Papst Benedikt XVI. und die Musik

  • Was sicher richtig ist, ist der Umstand, daß das junge Christentum keine sakrale Musik „aus sich heraus“ neu erschaffen hat. Ganz am Anfang (sic!) wird man schon so gesungen haben, wie es üblich war, eine eigene sakrale Musiktradion gab es ja noch nicht. Ob dieser „Kern“ nach 1000 Jahren mündlicher Tradition noch irgendwie relevant, und nicht bereits auf Basis der Musiktheorie umgestaltet war, wage ich allerdings zu bezweifeln.

    Nett ausgedrückt: durch den Gregorianischen Choral war alles Vorherige obsolet geworden und ist deshalb heute gar nicht mehr sicher zu rekonstruieren... ;+)

    Alle Quellen, die wir haben (Enchiriades, St.-Riquer usw.), sind tatsächlich aus der Sichtweise derjenigen entstanden, die sich damit beschäftigt haben, denn sie lebten mit jener Musikpraxis. Es sind also Geistliche, die über die Musik schreiben, die sie täglich vortrugen, da sie Teil der Liturgie war. Da hat ein Bauer mit einer Flöte nichts zu suchen - den gab es, aber niemand schrieb dessen Musikpraxis auf.

    Ich kann bustopher nur zustimmen. Allerdings wundert mich die Aussage, daß

    man es nicht sagen kann…

    was die Forschung zum Ursprung der urchristlichen Musik als jetzigen Stand formuliert. Klar, es gibt keine belegbare Quelle, aber liegt es nicht auf der Hand, aus welchen musikalischen Traditionen heraus sich diese entwickelte? Die Idee des Rezitationstons für die Psalmen z.B. Natürlich gab es gewiß Bemühungen, in der Urkirche eine eigene musikalische Identität zu entwickeln, aber man kann das doch nur aus dem Bisherigen machen - dem, was man bis dato kannte.

    Ansonsten sehe ich auch eine Verbindung zwischen Kunstmusik und Kirche, aus der heraus sich Vieles entwickelt hat, was wir heute als Gattungen haben. Wechselbeziehungen zur "Volksmusik" fanden ganz gewiß statt - mal offener und direkter, mal begrenzter. Grundsätzlich folgten die beschriebenen Gattungen in den Musiktraktaten in der Regel der bereits erprobten Praxis.


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Allerdings wundert mich die Aussage, daß

    was die Forschung zum Ursprung der urchristlichen Musik als jetzigen Stand formuliert. Klar, es gibt keine belegbare Quelle, aber liegt es nicht auf der Hand, aus welchen musikalischen Traditionen heraus sich diese entwickelte? Die Idee des Rezitationstons für die Psalmen z.B. Natürlich gab es gewiß Bemühungen, in der Urkirche eine eigene musikalische Identität zu entwickeln, aber man kann das doch nur aus dem Bisherigen machen - dem, was man bis dato kannte.


    ich wußte, daß das kommt...! :D
    Gut: wir können vermuten und Annahmen machen - wissen können wir es zum jetzigen Zeitpunkt nicht (sofern es überhaupt noch irgendwelche nicht erfassten Quellen gibt, die uns darüber Auskunft geben können). Daß etwas auf der Hand liegt, hat aber keine wissenschaftliche Relevanz - und die Geschichte der Wissenschaft ist voll mit Irrtümern, die man als gegeben hingenommen hat, weil sie ganz offensichtlich auf der Hand lagen. Jahrhundertelang hat man Leute mit Fieber zur Ader gelassen, um die Temperatur zu senken. Hat empirisch einwandfrei funktioniert, wenn man nur genug Blut abgezapft hat, man hatte auch ein theoretisches Modell dafür, warum es funktioniert. Unter dem Strich hat man damit vermutlich mehr Menschen zu Tode gebracht, als die unbehandelte Krankheit.

