Lloyd Webbers Gesamtwerk

  • Also ich habe von Webber mindestens Cats und das Phantom auf CD. Die Musik gefällt mir und zumindest beim Phantom hab ich Berührungspunkte mit dem Geschmack meiner Tochter :D


    Das sollte die Alarmglocken auslösen! ;+)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Ich war schon immer ein Fan von Jesus Christ Superstar, insbesondere wegen Ian Gillan mit seiner damals noch unverbrauchten Stimme.

    Dieses Werk würde ich, wie viele anderen auch, eher als Rock-Oper denn als Musical bezeichnen.
    Stilistisch weicht es jedenfalls nicht sonderlich von einer Ansammlung von Rock/Popsongs ab.

    Nichtsdestotrotz ist dort fast jeder zweite Song hitverdächtig.

    Diese Dichte hat ALW in seinen späteren Werken nicht mehr erreicht.
    Auch stilistisch erreichte er mich später nicht mehr, aber das ist sehr subjektiv.

    Davon losgelöst und nüchtern betrachtet erschien er mir über 3 Jahrzehnte als der beherrschende Musicalkomponist.
    Klar mögen My Fair Lady und Westside Story besser sein, stammen beide aber aus den 50er Jahren.
    Ausserdem hat es ALW gut verstanden seine Werke zu vermarkten. Er hat die halbe Welt mit exklusiven Spielstätten für seine Musicals überzogen.
    Daneben wirkt sogar ein Richard Wagner blass.

  • Vielleicht das Musical als Bombast-Show in eigener Spielstätte. Musicals wie My fair lady, West Side Story oder Fiddler on the roof waren schon in den 1960ern sehr populär in Deutschland, als sich noch kaum ein Mensch leisten konnte, mal übers Wochenende nach Hamburg zu Cats zu fahren.

    Schade bis tragisch ist halt, dass der so dominierende Erfolg von Webbers Stil, als Formel von seinen Epigonen fortgeführt, zusammen mit dem von ihm forcierten Trend vom Musical als stromlinienförmigem Franchise-Event-Produkt in der allgemeinen Wahrnehmung zumindest im deutschsprachigen Raum alle andere Möglichkeiten populären Musiktheaters überfahren zu haben scheint.


    Ist Lloyd Webber eigentlich der Erfinder dieses Konzeptes vom Musical als Großereignis in eigener Spielstätte, zu der man extra anreisen muss? Seine Musik ist ja nun nicht sooo schwierig, dass nicht auch ein örtliches Stadttheater ggf. eine Aufführung von "Cats" hinbekäme (es ist nicht gerade "Moses und Aron"), so dass es doch vor allem wirtschftliche Gründe haben dürfte, dass seine Stücke als Mega-Event im Extra-Bau abgefeiert werden.

    In der Tat scheint mir dieses Konzept einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Musicals zu markieren, weg von Schätzen wie der "West Side Story" oder "My Fair Lady", hin zu Zeugs wie "König der Löwen" oder "Tanz der Vampire".

    Ist Lloyd Webber insofern - trotz seiner großen Erfolge - vielleicht sogar der Totengräber der bis dato gepflegten Musical-Kultur?

    Ich bin kein Musical-Experte, es handelt sich also um eine ernst gemeinte Frage an die Kenner des Genres.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ist Lloyd Webber eigentlich der Erfinder dieses Konzeptes vom Musical als Großereignis in eigener Spielstätte, zu der man extra anreisen muss?


    Nee, das war Wagner.
    Seine Musicals sind nur keine Ansammlung von Songs.

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Ich habe keine Ahnung von der Historie. Von den Musical Comedies des Broadway der 1920er-40er konnten sich auch längst nicht alle in Europa etablieren. Warum sich gerade in Deutschland (außer Wagner) zuerst Webber-Musicals als Reiseziele etablieren konnten, keine Ahnung. Ich dachte früher, dass sowohl der extreme Licht/Sound/Show-Aufwand als auch die speziellen Anforderungen (Tanz+Gesang) bei den Musicals wie Cats oder Starlight Express ein Grund für die besonderen Spielstätten wären. Das träfe aber sicher auch auf etliche andere (auch ältere) Musicals zu, zB West Side Story. Meiner Erinnerung fing das jedenfalls mit "Cats" an; Evita, Jesus Christ usw. waren zwar auch populär, aber keine Wochenendreiseziele in eigener Spielstätte. (Ich bin aber auch zu jung, um diese Entwicklung Anfang der 1980er mitgekriegt zu haben)
    Im UK heißen die anscheinend "Westend Shows" (weil dort in London die Theater sind); eines der langlaufenden ist allerdings nicht von Lord Webber: "Les Miserables".

