Tutu zusammengespielt; er war an diesem Abend, auch schon im ersten Teil, ein wichtiger Motor für den perkussiven Teil der afrikanischen Wurzeln von Millers Musik.

    Und nicht zuletzt der Bandleader selbst, der auf musikalische Mätzchen aller Art (wie am selben Ort 2009 mit HMV) verzichtete und das machte, was er am besten kann: Bassgitarre (und Bassklarinette) spielen! Das tut er mitunter hochvirtuos, was ihm aber durchweg völlig locker von der Hand geht. Nach gut drei Stunden beendet die Band den offiziellen Teil des Konzerts mit einer Powerversion von Jekyll & Hyde, bei der Han, Agati und Miller selbst das antike Theater endgültig zum kochen bringen. Nach einer langen Zugabe mit der Band kommt Miller noch einmal alleine heraus und beendet einen großen Abend um Mitternacht mit dem Jackson Five-Hit I'll be there, ganz allein auf dem viersaitigen Instrument Basslinie, Harmonie, Melodie und Solochorusse spielend - faszinierend!


    * "I wanted to go back to the original source of the rhythms that make up our musical heritage of jazz, soul, rhythm and blues… to follow these elements like footprints from their beginnings in Africa, to different ports along the slave route." ("http://www.marcusmiller.com/blog/about-afrodeezia/)


    Der Tag war zu Ende, aber die Nacht ging erst los ...

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Dienstag, 30. Juni - Teil 2

    Im Club de minuit ging es weiter mit dem Laurent Coulondre Trio. Die Band wechselt zwischen "akustischem Sound" (mit Klavier und Kontrabass) und "elektrischem" (mit B3 und E-Bass), wobei der Wechsel auch kontinuierlich mitten im Stück vor sich gehen kann. Der Bandleader spielt dann auch mal mit der linken Hand Klavier und mit der rechten die Hammondorgel; der Bassist muß natürlich das Instrument wechseln.

    Die Stücke basieren auf - in meinen Ohren - ziemlich komplizierten Themen über komplex aufgebauten harmonischen und rhythmischen Strukturen, über die dann einzeln und kollektiv improvisiert wird. Dabei bewegt sich die Musik oft in eine Art improvisatorisches Chaos, aus dem die Musiker sehr plötzlich und abrupt, für mich als Hörer ziemlich unvermittelt, wieder in das abgefrickelte thematische Material zurückkehren. Coulondres versiertes Klavierspiel fand ich sehr interessant und abwechslungsreich, sein Orgelspiel eher langweilig und uninspiriert. Die sehr jungen Sidemen spielen auf hohem technischen Niveau: Rémi Bouyssière spielt den Kontrabaß höchst virtuos, beeindruckend der Daumenbarrée-Einsatz; den sechssaitigen E-Bass setzt er z.T. als Harmonieinstrument, wie eine Gitarre ein. Ausgesprochen virtuos auch das Schlagzeugspiel von Martin Wangermée (der aussieht, als ob er noch ein paar Jahre vor dem baccalauréat stünde).

    Eine ziemlich intellektuell bestimmte, sehr interessante, aber auch höchst anstrengende Musik! Das Trio spielte eine Woche später auch noch im Théâtre antique als Opener für Sting; wie mir berichtet wurde, hatten sie da keinen leichten Stand. Das Publikum im Club de minuit wechselte recht beständig, aber der harte Kern war durchaus begeistert.

    ***

    Als ich in Vorbereitung des Festivalbesuchs per youtube ein bißchen durch die unbekannten Namen gesurft bin, blieben mir besonders Aziz Samaouhi & University of Gnawa in Erinnerung - ich wollte diese Band unbedingt live hören und hielt deshalb bis tief in die Nacht durch.

    Das Konzert im JazzMix, dem Spiegelzelt am Rhôneufer, hatte schon begonnen, als ich dort ankam. Offenbar war alles gerade dabei, draußen ein wenig Luft zu schnappen und sich ein Kaltgetränk zu besorgen, weshalb ich fast direkt vor der kleinen Bühne zu stehen kam, wo die Band gerade ein eher ruhiges Stück beendete. Danach ging es aber zur Sache, und kurz darauf befand ich mich mitten in einer Menge tanzwütiger junger Menschen und ließ mich ebenfalls von der Musik in eine Art Tanz-Trance treiben.