    Aus dem, was man bis dato kannte ganz sicherlich. Aber müssen das die genannten vermuteten "Quellen" sein? Bei den relativ bald überwiegend griechisch geprägten, aus nichtjüdischer Tradition stammenden (Apostelkonzil...!) und im späteren Verlauf aus dem westlichen Teil des Imperiums (das sind unser Wurzeln, das andere sind die Orthodoxen) Mitgliedern des jungen Christentums?
    Ich frag' jetzt mal als advocatus diaboli, ganz ohne Wertung und Antwort (die ich auch gar nicht habe), nur zum Nachdenken: Liegt es denn tatsächlich auf der Hand? Wie wahrscheinlich ist es, daß das frühe Christentum im größeren Umfang musikalische Traditionen aus dem jüdischen Tempel-Ritus übernahm (Synagogalritus wurde erst nach 79 n.Chr. bedeutsam) von dem es sich nach den vorhandenen Quellen (Kirchenlehrer...) gerade versuchte rituell abzusetzen und zu emanzipieren, z.B. in der Nichtverwendung von Instrumenten, und auch relativ bald die meisten Mitglieder nicht aus dem Judentum kamen? Ist es wahrscheinlich, daß diese Abgrenzung nur auf Teile der Musikpraxis Anwendung fand? Wie wahrscheinlich ist es unter den musikalischen Weitergabemöglöichkeiten der Antike, daß vorderorientalische Singweisen in Rom oder gar in dessen nördlichen und westlichen Provinzen Verbreitung finden konnte, ohne nicht einer unmittelbaren Umgestaltung im Sinne lokaler Musiktraditionen zu unterliegen? (Zum Vergleich: Stell' Dir vor, Du müßtest heute auf arabische Weise singen. Wie leicht würde Dir das fallen, und was würde herauskommen, wenn Du das mündlich weiterverbreiten müßtest und Deine Schüler auch keine anderen Möglichkeiten hätten?) Wie wahrscheinlich ist das vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß zu Beginn des 8. Jhs. im Frankenreich (vermutlich im gesamten Patriarchat Rom, das de facto im wesentlichen aus dem Frankenreich bestand) eine Unzahl lokaler Liturgietraditionen vorhanden waren, die in einem zwei Generationen andauerndem Großprojekt unter Pippin III. und Karl sowie den jeweiligen Päpsten vereinheitlicht wurden unter Auslöschung aller bisherigen lokalen Traditionen? Ist anzunehmen, daß dieser Zustand 500 oder 600 Jahre früher weniger disparat war? Und liefert nicht gerade dieses Vereinheitlichungsprojekt einen Beleg für die rapide Anpassung und Umwandlung "importierter" Musikstile? Die Umgestaltung war so stark, daß es den Zeitgenossen aufgefallen ist. Notker von St. Gallen schreibt in den Gesta Caroli ausgiebig darüber, wobei er natürlich auch Schuldige findet:

    Zitat

    Unermüdlich im Eifer für den Dienst Gottes [...] schmerzte ihn [Karl] sehr, daß immer noch alle Provinzen oder Bezirke und Städte in den Lobgesängen Gottes, d.h. in den Melodien des Kirchengesangs, voneinander abwichen, und er bemühte sich, aus Rom einige im Kirchengesang erfahrene Geistliche zu bekommen. Der Papst, der seine gute Absicht und seinen von Gott eingegebenen Eifer billigte, schickte entsprechend der Zahl der zwölf Apostel zwölf des Singens kundige Geistliche vom apostolischen Stuhl zu ihm nach Francien. [...] Als nun die genannten Geistlichen Rom verließen, berieten sie sich, weil ja immer alle Griechen und Römer vom Neid auf den Ruhm der Franken geplagt wurden, wie sie das Singen so verschieden gestalten könnten, dass sich nie dessen Einheitlichkeit und ein Zusammenhang im Reich und im fremden Bezirk ausbreite. Bei ihrem Eintreffen wurden sie [...] nach den bedeutendsten Orten verteilt. Jeder mühte sich nun an seinem Ort so verschieden und mißtönend sie es nur ausdenken konnten, selbst zu singen und das andern beizubringen.