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)


  • Nee, das war Wagner.
    Seine Musicals sind nur keine Ansammlung von Songs.


    Point taken... :D

    Allerdings liegen zwischen Wagner und ALW nicht nur musikalisch ein paar Galaxien, auch die Prinzipien der Stilisierung zum "Event" sind m. E. nicht vergleichbar.

    Wagner hat in Bayreuth (übrigens erst einige Jahre vor seinem Lebensende) gewissermaßen Idealaufführungen der eigenen Werke angestrebt, sie allerdings damit nicht aus der Sphäre des herkömmlichen Theaterbetriebs gelöst. Eine wichtige Ausnahme hierbei ist natürlich der exklusiv für Bayreuth gedachte "Parsifal", allerdings war der nach damaligem Recht bereits ab 1913 auch außerhalb Bayreuths aufführbar, und z. B. in den USA griff das "Nur in Bayreuth"-Gebot rechtlich überhaupt nicht. Wagner hat also den herkömmlichen Theaterbetrieb durch Bayreuth nicht bzw. kaum ausgebremst oder substituiert, sondern lediglich um ein neues Aufführungsprinzip ("Festspiele") ergänzt. Man konnte im Sommer in Bayreuth die "Walküre" sehen, aber auch irgendwann im Winter im Stadttheater Hintertupfingen.

    ALW hingegen läßt in Deutschland das "Phantom der Oper" m. W. nur in der Neuen Flora in Hamburg spielen, oder irre ich mich diesbezüglich? Früher gab es auch "Cats" nur exklusiv am Hamburger Spielbudenplatz und "Starlight Express" in Bochum. Wohlgemerkt war das anders als bei Wagner keine erst im Alter aufkommende Methode des Komponisten - als "Cats" in Hamburg anlief war ALW noch keine 40 Jahre alt.

    Die besagten ALW-Produktionen werden dann mit jeweils eigenem Logo umfangreich vermarktet, und man kooperiert mit Reiseveranstaltern, die Städtereisen inklusive der Musical-Tickets anbieten.

    Während Wagner das Geld für Bayreuth (dessen Festival zu seinen Lebzeiten lediglich zweimal stattfand) mühsam zusammenkratzen mußte, scheint mir hinter dem beschriebenen System von ALW eine erhebliche wirtschaftliche Wucht zu stehen. Sein Privatvermögen wird laut wikipedia auf ca. 750 Millionen GBP geschätzt.

    Während Wagner mit Bayreuth dann doch irgendwie ein Beinahe-Unikat geblieben ist, hat das "System ALW" kräftig Schule gemacht. Beinahe jedes neue Musical mit "mass appeal" wird heutzutage auf diese Weise auf den Markt gebracht - die landen z. B. erst in den üblichen Musical-Theatern in London und dann in Deutschland z. T. im Neubau auf der grünen Wiese. Wann hast Du mal die Premiere eines Musicals neueren Entstehungsdatums im örtlichen Stadttheater erlebt? Wir haben jetzt demnächst eine, aber das ist wohl eher die Ausnahme von der Regel.

    LG :wink:

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  • Meiner Erinnerung fing das jedenfalls mit "Cats" an; Evita, Jesus Christ usw. waren zwar auch populär, aber keine Wochenendreiseziele in eigener Spielstätte.


    Meine ich auch. Wikipedia nennt als Premierenjahr für die Hamburger "Cats"-Produktion 1986, und das Stück hatte 1981 in einem Theater in London Weltpremiere, in welchem es dann über 20 Jahre gespielt wurde.

    LG :wink:

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  • Die Geschichte des Musicals ist in Kürze so erzählt: In den Staaten war die "Mistrel Show", der Ausgangspunkt. Dazu kamen Einflüsse der Opera Buffa und natürlich der Operette. Dieses "Gemisch" wurde erstmals 1866, also kurz nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges mit dem Werk "The Black Crook" , was man wohl mit "Der Schwarze Gauner" übersetzen könnte, begonnen. Dieses Werk war zunächst ein Melodram, aber man integrierte dann ein Ballett dazu.

    Nach wiederum langer Zeit des Stillstandes, war dann die Zeit des Ersten Weltkrieges von Bedeutung, als die Theater am Broadway begannen, die Musik aller Stile zu verwenden, insbesondere die Hinzuziehung des Jazz war von elementarer Bedeutung: Jazz, Mistrel Shows, französische Revuen, Burlesque SHows, Vaudeville, Operette usw. bereicherten diese neue Form der Unterhaltungsmusik von nun an.