    Die Gnawa sind eine ethnische Minderheit in Marokko, Nachfahren von aus Westafrika stammenden Sklaven. Ihre rituell bestimmte, rhythmusbetonte Musik hat schon vor Jahren das Interesse von Musikern aus aller Welt erregt, und es existiert seit fast 20 Jahren ein Gnawa- und Weltmusik-Festival im marokkanischen Essaouira. Dort hat auch Joe Zawinul vor Jahren Aziz Samaouhi kennengelernt, der Mitglied seines Zawinul Syndicate-Projektes war. 2011 hat Samaouhi mit Musikern aus dem Senegal die Band University of Gnawa gegründet.

    Die trance-artige Musik aus der Gnawa-Tradition ist dabei eine Quelle für die Musik, andere sind die arabische Musik sowie überkommene und moderne Formen afroamerikanischer Musik, z.B. Reaggae und Son; und natürlich die improvisatorischen Elemente des Jazz. Heraus kommt eine äußerst tanzbezogene Musik, die aber auch genügend für den Kopf zu bieten hat: sich überlagernde rhythmische Strukturen, glänzende Solo-Improvisationen, interaktives Zusammenspiel. Besonders hervorzuheben der auf der akustischen (aber elektrisch verstärkten) Gitarre unglaublich virtuos aufspielende Herve Samb und der hochinteressante Perkussionist Adhil Mirghani sowie der kubanische Gastmusiker Harold Lopez Nussa am Klavier; exzellente Begleiter sind Alioune Wade am fünfsaitigen E-Bass, Cheik Diallo am elektrischen Keyboard und Jon Grandcamp am Schlagzeug. Der Bandleader selbst bestimmt mit seinen beiden im Wechsel eingesetzten Instrumenten maßgeblich den Sound der Gruppe; zum einen die in der arabischen Welt verbreitete Mandole (eine Art großer Mandoline, aber von anderer Bauart als die hiesige Mandola), zum anderen den Ngoni, eine kleine, dreisatige Langhals-Spießlaute, so etwas wie der kleine Bruder der zuvor erwähnten Gimbra. Vor allem aber ist er ein charismatischer Sänger und Frontmann, der den Zuhörer mit seiner Musik immer wieder aufs neue wie in einen Sog zieht!

    Und die Stücke sind auch oft daraufhin aufgebaut - nach leisen und ruhigen Beginn bemerkt man den untergründigen Rhythmus, der dann von der Band, mal nach und nach, mal mit plötzlichem Kollektiveinsatz, aufgegriffen wird. Dann wir auch schon mal leicht das Tempo angezogen, irgendwann geht die Musik darüberhinaus in double time, womöglich wird der Takt nochmal halbiert, bis ein einheitliches Pochen übrigbleibt, unter dem von den Perkussions noch weitere rhythmische Einteilungen zu hören sind. Mit einem Break kommt die Band da wieder 'raus, nur um das Spiel womöglich nochmal von vorn zu beginnen!

    So gegen halb drei beendet die Band das Konzert, aber das Publikum fordert frenetisch Zugabe! Aziz Samaouhi kommt wieder heraus und kündigt an, für das nächste Stück habe man den Bassisten ausgetauscht: Marcus Miller steigt bei der University of Gnawa ein! Und als er für eine zweite Zugabe den Bass wieder an Alioune Wade zurückgegeben hat und die Bühne verlassen will, hält jener ihn fest, zieht in hinter sich, zeigt ihm, was zu spielen ist, gibt den Bass wieder ab und Miller spielt auch die letzte Nummer mit. Danach scheint auch die tanzwütige Jugend genug zu haben und läßt die Musiker von der Bühne. Erst nach drei Uhr komme ich ins Bett. Aber am nächsten Tag ist für uns ja Pause!

