musik oder kakophonie ?? - Ist moderne klassische Musik ein Evolutionsfehler?
ich habe mir dein "Geburtstagsstück" eben neugierig angehört und beim Hören die Noten verfolgt. Mir hat das Stück ziemlich gut gefallen, ich bin vor allem beeindruckt, wie "echt" du die Musik des 18. Jahrhunderts nachahmen kannst - da finden sich Passagen, bei denen man sofort hört "typisch (Vor-)Klassik". Toll! Meiner Meinung nach krankt das Stück aber dadurch auch gerade an einer gewissen Formel- oder Floskelhaftigkeit, die für viele frühklassische Musik typisch ist, unseren durch die Romantik geprägten Hörerwartungen aber zuwiderläuft. Aber für veränderte Hörerwartungen kannst du ja nichts...
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Für mich klang es aber vor allem im schnellen Hauptteil schon arg nach einer Stilkopie. Die Verwendung bestimmter Floskeln, das häufige Sequenzieren kleinteiliger Motive, bestimmte Harmoniefolgen sind einfach zu typisch für eine bestimmte Art von Musik. "Mannheimer Schule" wäre da vermutlich meine erste Assoziation - und ich finde es erstaunlich, wie echt deine "Mannheimer Walzen" klingen. Eile höre ich dem aber nicht an, ich hatte an keiner Stelle das Gefühl von Nachlässigkeit, diese Formeln wirken eher als charakteristischer Bestandteil des imitierten Musikstils. Das du ein direktes Nachahmen nicht anstrebst, das allerdings habe ich, offen gestanden, nicht gehört.
So intensiv, wie du dich sichtlich mit den "alten Meistern" auseinandergesetzt hast, wirst du aber allemal das Handwerkszeug haben, dir auch einen eigenen Stil zu entwickeln.
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Ich bin mir nicht sicher, ob du mich richtig verstanden hast: Ich wollte dich nicht animieren, Musik im Stile der Romantik zu schreiben, es ging mir darum, auf veränderte Hörgewohnheiten durch die Romantik hinzuweisen. Die romantischen Komponisten und Ästheten vertreten eine Musik, die häufig den individuellen Gefühlsausdruck in den Mittelpunkt stellt, von einem Musikstück Individualität und Orginalität erwartet, die Verwendung von Floskeln dementsprechend als oberflächlich abgelehnt. Nun schreibst du hier eine unverschämt gute Stilkopie vorromantischer Musik, die ganz viel von dem, was wir seit zweihundert Jahren von Musik erwarten, eben nicht erfüllt, die nicht individuell und originär ist, aus der einen kein subjektiver Gefühlsausdruck anspringt, sondern eine Auseinandersetzung mit Form und Struktur, die keine Angst vor "oberflächlichen" Floskeln und Formeln hat. Dadurch zwingt sie zur Auseinandersetzung mit den eigenen Hörerwartungen und mit den eigenen Erwartungen an Musik - und darin sehe ich auch eine gewisse Modernität dieser auf den ersten Blick so eklektischen Musik. Verstehst du, was ich meine? Hach, das ist blöd, sowas auf den Punkt bringen zu müssen... Ich weiß genau, was ich meine, aber nicht, wie ich es sagen soll.
ich zitiere hier aus zwei Beiträgen von Cherubino, denn sie gehören zu einander.
Er schreibt hier etwas, daß weit über eine Reaktion und Meinung über ein Werk geht. Er gibt hier – indirekt – einen Grund, warum Menschen, die (teils) romantische Musik ablehnen, das tun. Auch wenn sie Liebhaber von "klassischer" Musik sind. Denn ihre "veränderten Hörerwartungen" sind gerade nicht verändert.
Für sie – d.h. jedenfalls für mich – steht "individuelle Gefühlsausdruck" nicht im Mittelpunkt, sondern das Ganze. Das heißt, ich erfahre die Musik, und spüre dabei gleichzeitig sowohl die Harmonie des Werkes als die Gefühle, die der Komponist darin legte.