    Die beiden ersten großen Musicals waren Gershwins "Oh Lady Be Good" (dieses Stück gilt als eines der großen Standards im Jazz überhaupt) und Jerome Kerns "Show Boat", 1924 und 1927 geschrieben,bzw. uraufgeführt. Cole Porter und George Gershwin waren dann auch lange Zeit DIE Musical-Komponisten schlechthin. Später dann traten Richard Rodgers, Jule Styne und eben Leonard Bernstein (On the Town, West Side Story, Troubel to Tahiti) hervor. Der Texter Oscar Hammerstein wurde dadurch berühmt, um einen weiteren Namen zu nennen, der eng mit dem Musical verbunden war.

    Der Tonfilm hatte dann ebenfalls einen großen Einfluss, dazu die Filmindustrie um die legendäre MGM, deren Produktionen einmalig waren. Etwa "Ein Amerikaner in Paris" von 1951, oder dann auch Walt Disneys Produktionen ("Schneewittchen und die Sieben Zwerge von 1937). Weitere Klassiker waren "The Wizzard of Oz, 1939), "Singin' in the Rain" von 1952, "Doctor Doolittle" von 1967, oder "Mary Poppins" von 1964.

    Das ist mal die Kurzform der Historie des Musicals und ihre Ausläufer...

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Ist Lloyd Webber eigentlich der Erfinder dieses Konzeptes vom Musical als Großereignis in eigener Spielstätte, zu der man extra anreisen muss? Seine Musik ist ja nun nicht sooo schwierig, dass nicht auch ein örtliches Stadttheater ggf. eine Aufführung von "Cats" hinbekäme (es ist nicht gerade "Moses und Aron"), so dass es doch vor allem wirtschftliche Gründe haben dürfte, dass seine Stücke als Mega-Event im Extra-Bau abgefeiert werden.

    Andrew Lloyd Webbers Firma hat in den 1980ern angefangen, im großen Stil Musiktheater in London aufzukaufen, und die dann mit eigenem und fremden Repertoire bespielt. Spielstätten für Musicals neu zu bauen war glaube ich eher ein kontinentaleuropäisches Phänomen, durch andere Firmen betrieben, aber durchaus resultierend auf den Bedingungen, die ALWs Musicals erforderten, nur etwas später z.B. auch die von Claude-Michel Schönberg (Miss Saigon mit der notorischen Hubschrauberlandung).

    Um Lloyd Webbers Intentionen mal eine positive Seite abzugewinnen möchte ich anmerken, dass das »örtliche Stadttheater« seinerzeit eine Aufführung von Cats wohl schon irgendwie hinbekommen hätte (vom Orchester her noch am ehesten), aber kaum mit dem sänger-, tänzer- und darstellerischen Niveau, das dem Anspruch gerecht geworden wäre; die Ausbildung in dieser Richtung hatte in Europa gerade erst ein akzeptables Level erreicht. (Und, ja, auch die derzeit durchaus gute Ausbildung schafft leider nicht automatisch die Darstellerpersönlichkeiten, die ein forderndes Werk erst wirklich tragen und attraktiv machen.)

    Über die handwerkliche »Qualitätskontrolle« hinaus ging es aber auch bestimmt darum, die Kontrolle über das »Gesamtprodukt« in allen seinen Facetten zu behalten, das überall in der Welt gleich aussehen sollte; lokale Sonderlocken und Regiemätzchen waren nicht gefragt. Wirklich Franchising wie bei McDonald’s, und ich meine das gar nicht unbedingt nur gehässig.

    Und dann wurden diese Produktionen halt auch immer aufwendiger und schließlich so teuer, dass sie ihre Investition erst nach Monaten oder gar Jahren wieder einspielen konnten, en suite, acht Vorstellungen die Woche. Das war am frei finanzierten Broadway oder im West End schon immer der Standard, aber im deutschsprachigen Raum gabs entsprechende Theater vielfach noch nicht.

    In der Tat scheint mir dieses Konzept einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Musicals zu markieren, weg von Schätzen wie der "West Side Story" oder "My Fair Lady", hin zu Zeugs wie "König der Löwen" oder "Tanz der Vampire".

    ... kurz sei eingefügt, dass es zwischen den Ären von West Side Story und My Fair Lady einerseits und Andrew Lloyd Webber andererseits ja schon noch das eine oder andere höchst interessante und komplexe Werk gab (auch wenn Deutschland dies verschlafen haben mag) ...