    In was für einen musikalischen Hexenkessel ich da geraten war, kann man - ein wenig - bei dieser Aufnahme aus dem Pariser Jazzclub "New Morning" nachvollziehen:

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    Die durchaus ausgezeichneten Platten der University of Gnawa geben das nur bedingt wieder:

     

    Bernd

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  • Mittwoch, 1. Juli

    Im freien Nachmittagsprogramm in den Scènes de Cybele sahen wir die Band Heejaz des jungen ägyptischen Oud-Spielers Mohamed Abozekry, in der neben ihm Musiker aus der französchen Szene spielen. Ein Konglomerat aus arabischen und türkischen Klängen mit dem Jazz, in das sich hie und da ein paar kleine Pop-Elemente einschleichen. Abozekry ist ein Virtuose auf seinem Instrument, man mag manchmal kaum glauben, daß diese Kurzhalslaute mit ziemlich breitem Griffbrett mit solcher Geschwindigkeit und Exaktheit überhaupt gespielt werden kann. Die Stücke sind recht breit angelegt und geben den Musikern Gelegenheit zu ausgedehnten Soli. Das klappt nicht immer so gut wie beim Bandleader, insbesondere Ludovic Yapoudijan am Klavier und Hugo Reydet am Kontrabaß bleiben etwas blaß; interessanter Benoit Baud am Sopransaxophon, dessen Soli aber etwas weitschweifig geraten. Eine Menge davon fängt die Perkussionistin Anne-Laure Bourget auf, die überwiegend zurückhaltend spielt, aber mit phantastischem Einfühlungsvermögen auf die anderen Musiker einzugehen vermag; großartig!


    Am Abend gibt es an gleicher Stelle ein als Jam-Session angekündigtes Konzert der Organistin Rhoda Scott, begleitet von Philippe Chagne, Tenorsaxophon, Nicolas Peslier, Gitarre und Thomas Derouineau, Schlagzeug. Ob das herausragende Spiel der freundlichen älteren Dame so beeindruckend ist, daß sich nur ein einziger Mitspieler für eine Nummer meldet? Der Mitspieler ist E-Bassist - Kommentar von Rhoda (sinngemäß) "C'est bon que tu joue la basse, moi, je ne peu pas jouer la basse !" Ha ha, sie dürfte mit ihrem linken Fuß so manchem Baßspieler was vormachen! Der Mann beherrscht sein Instrument aber ausreichend gut um mitzuhalten; danach meldet sich aber niemand mehr. Also bleibt es an der Band, ein paar Standards zu spielen, was sie auch in erfreulicher Weise tun. Neben Rhoda Scott vermag mir vor allem der Gitarrist zu gefallen, der einen recht individuellen Stil mit Rock-Elementen in Nummern wie Love for Sale oder Autumn leaves einbringt. Schöner Abendausklang!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Donnerstag, 2. Juli

    Seit einigen Jahren gibt es bei Jazz à Vienne die Einrichtung des Set découverte, bei dem als Newcomer eingestufte Musiker die Möglichkeit erhalten, vor dem eigentlichen Programm sich eine halbe Stunde dem Publikum im Théâtre antique zu präsentieren. An diesem Abend nutzte die Gelegenheit die junge französische, in New York etablierte Sängerin Cyrille Aimée mit ihrem Quartett aus zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug, und zwar sehr erfolgreich. Die Musik ist stark vom Manouche-Jazz bzw. dem Hot Club de France (Stichwort: Django Reinhardt) beeinflusst, lehnt sich aber auch an etablierte Pop-Musik an, allerdings ohne dabei den Swing zu verlieren. Präsentiert wird das von Cyrille Aimée mit mädchenhaftem Charme und einer ausgezeichneten Gesangstechnik - ihre Scat-Soli sind tatsächlich vom feinsten! Das Stimmtimbre ist ebenfalls recht mädchenhaft, die Stimmprojektion hingegen zu eng und deshalb etwas quäkig; da müsste doch noch was zu machen sein! Denn die Dame fetzt enorm! Beim Publikum kommt sie jedenfalls enorm gut an, und es gibt - beim Set découverte eigentlich nicht üblich - sogar eine Zugabe! Die Mitspieler (prächtige Gitarrensoli!) sind Adrien Moignard und Michael Valeanu (Gitarren), Samuel Anning (Bass) und Rajiv Jayaweera (Schlagzeug).