Laß mich mal ein Beispiel geben: Bachs Matthäus Passion. Es gibt so viel stellen in dieser Passion, wo ich meine zu erfahren, was Bach versuchte darin zu legen. Das Staunen bei "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen"; die menschliche Gefühle von "Mache Dich mein Herze rein", das Klagen von "Kommt ihr Töchter, helft mir klagen…"; das besteigen des Ölberges, wie es in der Musik verklangt wird; die Empörung der Jünger bei der Salbung in "wozu dienet dieser Unrat"; usw.
Ein ganz anderes Werk: Mozarts KV 505. Ein Liebesduett zwischen Sopran und Klavier. Wobei das Klavier stellvertretend ist für den Mann (i.e. Mozart??). aber welch unglaublich schöne Musik.
Händels Samson. Die Arie des Vaters, wo er singt über den Verlust seines Sohnes "how willing my paternal love". Diese tieftraurige Arie, die so rührend endet mit "Whilst I have eyes he wants no light". Hör mal diese Version: "
Was will ich mit diesen Worten sagen?
Ich kehre Cherubino's worte um, denn implizit sagt er "die veränderten Hörerwartungen" sind Schuld daran, daß viele Hörer nicht mehr die " individuelle Gefühlsausdruck" der Werke von "vor-Romantikern" hören (können).
Kehre ich jetzt zu der Ursache von Cherubinos Beiträgen zurück. Er schrieb über eine Komposition von Christian Junck und bemerkte, daß "aus der einen kein subjektiver Gefühlsausdruck anspringt, sondern eine Auseinandersetzung mit Form und Struktur".
Dies nun verneine ich ausdrücklich.
Dank Wulf wußte ich 2007 von dem Existenz Christians. Ich hätte ihn völlig vergessen, wenn er nicht geschrieben hätte ein begeisterter Liebhaber von Mozart zu sein. Genau wie ich!
Dann merkte ich, daß Chris komponierte. Auch wenn es einfach Müll war, es gab darin Goldkörnchen. Nach und nach immer mehr.
Und das, obwohl er um 2007 eigentlich keine Ahnung von Musik hatte. Noch lese ich, daß er schrieb über ein Werk von Mozart in E-flat statt Es-Dur.
Etwa halbwegs 2008 meinte ich einen schweren Fehler zu spüren und schrieb ich Christian. Unsere gemeinsame liebe für Mozart vertiefte den Kontakt. Dadurch kenne ich sehr viele seiner Werke und habe ich eine stetige Progression darin gespürt. Aber nicht nur das. Nein, mehr. Ich spüre auch Gefühle darin.
Ein sehr schönes Beispiel ist m.e., daß Chris mir einmal eine Komposition schickte, und ich sofort reagierte mit "dies wäre eigentlich was für eine Kirche". Seine Reaktion war "zuerst dachte ich daran eine Messe zu schreiben".
Ich höre also nicht eine "unverschämt gute Stilkopie" der Mannheimer o.ä. "aus der einen kein subjektiver Gefühlsausdruck anspringt", sondern ein Werk, das eine eigene Seele hat.
Ich habe auch gemerkt, daß Chris tastend seinen Weg sucht nach einem eigenen Stil. Ein Stil, der viel Elemente von den Mannheimer, Klassik und früh-Romantik in sich vereint. Der aber ganz individuell ist.
Ist dies eine Reaktion auf die moderne "Eintönigkeit", das übertriebene suchen nach Extremen?
Weber schrieb seinerzeit, daß auf der Straße seine Opernmelodien gepfiffen wurden. In Italien kann man noch manchmal erleben, daß die Menge mitsingt. Hier aber gilt das nur für Popsongs.
Die klassische Musik wie sie heute komponiert wird, befindet sich – fürchte ich – heute auf einem totlaufenden Zweig der Musik. Sozusagen ist es ein Evolutionsfehler.
Bin ich ein Nachfolger Kassandras?