    Ist Lloyd Webber insofern - trotz seiner großen Erfolge - vielleicht sogar der Totengräber der bis dato gepflegten Musical-Kultur?

    Von »tot« möchte ich nicht sprechen, aber die Geister, die ALW rief, suchten ihn auf jeden Fall auch wieder heim. Sein Sunset Boulevard z.B. war ja, nach Anlaufschwierigkeiten, insbesondere in der Fassung von Los Angeles mit Glenn Close sehr erfolgreich, und mit anderer Truppe jahrelang auf Tour – und spielte unterm Strich trotzdem einen zweistelligen Millionenverlust ein, weil die Kosten einfach nicht mehr in den Griff zu bekommen waren.

    Ich bin kein Musical-Experte, es handelt sich also um eine ernst gemeinte Frage an die Kenner des Genres.

    Ich bin auch kein Kenner des Genres (nur Liebhaber von Sondheim und ein paar anderen), und wahrscheinlich ist auch die deutschsprachige Musicalszene in Wahrheit vielfältiger als sie sich mir darstellt.

    Im UK heißen die anscheinend "Westend Shows" (weil dort in London die Theater sind); eines der langlaufenden ist allerdings nicht von Lord Webber: "Les Miserables".

    Unter »West End shows« würde ich einfach alles verstehen, was gerade im West End läuft, z.B. auch Sprechtheater. »Musical Theatre« (hier mit »re«), »Musicals« erscheinen mir auch im Vereinigten Königreich als die durchaus gebräuchlichen Begriffe.

    Allerdings liegen zwischen Wagner und ALW nicht nur musikalisch ein paar Galaxien, auch die Prinzipien der Stilisierung zum "Event" sind m. E. nicht vergleichbar. Wagner hat in Bayreuth (übrigens erst einige Jahre vor seinem Lebensende) gewissermaßen Idealaufführungen der eigenen Werke angestrebt, sie allerdings damit nicht aus der Sphäre des herkömmlichen Theaterbetriebs gelöst.

    Parallelen zur »Event«-Idee sehe ich eigentlich schon. Neben dem Parsifal im Festspielhaus war ja – schon viel früher – der Ring in seiner Gesamtaufführung ursprünglich geplant gewesen als aufzuführen in einer temporär zusammengezimmerten Spielstätte, die anschließend wieder abgebaut werden sollte. Die Karten sollten kostenlos oder für jedermann erschwinglich bleiben. Hat natürlich aus Finanzierungs- und anderen Gründen letztlich so nicht funktioniert, aber die Idee bleibt.

  • Ist Lloyd Webber insofern - trotz seiner großen Erfolge - vielleicht sogar der Totengräber der bis dato gepflegten Musical-Kultur?

    Entschuldige, von Deiner eigentlichen Frage bin ich wahrscheinlich sehr weit abgeschweift. Meiner Einschätzung nach hat ALW im deutschsprachigen Raum sicherlich stark dazu beigetragen, das Musical zu einem großmassentauglichen Event hin zu verändern.

    Man kann sich allerdings fragen, ob dabei viel kaputt zu machen war. In den 1980ern gelegentlich mal My Fair Lady aufzuwärmen (so witzig das im Einzelfall sein kann) ist für mich keine »Musical-Kultur«. Pop/Rock-Musicals wie Hair wurden von fahrenden Truppen recht bis schlecht bedient. Und das, was ich als das jeweils auf der Höhe der Zeit perfekt ausgefeilte, dennoch spannende musical theater empfinde, war – vielfach auch mangels Darstellern die das bringen (ein Henne/Ei-Problem) – Nische bis ungespielt.

    Also, warum nicht? Bringt Jobs, und wer’s mag, amüsiert sich. Viel Neues entsteht so allerdings auch nicht.

  • Also, warum nicht? Bringt Jobs, und wer’s mag, amüsiert sich.


    Na klar, ein jeder so, wie er/sie es mag. Von mir aus können die ALW-Musicals und die epigonalen Produktionen Anderer wie z. B. "König der Löwen" etc. 20 Jahre lang ausverkauft gespielt werden - ich muss sie ja nicht besuchen.