    Diese letzte CD ist mir in weiten Teilen zu poppig, dieselben Nummern fand ich live viel besser und jazziger!
    Diese ältere CD gefällt mir besser (vor allem der Titelsong, eine alte Bill-Withers-Nummer :juhu: :(


    Es ist ein Abend der Kontraste! Nach der launigen, Freude verbreitenden Musik von Cyrille Aimée das extrem düstere aktuelle Programm von Tigran Hamasyan.

    Der armenische Pianist (seit neuestem nur noch als "Tigran" firmierend) setzt sich auf Teilen seines letzten Albums mit den Massakern an der armenischen Bevölkerung vor 100 Jahren auseinander - und trug auch ein entsprechend (in armenisch und englisch) beschriftetes T-Shirt. Musikalisch hat sich Tigran schon auf den letzten Alben mit den musikalischen Traditionen seiner Heimat auseinandergesetzt, jetzt kombiniert er das mit Klängen, die an den progressive rock der 70er Jahre und dem experimental metal des angehenden 21. Jh. erinnern, immer wieder kontrastierend unterbrochen durch Episoden des Solo gespielten Flügels, zu dem Tigran Hamasyan auch schon mal singt - ob das armenisch ist oder einfach Vokalisen, kann ich nicht beurteilen.

    Rhythmisch gibt es da doppelt ungerade Metren; damit meine ich, dass ein ungerades Metrum (z.B. 11/4-Takt) so variiert wird, dass, der lyrischen Phrase entsprechend, im jeweils zweiten Takt noch ein Achtel, im jeweils dritten Takt drei Achtel an den Takt angehängt werden; oder auch mal weggelassen werden (oder so ähnlich, ist nur ein illustrierendes Beispiel). Ein solcher schräger groove wird im Bass vom Klavier, linke Hand, vorgegeben und vom Bassisten Sam Minaie aufgegriffen und fortgesetzt. Das Klavier legt dann ein anderes Metrum, z.B. einen geraden 4/4, darüber. Für mich absolut faszinierend, wie es dem Schlagzeuger Arthur Hnatek gelingt, in Folge beide Metren zu "bedienen", während das Klavier darüber improvisiert. Abgesehen von den sanften Solo-Einschüben des Pianisten und Sängers ergibt das eine extrem düstere und depressive, für mich jedoch auch höchst faszinierende Musik! Etwas Vergleichbares habe ich allenfalls Mitte der 90er von der damaligen King Crimson-Besetzung (dem double trio) gehört.

    Am Ende verlässte Tigran Hamasyan das Klavier und macht eine knappe Viertelstunde heftig Krach auf einem Synthesizer, Bassist und Schlagzeuger ziehen sich angesichts dieser Lärmorgie aus dem Geschehen zurück. Ein faszinierender Set, für mich aber zum Ende hin schwer erträglich. Zwei Zugaben, eine Solo vom großartigen Album "A Fable".

     


    Ein Abend der Kontraste, aber wirklich!

    Denn im dritten Set hören und sehen wir die Sängerin Melody Gardot. Melody Gardot hatte im Alter von 19 Jahren einen schweren Verkehrsunfall, bei dem kaum etwas an ihr heil geblieben ist. Sie fand über Musiktherapie ins Leben zurück, lernte noch ans Krankenbett gefesselt - im Liegen - Gitarre spielen und veröffentlichte, gewissermaßen als Teil der Therapie - eine erste EP. Auf ihren beiden ersten "richtigen" Alben singt und spielt sie eine Art Nostalgie-Jazz, nichtsdestoweniger handelt es sich dabei überwiegend um Originalkompositionen von ihr selbst. Danach geht es mit The Absence ein wenig in Richtung world music und auf dem neuesten Album nähert sie sich der aktuellen Popmusik an.

    Im Konzert gab es ein wenig von Allem - dabei überzeugt mich von den neuen Sachen eher nur, daß da ausgezeichnete Musiker spielen und elektronische Mätzchen komplett unterbleiben: auch das ist alles handmade. Es gibt eine, zumindest in weiten Teilen, gut einstudierte Show - aber die junge Dame scheint nicht so genau zu wissen: soll sie sich als verführerischen Vamp präsentieren? Oder als coole Bandleaderin? Oder als nette junge Frau, die voll Freude dem Publikum verkündet, daß sie ja jetzt endlich ohne Gehhilfe (und in High Heels!) auf die Bühne kommen kann?

