2000 Jahre Musik auf der Schallplatte (Parlophon 1930)
Aufgrund verschiedener Recherchen im Internet zu Historischen Aufnahmen aus dem Bereich Alter Musik stieß ich relativ schnell auf diese Sammlung von Schellackaufnahmen:
2000 Jahre Musik auf der Schallplatte
[2,000 Years of Music]
(P) 1930 Parlophon B.37 022/033 (12x 78er, 25 cm)
[Matrizen: 38169/83, 38215/9, 38234/6, 38362]
rec. Januar-März 1930 (Schlesische Straße 26, Berlin)
(C) 1962 Folkways Records FT 3700 (2 LPs)
(C) 2007 Smithsonian Folkways Recordings FT 3700 (CD-R) [64:23]
EAN: 093070370029
Aufbau: Prof. Dr. Curt Sachs
Es handelt sich um die ersten Bemühungen innerhalb der Alten Musik, Aufnahmen von Repertoire aus der Zeit des Barock, der Renaissance, des Mittelalters und des Altertums vorzustellen, was um das Jahr 1930 bei Weitem nicht selbstverständlich war. Curt Sachs (1881-1959) war Musikethnologe und Begründer der Organologie (Instrumentenkunde). Er stellte im Winter 1929/30 eine Auswahl von insgesamt 24 Stücken zusammen, die zwischen Januar und März 1930 von der Parlophon aufgezeichnet wurden. Der Inhalt:
01. Griechische Musik
a) Skolion des Seikilos
b) Sonnenhymnus des Mesomedes (mit Chor)
Prof. Dr. Hans Joachim Moser
02. Synagogale Musik
a) Kaddish am Osterfest
b) Aboda am Versöhnungstag
c) Vorlesung aus dem Buch Esther
Kantor B. Fränkel
03. Der Gregorianische Gesang
Gradualresponsorium "Misit Dominus verbum suum" aus der Messe des 2. Sonntag nach Epiphanie
Gregorianische Arbeitsgemeinschaft der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik zu Berlin
Leitung: Prof. Dr. H. Halbig
04. Frühe Mehrstimmigkeit
Wallfahrtsgesang "Congaudeant Catholici" (Santiago de Compostela, 12. Jahrhundert)
Gregorianische Arbeitsgemeinschaft der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik zu Berlin
Leitung: Prof. Dr. H. Halbig
05. Troubadours
a) Kalenda maya (Raimbaut de Vaqueiras)
b) Pois preyatz me, senhor (Bernart von Ventadorn, um 1150)
c) dasselbe in mittelhochdeutscher Nachdichtung von Graf Friedrich von Husen (gestorben vor 1196)
Prof. Dr. Hans Joachim Moser
06. Der Minnesang
a) Walter von der Vogelweide: Palästinalied
b) Rügelied gegen Rudolf von Habsburg
c) Minnelied von Fürst Wizlaw von Rügen
Prof. Dr. Hans Joachim Moser
07. Die frühen Niederländer
Guillaume Dufay (um 1450): Gloria ad modum tubae (zweistimmig, Knabenchor und zwei Trompeten)
Die Kantorei der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik, Berlin
Leitung: Pius Kalt
08. Die frühen Niederländer
Josquin des Prés (um 1500): Et incarnatus est (vierstimmig)
Die Kantorei der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik, Berlin
Leitung: Pius Kalt
09. Deutsche Chöre des 16. Jahrhunderts
Heinrich Finck (um 1500): Christ ist erstanden (fünfstimmig)
Die Kantorei der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik, Berlin
Leitung: Pius Kalt
10. Deutsche Chöre des 16. Jahrhunderts
Arnoldus de Bruck (1544): Aus tiefer Not (vierstimmig)
Die Kantorei der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik, Berlin
Leitung: Pius Kalt
11. Die Höhepunkte der kirchlichen Polyphonie im 16. Jahrhundert
Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594): Sanctus aus der "Missa Papae Marcelli"
Staats- und Domchor, Berlin
Leitung: Prof. Hugo Rüdel
12. Die Höhepunkte der kirchlichen Polyphonie im 16. Jahrhundert
Orlando di Lasso (1532-1594): Miserere aus den Bußpsalmen
Staats- und Domchor, Berlin
Leitung: Prof. Hugo Rüdel
13. Das Madrigal
Gesualdo, Fürst von Venosa (um 1560-1614): Resta di darmi noia
Der Thiel'sche Madrigalchor
Leitung: Prof. Dr. Carl Thiel
14. Das Madrigal
Hans Leo Hassler (1564-1612): Mein Lieb' will mit mir kriegen
Der Thiel'sche Madrigalchor
Leitung: Prof. Dr. Carl Thiel
15. Klaviermusik um 1600
William Byrd (1543-1623): Sellinger's round
Prof. Erwin Bodky (Cembalo)
[Das Cembalo von Andreas Ruckers, Antwerpen 1618 aus der Instrumentensammlung der Staatlichen Hochschule für Musik zu Berlin]
16. Deutsche Tänze um 1600
a) Melchior Franck (1573-1639): Pavane
b) Valentin Hausmann (1603): Tanz
Münchener Violenquintett (Härtl, Huber, Stuhlfauth, List, Schmid)
17. Italienische Musik im Frühbarock
Giovanni Gabrieli (1557-1612): Benedixisti (siebenstimmig)
Die Kantorei der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik, Berlin
Leitung: Pius Kalt
18. Claudio Monteverdi (1567-1643)
Lamento d'Arianna (Klage der Ariadne) aus der Oper "Arianna" (1608)
Maria Peschken (Alt)
Prof. Dr. Sachs (Cembalo), Paul Hermann (Violincello)
19. Die deutsche Motette
Heinrich Schütz (1585-1672): Psalm 111 aus der deutschen Messe
Staats- und Domchor, Berlin
Leitung: Prof. Hugo Rüdel
20. Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Fuge aus der Motette "Der Geist hilft unserer Schwachheit auf"
Staats- und Domchor, Berlin
Leitung: Prof. Hugo Rüdel
21. Kammermusik um 1700
Johann Sebastian Bach: 1. Satz aus der 2. Sonate für Violine und Cembalo
Martha Geismar (Violine), Prof. Erwin Bodky (Cembalo)
[Das Cembalo von Andreas Ruckers, Antwerpen 1618 aus der Instrumentensammlung der Staatlichen Hochschule für Musik zu Berlin]
22. Georg Friedrich Händel (1685-1759)
Kammertrio Nr. 3 Es-Dur (1. Satz) für Oboe, Violine, Cembalo und Violoncello
Georg Blumensaat, Martha Geismar, Prof. Erwin Bodky, Paul Hermann
[Das Bach-Cembalo der Instrumentensammlung der Staatlichen Hochschule für Musik zu Berlin]
23. Rokoko
Jean-Philippe Rameau (1683-1764): La Poule
Prof. Erwin Bodky (Cembalo)
[gespielt auf dem Steingräber-Cembalo zu Berlin]
24. Empfindsamkeit
Johann Sebastian Bach: Sarabande und Gavotte aus der 5. französischen Suite
Prof. Erwin Bodky (Klavichordsolo)
[Das zeitgenössische Klavichord aus der Instrumentensammlung der Staatlichen Hochschule für Musik zu Berlin]
[Ich muß dazusagen, daß diese Angaben so von den Etiketten der Schellacks übernommen wurden.]
Die Carl Lindström AG - zu der Parlophon gehörte - produzierte die Aufnahmen und veröffentlichte sie als Bündel mit einer ausführlichen Dokumentation innerhalb ihrer Kulturabteilung. Es waren 12 zweiseitige Schellacks mit 25 cm Durchmesser, die pro Seite die drei Minuten Laufzeit kaum überschritten. Das Besondere ist, daß dieses Set die allererste wissenschaftliche Aufarbeitung von Musik vor der Epoche der Klassik darstellt. Zwar gab es bereits damals schon einzelne Veröffentlichungen Alter Musik (Gregorianischer Gesang und Komponisten wie Palestrina, Händel oder Bach), doch weder gab es eine Dokumentation dazu, noch waren diese Schellacks Teile einer groß angelegten Aufnahmeserie wie hier. Im Grunde stellt "2000 Jahre Musik auf der Schallplatte" eine bemerkenswerte Premiere dar.
Es war der Start für ein Projekt, welches begann, die Alte Musik umfassend zu dokumentieren. Sicherlich wäre diesem Set noch was gefolgt, wenn die Machtergreifung Hitlers 1933 dem nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Sachs - jüdischer Abstammung - verlor seine Professur und verließ Deutschland. In Frankreich begründete er 1934 die Reihe L'Anthologie sonore, die es bis in die 1950er Jahre auf 169 Schellacks brachte, ehe man sie einstellte; zu dem Zeitpunkt hatte aber Sachs Frankreich wieder verlassen und lehrte nun in New York.
1930 dagegen war eine Tondokumentation Alter Musik beschränkt auf eine Fülle von einigen Hundert Schellacks bisher (dem stehen mindestens 100.000 veröffentlichte Schellacktitel insgesamt gegenüber). Eine durchgehende Systematik ist da nicht auszumachen, da jedes Label seine eigene Repertoire-Politik verfolgte. Curt Sachs brachte zum ersten Mal eine repräsentative Auswahl zu Epochen und Gattungen zusammen, die rein chronologisch gelistet ist. Er beginnt mit griechischer und jüdischer Musik des Altertums, geht ins Mittelalter über zum Gregorianischen Choral und der Mehrstimmigkeit der Renaissance und mündet in das Barockzeitalter, das immerhin ein Drittel das gesamten Umfangs der Sammlung ausmacht. Dabei stellt er Gattungen wie das Madrigal, Tänze und Instrumentalmusik vor.
Aus heutiger Sicht ist der Umfang der Sammlung ein Witz - damals dagegen war es aber die einzige kompakte Möglichkeit, sich hörend mit der Musikgeschichte in ihren Ausformungen vor 1750 auseinanderzusetzen. Notenmaterial war höchstens in Universitäten und Archiven zu finden, zum Teil in den originalen Quellen, die man erst aufarbeiten mußte, bevor man sie musizieren konnte. Bis auf einige Komponisten wie Palestrina konnte man Renaissance-Polyphonie höchstens in musikwissenschaftlichen Seminaren hören oder vielleicht in englischen College-Chören. All das war aber praktisch gar nicht auf Schellack dokumentiert, und eine regelmäßige Aufführungstradition war schon lange abgerissen.
Da Sachs speziell Organologe war, war seine Beschäftigung mit alten Instrumenten ebenso in die Umsetzung der Aufnahmen geflossen: hier hört man durchgängig Originale oder Rekonstruktionen alter Instrumente, die er aus seiner ihm unterstehenden Sammlung der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin ausgewählt hatte. Die gesanglichen Darbietungen wurden von Chören und Solisten ausgeführt, die sich dieser Musik speziell gewidmet hatten - entweder konkret für dieses Projekt oder (wie z.B. im Fall des Synagogalen Gesangs) grundsätzlich.
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Zu den Aufnahmen direkt im Anschluß.
jd