    Ärgerlich daran ist lediglich die Monokultur, die daraus resultiert. Wo gibt es denn Musiktheater, das eher der leichten Muse zuzurechnen ist, neue Stücke bringt, musikalisch vielfältig ist, und das nicht im Protzbau auf der grünen Wiese in x km Entfernung stattfindet? Irgendwie scheint das Event-Musical alles zu überdecken. Wenn die Stücke wenigstens gut wären, aber bei Elton Johns "König der Löwen"-Nummern graust es mich - mir steigt geradezu unappetitliches Zeugs die Kehle hoch, wenn Kitsch wie "Can you feel the love tonight" kommt. Dagegen klingt "Memory" aus "Cats" ja wie "Stairway to heaven"... :D

    Es stimmt sicherlich, dass Deutschland vor dem Event-Musical im ALW-Stil nicht gerade eine brummende Musical-Szene hatte. Jetzt hat es eine solche, aber die spielt nur McDonald's für die Ohren. Irgendwie schade...

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich weiß nicht, ob die großen Musicaltempel eine Ursache oder eine Wirkung sind. Aber sie sind jedenfalls mindestens eine Begleiterscheinung der weit stärkeren Differenzierung oder gar Segregation von "leichter" und "ernster" Muse in den letzten Jahrzehnten. Für die Generation meine Eltern gehörten in den 1960ern und frühen 70ern My Fair Lady, Fledermaus, Freischütz und Zauberflöte ggf. buchstäblich zum gleichen Abonnement. Das ist seit den Musicaltempeln allein organisatorisch nicht mehr der Fall. Die "traditionelle" leichte Muse der Operette und Spieloper hat seither deutlich an Boden verloren; wie es mit dem älteren Musical bis in die 1960er aussieht, weiß ich nicht. Bei den Musicaltempeln dominiert zunehmend spektakuläre Show und Parasitieren von schon bekannten Filmen usw. Die Kulturen der Opernbesucher und Musicalpilger scheinen mir inzwischen relativ getrennt zu sein.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Ein wenig Senf von meiner Seite:

    In den Staaten war die "Mistrel Show", der Ausgangspunkt. Dazu kamen Einflüsse der Opera Buffa und natürlich der Operette.

    Ich erlaube mir, dich zu korrigieren: Minstrel Show.

    Der Tonfilm hatte dann ebenfalls einen großen Einfluss, dazu die Filmindustrie um die legendäre MGM, deren Produktionen einmalig waren.

    Ergänzung:
    Grundsätzlich richtig - allerdings gab es im Augenblick der Einführung des Tonfilms in Hollywood (ab 1927) einen ersten Musical-Boom im Film. Vor allem gab es tonnenweise Kurzfilme (10-20 Minuten Länge) mit Auftritten von Künstlern aus dem Vaudeville und vom Broadway, die damals mit Beginn des Vitaphone-Verfahrens ihre Stücke sangen. Als Langfilm ist natürlich The Jazz Singer zu nennen, der wie eine Bombe einschlug und den Tonfilm so richtig puschte.

    Diese frühe Phase präsentierte die damalige Praxis, wie sie auf amerikanischen Bühnen überall zu sehen waren: die Art der Lieder, die Art der Sketche, die Art der Gesangspraxis, die Garderobe usw. Heute darf man durchaus behaupten, daß die erhaltenen Kurzfilme eine Dokumentation einer verlorengegangenen Tradition darstellen.

    Typisch Hollywood war auch damals, den Trend hinterherzurennen, was u.a. zu großem technischen Aufwand führte: das Tonequipment war sauteuer, und einige der frühen Musicalfilme wurden sogar in Technicolor gedreht. Im Jahr 1929 startete das Musical als Langfilm so richtig durch, und 1930 sind sogar über 100 Filme in diesem Genre entstanden. Ab 1932 ebbte die Welle aber wieder ab, da das Publikum einfach gesättigt war.

    Danach lief es in beschaulichen Bahnen ab: es gab pro Jahr einen gleichbleibenden Ausstoß an Musicalproduktionen, der bis in die 1960er Jahre anhielt. Fast jedes Studio hatte eine eigene Musical-Abteilung (Komponisten/Texter, Autoren, Darsteller), die regelmäßig neue Filme produzierten. In den 1960er Jahren dünnte sich das aber aus, und nach Cabaret (1972) brach das endgültig ab; Musicalfilme sind seitdem nur noch als einzelne Produktionen anzusehen. Der Geschmack des Publikums und die Arbeitsweise in den Filmstudios hatte sich verändert.

    That's Entertainment (1976) - diese filmische Anthologie großer Musicalmomente - war bereits die Präsentation eines Genres, welches filmisch unbedeutend geworden war.


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Zu Geschichte und Bedeutung des Musicals in seiner Vielfalt kann ich (neben den offensichtlichen Quellen) die sachkundigen und mit viel Herzblut verfassten Einführungen unseres verstorbenen Rideamus nur empfehlen (u.a. hier).

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