    So, ein wenig unentschlossen auch die musikalische Präsentation. Von den neuen Sachen fand ich den Opener (She Don't Know) durchaus gelungen, anderes eher langweilig oder abstoßend. Mich hat sie allerdings mit zwei solo dargebotenen Nummern aus ihrem Album My One and Only Thrill überzeugt: waren Baby, I'm a Fool und Our Love is Easy dort ausgesprochen gelungen gemachte Nostalgia (Arrangements: Vince Mendoza), singt sie sie jetzt live so, als hätten inzwischen zwei Generationen anderer Sängerinnen diese Titel zu Standards gemacht! Zum Niederknieen! (Die Gitarre dazu spielt sie übrigens zwar nicht virtuos, aber mit Können und dem gewissen Etwas - die kann das! :love: )

    Bandbesetzung: drei Bläser (sax, trp, trb; der Saxophonist spielt auch schon mal zwei Saxophone gleichzeitig), g, b, kb, dr; alles exzellente Musiker, leider keine Namen im Programm! Sie selbst spielt (gut) Gitarre und (akzeptabel) Klavier.

         

    Unser vor Ort lebender Freund begegnete Melody Gardot zufällig am folgenden Tag am Lyoner Flughafen und hatte ein kurzes Gespräch mit ihr - nette junge, völlig unprätentiöse junge Frau und Musikerin, die sich freut, auf ein gelungenes Konzert angesprochen zu werden, scheint die richtige Rolle für sie zu sein.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Freitag, 3. Juli

    Den Abend eröffnete der französische Bassist Stéphane Kerecki mit seinem Band-Projekt Nouvelle Vague. Die Band benutzt als Ausgangsmaterial die Musik aus Filmen dieser Stilrichtung, wo seinerzeit Jazzer wie Miles Davis und Art Blakey ihre Musik zu den Bildern improvisiert hatten. Jetzt evoziert die Musik die Bilder der Filme, was sogar bei einem Kinomuffel wie mir gelingt ("Tirez sur le pianiste" von Georges Delerue habe ich erkannt, ohne den Film je gesehen zu haben). Kristallisationspunkt für die düster-melancholische Stimmung der Musik ist John Taylor mit seinem harmonisch ambivalenten und der Improvisation immer neue Türen öffnenden Klavierspiel. Das nutzt vor allem Emile Parisien am Sopransaxophon, der bei zurückhaltendem Spiel lange Bögen für Melodien findet. Der Bandleader hält sich, bis auf ein sehr leises, düsteres unbegleitetes Solo ziemlich zurück. Fabrice Moreau am Schlagzeug ist ein solider Begleiter. Wie sagte Jean-Luc Godard einst: "on peut entendre les images et voir la musique". Zum Schluß eine wunderschöne melanchlische Version von "La chanson d'Hélène" (aus dem Film "Les choses de la vie").

    Zwei Wochen später erlitt der wunderbare Pianist John Taylor bei einem Auftritt mit derselben Band beim Saveurs Jazz Festival in Segré einen Herzinfarkt und starb kurz darauf in einem Krankenhaus in Angers.

     


    Als nächstes betreten zwei ältere Herren die Bühne, die sich schon längst mal wieder bei einem Glas Wein treffen und ihre alten Lieder spielen wollten. So ungefähr spielt sich das ab, auch wenn Caetano Veloso und Gilberto Gil 7.000 Zuschauer dabei haben. Gil habe ich hier vor 6 Jahren schon gehört (mit Band) und war von der uninspirierten 08/15-Popmusik mit leicht brasilianischem Touch ziemlich enttäuscht. Das war heute sehr anders! Neue musikalische Welten waren hier nicht zu erwarten, aber die beiden spielten, zum Teil gemeinsam, zum Teil jeweils solo, Musik aus zwei seit rund 50 Jahren andauernden Künstlerkarrieren; und sie hatten Spaß daran und machten dem Publikum, vor allem der großen brasilianischen Kolonie im Theater, auch Spaß. Beide sind gute Gitarristen (Gil ist ein ziemlich guter!) und immer noch solide Sänger, vor allem Caetano, der mit seinen 70 Jahren immer noch wie ein großer Junge aussieht; Gilbertos Stimme wird gelegentlich ein wenig brüchig, ist aber immer noch ausdrucksstark. Höhepunkte ein brilliantes Gitarrensolo von Gilberto und Caetanos von der brasilianischen Gemeinde im Rund komplett mitgesungener Hit Desde que o sambe è samba. Endgültig flippen die Brasilianer aus, als Caetano zu Gils Rhythmen anfängt das Tanzbein zu schwingen und dabei aussieht wie in der ersten Tanzstunde. Schönes Konzert!