    Als Ergebnis entstand dabei der gregorianische Choral. Hier liegt vermutlich auch das Motiv für die Erfindung einer tauglichen Notenschrift als unmittelbare Folge der Erfahrungen bei der Einführung des Chorals.
    Auch wenn man die These akzeptiert, daß die Quellen der frühchristlichen Musik im jüdischen Ritus und der vorderorientalischen Musik zu finden sind, muß man sich die Frage stellen, wieviel davon nach 100 oder 200 Jahren mündlicher Weitergabe in Musiktraditionen noch übrig ist, die von der oder den ursprünglichen abweichen.
    Bei der Vielzahl dieser Ungewissheiten bleibt daher unter dem Strich: Wir können es nicht wissen. Alles, was man dazu sagen will, bleibt unbefriedigender-. aber notwendigerweise unbelegbare Behauptung.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Ich frag' jetzt mal als advocatus diaboli, ganz ohne Wertung und Antwort (die ich auch gar nicht habe), nur zum Nachdenken: Liegt es denn tatsächlich auf der Hand? Wie wahrscheinlich ist es, daß das frühe Christentum im größeren Umfang musikalische Traditionen aus dem jüdischen Tempel-Ritus übernahm (Synagogalritus wurde erst nach 79 n.Chr. bedeutsam) von dem es sich nach den vorhandenen Quellen (Kirchenlehrer...) gerade versuchte rituell abzusetzen und zu emanzipieren, z.B. in der Nichtverwendung von Instrumenten, und auch relativ bald die meisten Mitglieder nicht aus dem Judentum kamen? Ist es wahrscheinlich, daß diese Abgrenzung nur auf Teile der Musikpraxis Anwendung fand?

    An diesem Szenario wäre mir nicht so einleuchtend die mindere Rolle der Synagoge vor 79 - es sollte doch eine Art "sakralen Alltag" im Judentum unabhängig vom Tempel gegeben haben, an den die Urchristen praktisch zwangsläufig anschlossen?
    Meinem bißchen Lektüre nach ist im Christentum der Anschluß an jüdische Liturgie sehr eng. Wenn man Psalmentexte und Psalmensingen übernahm, warum nicht auch die entsprechenden Melodien?

    Wie wahrscheinlich ist es unter den musikalischen Weitergabemöglöichkeiten der Antike, daß vorderorientalische Singweisen in Rom oder gar in dessen nördlichen und westlichen Provinzen Verbreitung finden konnte, ohne nicht einer unmittelbaren Umgestaltung im Sinne lokaler Musiktraditionen zu unterliegen?

    Klingt einleuchtend.

    Ich habe einen für mich etwas schleierhaften Abschnitt im Kapitel "Musik im alten Israel" von Eric Werner (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 1, S. 96) gefunden:

    Zitat

    Daß die Musik der Hebräer berühmt war, ist wohlbekannt; den Griechen und Römern war sie eher fremd [...] So ist es auch kein Wunder, wenn das Eindringen des jüdischen Psalmgesanges in die hellenistische und römische Zivilisation wie eine Art musikalischer Revolution empfunden wurde.


    Meint E. Werner hier ein "Eindringen" via Christentum? Er scheint dem jüdischen Psalmgesang jedenfalls eine hohe Resistenz zuzubilligen.

    Auch wenn man die These akzeptiert, daß die Quellen der frühchristlichen Musik im jüdischen Ritus und der vorderorientalischen Musik zu finden sind, muß man sich die Frage stellen, wieviel davon nach 100 oder 200 Jahren mündlicher Weitergabe in Musiktraditionen noch übrig ist, die von der oder den ursprünglichen abweichen.


    Sicher, aber können nicht auch gerade mündliche Traditionen einen hohe Bewahrungskraft aufweisen, zumal wenn es um sakrale Gegenstände geht?

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • An diesem Szenario wäre mir nicht so einleuchtend die mindere Rolle der Synagoge vor 79 - es sollte doch eine Art "sakralen Alltag" im Judentum unabhängig vom Tempel gegeben haben, an den die Urchristen praktisch zwangsläufig anschlossen?
    Meinem bißchen Lektüre nach ist im Christentum der Anschluß an jüdische Liturgie sehr eng. Wenn man Psalmentexte und Psalmensingen übernahm, warum nicht auch die entsprechenden Melodien?


