Der Wert des Werturteils
In einem anderen Thread aufgegabelt:
Ja, siehe z.B. Carl Dahlhaus in der von Putto genannten Schrift "Analyse und Werturteil" (1970). Das Werturteil basiert dabei auf einem Sachurteil (statt allein auf einem angeblich rein subjektiven Gefühls- oder Geschmacksurteil). Dahlhaus' These ist nicht unumstritten, vor allem Tibor Kneif trat Dahlhaus mit der Behauptung entgegen, Werturteile seien nicht widerlegbar und deshalb nicht wahrheitsfähig. Zwischen diesen Extrempositionen gibt es allerlei.... Der Begriff "Werturteil" ist also üblich, sein Inhalt aber umstritten.
Die erste angeführte Veröffentlichung Kneifs in der Literaturliste bei wikipedia trägt den Titel:
"Die geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen des musikalischen Kitsches." In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 37, 1963In diesem Titel kommt prima facie ein Werturteil vor, um den Gegenstand der Untersuchung abzugrenzen... bzw. wenn man die Einordnung als Kitsch "Meinung" nennt, aber für interessant und gewichtig genug hält, um eine Abgrenzung vorzunehmen, die einen publikationswürdigen Aufsatz lohnt, ist es eigentlich auch zweitrangig, wie man es nennt. (Da ich den Text nicht kenne, mag das eine Fehleinschätzung sein.)
Viele Menschen haben anscheinend eine Abneigung gegenüber Werturteilen, weil die sich nicht einfach in eine simple Dichotomie wie meßbare/im Prinzip problemlos überprüfbare Tatsachenbehauptungen einerseits und "bloße, subjektive, tendenziell unbegründbare Meinung" andererseits einordnen lassen.
Zum einen sind jedoch subjektive Meinungen nicht immer unbegründbar, selbst wenn das vielen, gerade in der Musik, sehr schwer fällt. Bloß reicht die Begründung vielleicht nicht so weit, dass ein unstrittiges, intersubjektives Ende der Begründungskette (also eine gemeinsame Grundlage) gefunden werden kann, sondern auch das zur Begründung angeführte subjektiv bleibt. Dennoch ist eine subjektive Begründungen normalerweise schon ein Fortschreiten zu allgemeineren Bewertungsgründen/Kriterien und es ist erstmal nicht klar, warum man dabei stehen bleiben muss.Zum zweiten scheint mir, dass sich sehr viele zu schnell auf "subjektive/persönliche Meinung" zurückziehen, obwohl sie eigentlich ein stärkeres "Werturteil" im Sinne haben, weil sie kein Mess- oder eindeutiges Entscheidungsverfahren angeben können und meinen, nur in solchen Fällen sei etwas objektiv bzw. sei alles, bei dem das nicht geht, unbegründbar und subjektiv.
Schließlich erkennen wir m.E. auf vielen anderen Gebieten "Werturteile" an. Meines Wissens gibt es z.B. Regale voll juristischer Kommentarliteratur. Das sind offensichtlich keine (Berichte von) Tatsachen, es sind auch keine Gesetze und Urteile. Wenn das "Meinungen" sind, dann offensichtlich welche von (hoffentlich) ganz anderem Gewicht als z.B. meine Meinung der Art "Ich finde es ungerecht, dass der Vorstand von VW/BER/$beliebige andere windige Gesellschaft noch frei rumläuft", obwohl das auch eine subjektive Meinung über einen juristischen Tatbestand ist.
Oder andere Gutachten und Expertisen. Das sind normalerweise keine reinen Tatsachenberichte, sondern Bewertungen von Tatsachen nach bestimmten Kriterien. Oft sind diese zwar stärker formalisiert als üblicherweise in Kunst und Musik. Aber ist das nicht im Grunde eine sehr ähnliche Urteilsweise?
Liebe Capricciosi,
mich interessiert das Thema "Werturteil" auch sehr, nicht ausschließlich in der Musik, sondern generell in der ästhetischen Bewertung von jeder Art von Kunst. In den Altertumswissenschaften war man ja Ende 19./Anfang 20. Jh. mit Werturteilen auch sehr schnell bei der Hand; es gibt ganze wissenschaftliche Monographien aus dieser Zeit, die eigentlich aus nichts anderem als einer Abfolge von (hauptsächlich negativen) Werturteilen bestehen, und man gewinnt als heutiger Leser gleichermaßen den Eindruck, dass es die Autoren freut, mit möglichst boshaften Werturteilen um sich zu werfen, und dass diese Werke uns heute nichts mehr zu sagen vermögen - es sind Werturteile aus und für eine ganz andere Gesellschaft, großteils heute vollkommen irrelevantes Geschwätz. Gepaart mit der Autorität der werturteilenden Forscher (wie z.B. Mommsen, Wilamowitz, Schwartz, Norden) haben diese meist falschen Urteile trotzdem einen großen (zu großen) Einfluss auf die Altertumswissenschaften im 20. Jh. gehabt und hängen uns leider manchmal noch bis heute nach.
Mit diesem Hintergrund bin ich zunächst einmal sehr skeptisch, was Werturteile betrifft. Wahrscheinlich hatten die Gelehrten damals schon Kriterien, nach denen sie ihr Urteil fällten, aber sie machen sie nur teilweise öffentlich - oder verstanden sich manche Kriterien damals sowieso von selbst? Andere Kriterien brauchen selbst wieder weitere Kriterien, um nicht völlig im Subjektiven zu enden, wie z.B. der Stil. Die Begründungen wirken auf den heutigen Leser oft hanebüchen, und die Schlüsse, zu denen die Gelehrten mit ihren Werturteilen gekommen sind, in der Regel absurd bis lächerlich, aber keineswegs nachvollziehbar. Oft drängt sich der Gedanke auf, dass die großen Gelehrten der Vergangenheit einfach nicht kapiert haben, worum es in einem Text ging, und deshalb flott mit ihrer Urteilskeule drübergegangen sind. Aber da hätten sie wohl besser geschwiegen, als das eigene Unverständnis so für die Nachwelt festzuhalten.
Drum mal ein erstes, etwas aus der Hüfte geschossenes Thesenbündel: Werturteile haben keinen Wert für die Beurteilung eines bestimmten Kunstwerkes. Sie sagen nichts über das Kunstwerk aus, sondern über die Rezeptionshaltung des Rezipienten (was das bloße Geschmacksurteil nicht tut). Aus historischer Perspektive können Werturteile interessant sein, weil man daraus auf die Rezeption eines Kunstwerkes in einer bestimmten Zeit oder von einer bestimmten Person schließen kann. Werturteile veralten schnell, weil sie stark abhängig sind von der Gesellschaft und den ästhetischen Kriterien der Gesellschaft, in der sie geäußert werden.
Liebe Grüße,
Areios