    Eine Woche später, in Mailand:

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    Chucho Valdes hatte mich an gleicher Stelle vor zwei Jahren mit endlosen, gleichförmigen und wenig interessanten Pianosoli genervt - nichts davon in diesem Jahr! Mit annähernd derselben Band erinnerte er an die Musik seiner 70er-Jahre-Band Irakere und entfesselte ein afro-kubanisches Musikfeuerwerk erster Klasse! Tolle knackige, auf den Punkt gespielte Bläsersätze (2 trp, as, ts), prächtige Bläsersoli (vor allem von Rafael Águila am Alt), komplexe und trotzdem in die Beine gehende Rhythmen und ein Bandleader, der das alles dirigierte und gelegentlich ein gelungenes (kurzes!) Klaviersolo beisteuerte. Im Mittelpunkt der Show Sänger und Perkussionist Dreiser Duruthy Bombalé, der wie ein Irrwisch über die Bühne geisterte, zwischendurch mal einen Voodoo-Zauber mit einem roten Taschentuch abzog, auch mal ins Publikum abtauchte, dann wieder an seinen Batás-Trommeln auftauchte und die aberwitzigsten Rhythmen klopfte. Tolle Show, klasse Musik und ein begeisteres Publikum, das sich vier Zugaben erklatschte. Am Ende zog die Band singend und spielend von der Bühne, als hätten sie noch gar keine Lust aufzuhören.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Samstag, 4. Juli

    Am Nachmittag besuche ich ein Konzert der jungen Harfenistin und Sängerin Laura Perrudin im Gallo-Romanischen Museum in St.-Romain-en-Gal auf der andern Rhôneseite. Sie begleitet sich zu eigenen Vertonungen von französischer, englischer und bretonischer Lyrik auf einer chromatischen keltischen Harfe - kein Widerspruch, sie hat sich das Instrument eigens bauen lassen. Keltische Harfe, das bedeutet: keine Pedale! Infolgedessen ist das Spiel dieses Instruments (vermutlich) ziemlich kompliziert, und die Virtuosität der jungen Musikerin mit der elfenhaften Stimme ist verblüffend. Improvisation spielt bei den Eigenkompositionen nur eine geringe Rolle, zumal sie bei diesem Auftritt auf Elektronik verzichtet (auf der Platte, z.T. mit Band, ist das anders). Immerhin, sie traut sich eine Version von Billy Strayhorns "Lush Life" zu, und die gelingt ihr unerwarteterweise ganz vorzüglich!


    Am Abend spielt im Théâtre antique zunächst das Orchestra Baobab, eine Formation aus dem Senegal, die ein wenig brauchen, um warm zu werden, dann aber einen mitreißenden und keineswegs langweiligen Afro-Pop-Jazz spielen und das heute abend tanzwütige Publikum bei Laune halten.

    Im zweiten Teil machen dann Salif Keita und Cheick Tidiane Seick mit Les Ambassadeurs von Anfang an einen solchen Höllenlärm bei unsagbar schlechtem Sound und todlangweiliger Musik, daß wir das Theater während der dritten Nummer fluchtartig verlassen.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Sonntag, 5. Juli

    Heute gönnen wir uns einen Tag Pause von der großen Bühne und besuchen einige der "kleinen" Konzerte im freien Programm. Sehr nett die Mischung aus Rebetiko, Jazz und ein bißchen Punk, die das griechische Trio Tekke mit dem Gastschlagzeuger Dave de Rose macht.