    Natürlich gab es auch einen religiösen Alltag ausserhalb des Tempeldienstes. Vielleicht war ich da bei meiner Einschränkung etwas voreilig. Ich habe es ja auch nur als Frage nach der Wahrscheinlichkeit formuliert, mit dem Zusatz, daß ich keine Antwort darauf habe. Wenn die ganz frühen Christen (die aus dem Judentum) Psalmen gesungen haben, werden sie das sicher in der gewohnten Weise gemacht haben. Die Abgrenzung kam ja auch erst später, als klar wurde, daß sich das Christentum als eigene Religion aus einer jüdischen Sekte emanzipiert hatte. Nichtsdestoweniger bleibt die Frage nach der "Haltbarkeit" entsprechender Singweisen ausserhalb der Ursprungsregion.


    Ich habe einen für mich etwas schleierhaftenAbschnitt im Kapitel "Musik im alten Israel" von Eric Werner (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 1, S. 96) gefunden:


    Meint E. Werner hier ein "Eindringen" via Christentum? Er scheint dem jüdischen Psalmgesang jedenfalls eine hohe Resistenz zuzubilligen.


    ich vermute: ja. Auch ich finde die Stelle etwas dunkel, denn der erste Satz enthält zumindest in der Einschränkung des Zitates einen Widerspruch. Der Text ist sicher auch älter als das Handbuch, da dort bereits posthum veröffentlicht. Werner war Professor für liturgische Musik am Hebrew Union College-Jewish Institue of Religion in NY. Es wäre interessant, aufgrund welcher vergleichenden Untersuchungen er zu dem Schluß der Resistenz gelangt ist. Es gibt wohl eine eingehendere Publikation von ihm, in der er das Problem auch behandelt: Hebrew Music von 1961.


    Sicher, aber können nicht auch gerade mündliche Traditionen einen hohe Bewahrungskraft aufweisen, zumal wenn es um sakrale Gegenstände geht?


    können: ja, keine Frage. Aber damit sind wir wieder im Bereich der Vermutung.

    Wie gesagt: man könnte vergleichende Untersuchungen am Musikrepertoire anstellen. Dabei ergibt sich allerdings wieder die Schwierigkeit, daß sich ja beide Traditionen weiterentwickelt haben (der gregorianische Choral hat sich trotz schriftlicher Fixierung über die Jahrhunderte verändert!) und sich die eine auch noch fast zwei Jahrtausende in der Diaspora innerhalb anderer Musikkulturen befunden hat, Aber hier kenne ich mich definitiv nicht mehr aus. Ich weiß nicht, ob das schon mal jemand unternommen hat. Wenn ich mir hebräischen Psalmengesang auf youtube anhöre, dann klingt das für mich schon irgendwie anders als benediktischer Offiziengesang auf die gleichen Texte. Aber vielleicht täuscht das.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Oh, man darf in der Musikwissenschaft nicht mehr vorsichtig formulierte Vermutungen anstellen? Das ist traurig... :P

    Natürlich lehnt man sich weit aus dem Fenster, wenn man über die Ursprünge des Urchristentums Vermutungen anstellt. Ich hatte es ja auch gleich eingeschränkt. Und da ich mich nicht als Musikwissenschaftler betrachte, darf ich solche Vermutungen auch mal anstellen dürfen... 8+)

    Sicherlich werden lokale Traditionen die grundsätzliche (jüdische/orientalische) Basis sofort überdeckt haben, als sich die Urgemeinden in der 2./3. Generation befanden. Aber einige Elemente wurden garantiert neu integriert, weil sie in der lokalen Tradition nicht vorhanden waren.

    Naja, gut - es ist Spekulation, ganz klar. Aber solch ein Szenario könnte aber denkbar sein, darauf will ich hinaus.

    Wenn ich mir hebräischen Psalmengesang auf youtube anhöre, dann klingt das für mich schon irgendwie anders als benediktischer Offiziengesang auf die gleichen Texte.

    Natürlich, denn der benediktische Offiziengesang ist nun mal Gregorianischer Gesang - d.h. es ist bereits reformiert.

    PS:
    Kann man die Dieskussion auslagern/kopieren? ich Hatte doch mal einen hübschen Thread dafür angelegt. Oder in dem zum Choral .


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

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