    Am Abend beeindrucket uns das Quartett Mood, die einen modernisierten Manouche-Jazz spielen und deren Sologitarristen Aymeric Jeannin (halbakustische E-Gitarre) und Alexandre Arnaud (Selmer #704 oder was ähnliches, die klassische Django-Reinhard-Gitarre) aufzeigen, wie Django hätte spielen können, wenn er nicht zwei Finger verloren hätte - unglaublich! Da Jeannin auch versteht, mit seinem Publikum zu kommunizieren (sowohl zwischen als auch während den Stücken), macht der Auftritt der vier richtig Spaß!

    Eine CD der Band gibt es leider bisher nicht, aber Mitschnitte im Netz: "http://www.moodlegroupe.com/#!videos/c24vq


    Zum Schluß gibt's noch einen Rückgriff auf die Wurzeln des Jazz, der ja in den Tanzlokalen des amerikanischen Südens entstand. Djoukil & les Gon'a Swing begleiten eine gut aufgelegte Lyoner Tanzgruppe zu ein paar tollen Lindyhop-Choreographien - und man kann auch mitmachen und sich die basics dieses klassischen Jazztanzes beibringen lassen.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Montag, 6. Juli

    Ich hab' ein bißchen lange gebraucht für den diesjährigen Bericht aus Vienne ;+) !

    Ein paar Worte aber noch kurz zum letzten Abend unseres Aufenthalts:

    Zu Beginn des French-Touch-Abends spielte der junge französische Pianist Thomas Enhco solo aus seinem Album Feathers. Beeindruckendes Spiel, ein bißchen zwischen allen Stühlen - oder auch aus viele Quellen schöpfend. Kann man eklektizistisch nennen, ich wollte das aber nicht negativ verstehen. Enhco ist deutlich von klassischer Schulung geprägt und erweist einem der großen Meister seine Reverenz. Das folgende Stück handele davon, wie Robert Schumann einst in die Karibik reiste und ein oder mehrere Rum-Cocktails über den Durst getrunken hatte. Wonach eine Jazz-Improvisation über (u.a.) Schumanns Arabeske op. 18 folgte - sehr witzig und gar nicht bemüht crossover-mäßig. Auf der CD als hidden track zu hören (dort aber nicht gar so besoffen wie in Vienne).


    Für den folgenden Set hatte Laurent Cugny, einst Jahre Assistent von Gil Evans in dessen ketzten Jahren, eine Big Band aus jungen französischen Musikern zusammengestellt, die Arrangements im Stile des Altmeisters, aber auch einige seiner Original-Arrangements brachte, was ganz ausgezeichnet gelang! Unter den durchweg hervorragenden Solisten des Gil Evans Paris Workshop ragte Jean Philippe Scali am Baritonsaxophon heraus.

    Offizieller Mitschnitte aus Vienne unter "http://www.gilevansparisworkshop.com/#!musique/c23t0
    (Oder direkt via "

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    ")


    Den letzten Set des Abends bestritten der Gitarrist Philip Catherine, der Akkordeonist Richard Galliano und der Geiger Didier Lockwood im Trio. Was kann ich aus der Erinnerung nach fast einem halben Jahr noch dazu sagen? Drei fantastische Musiker, denen ihre Virtuosität nicht mehr bedeutet als die Grundlage für das vielleicht intensivste Jazz-Zusammenspiel, das ich je von ein paar Musikern gehört habe (nur Lockwood konnte einmal einem Virtuoso-Ausflug nicht widerstehen; es war aber fast, als mache er sich selbst darüber lustig).

    Keine Worte mehr - der krönende Abschluß eines wunderbaren Abends und überhaupt unseres diesjährigen Festival-Besuches!

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • :wink:

    Wieder vielen Dank für deine Berichte! Toll, dass gerade das letzte Konzert so richtig gut war. Zwei der drei Herren habe ich auch schon in voller Spielfreude im Konzert erlebt, ist aber schon lange her. Kleiner Tipp zu Allen Toussaint, der leider diese Woche verstorben ist. Versuche mal seine Scheibe "The Bright Mississippi" ("https://en.wikipedia.org/wiki/The_Bright_Mississippi"), die b-major hier auch zuletzt in der Jazzecke in memoriam eingestellt hat. Ganz grandioser New Olreans Jazz mit einer Traumbesetzung.

    Gruß, Frank

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

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